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Yadgar, am 3.1. 2006 um 23:21:06 Uhr
70er

Natürlich ist es dumm und oberflächlich, von einer Swingerparty zur nächsten zu flippen und dabei zu Rumms-rumms-Glamrock (Marc Bolan, Gary Glitter & Komplizen) sogenannte »freie« »Liebe« zu testen. Natürlich war Mainstream-Popkultur auch damals kein Ausbund an intellektuellem Tiefgang (ich habe vor einiger Zeit eine Platte von Grand Funk Railroad geschenkt bekommen schätzungsweise von 1973, der ganze Stil kommt schon etwas prollig daher)... aber aus rückblickenden Darstellungen der 70er Jahre meine ich zu entnehmen, dass anders als heute in der Populärkultur damals nicht nicht diese massive Aggressivität (hinter der sich natürlich die blanke Angst verbirgt) der Unterschicht prägend war - es gab einfach noch keinen Gangsta-Rap, kein zuhälterhaftes levantinisches Macho-Gegockel mit aufgebrezelten BMWs, keine Glorifizierung des organisiert-kriminellen Milieus (natürlich gab es auch damals schon Mafia in Deutschland, es war aber noch lange nicht auch für Klein-Murat aus Nippes schick, mit der Pumpgun auf der Hutablage durch die Stadt zu röhren).

Und dann war das Lebensgefühl dem heutigen diametral entgegengesetzt - endlich raus aus dem bleiernen Mief der Wirtschaftswunderjahre, endlich kein § 175 (jedenfalls nicht mehr in der Nazifassung) und Kuppeleiparagraph mehr, endlich Schluss mit den unseligen Traditionen deutschen Duckmäusertums, Aufbruch zu neuen Ufern, die Welt war weit und offen, alles schien möglich... während heute gar nichts mehr möglich erscheint, alles ist gelähmt vor lauter Terror-Islamismus-Globalisierungs-Arbeitslosigkeits-HartzIV-Klimakatastrophen-Hysterie, der Alltag eine endlose seelenzerschreddernde Stressmühle, man ist nur noch Hamster im Laufrad einer immer weiter beschleunigenden Megamaschine, aus der es kein Entrinnen mehr gibt, anders als in den 70ern, als viele (mir liegen keine Statistiken vor, aber mehr als bloß ein paar Dutzend müssen es schon gewesen sein, allein Afghanistan wurde damals jährlich von über 100000 Ausländern bereist, von denen mindestens die Hälfte keine pakistanischen Geschäftsleute oder Paschtunen aus den »Tribal Areas« auf Verwandtenbesuch, sondern Touristen im weitesten Sinne waren) in die Ferne (oder auch die abgelegen-provinzielle Nähe, Stichwort Landkommunen) aufbrachen, um ein ganz anderes Leben auszuprobieren - während es heutzutage schlichtweg kein »Draußen« mehr gibt, in das man aussteigen könnte, die turbokapitalistische Einheitszivilisation reicht in die entlegendsten Winkel der Welt, was sich schon daran zeigt, dass es buchstäblich keinen Fleck auf diesem Planeten mehr gibt, der nicht durch die Berichterstattung internationaler Medienkonzerne abgedeckt wird - selbst auf Tristan da Cunha oder im nordsibirischen Putorana-Gebirge sind inzwischen schon Reporterteams von GEO oder dem National Geographic Magazine gewesen! Es gibt schlichtweg keine wirkliche, unberührte Ferne mehr, nicht einmal mehr die Vorstellung einer solchen - ich habe es heute wieder gespürt, als ich mir heute beim Einkaufen im örtlichen »Rewe«-Supermarkt mal einen aktuellen ADAC-Reiseführer über Indien zu Gemüte führte. Nicht mehr lange, und Fernweh läßt sich nur noch literarisch befriedigen, keineswegs jedoch real (von Astronomie und (unbemannter) Raumfahrt mal abgesehen)...


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