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ich muß los schrieb am 10.4. 2003 um 22:01:19 Uhr über

Groschenromane

dorst putzt sich vor dem spiegel die zähne. er fährt sich mit gewachsten fäden in die zwischenräume, kratzt das weiße von der zunge und bleckt das gebiß zur kontrolle. dann fährt er in die stadt. die straßenbahn füllt sich mit gerüchen, und im gang verkeilen sich buggys. jemand legt den sportteil seiner zeitung auf dorsts knie. von hinten zupft ein kleinkind. die bahn bremst ab, alle nicken mit den köpfen. dorst sieht trübe einen kiosk, einen kirchplatz, eine fachbuchhandlung. er beißt sich in die knöchel.
dorst fährt oft mit der straßenbahn. manchmal kauft er sich ein tagesticket für alle busse und bahnen in der stadt. er packt seine thermoskanne mit zitronentee und zwei eingewickelte schinkenbrötchen in seine tasche und fährt alle linien ab. das dauert vom frühen morgen bis zum späten abend. er sitzt nahe bei der tür, die hände gefaltet auf der rückenlehne vor ihm, und hört der elektronischen stimme zu, die nach jedem blechernen gongschlag nüchtern die haltestellen verkündet.
an der haltestelle stadtmitte steigt er aus. dort steht ein mann mit einer krücke, der um jede hand die griffe von zwei prallen einkaufstüten geschlungen hat. das plastik schneidet in sein handgelenk. weil die taschen so schwer sind, kann er die krücke nicht heben. er blickt sich um. entschuldigung, sagt er zu einem dünnen mädchen. es dreht sich weg und zündet sich eine zigarette an. seine nasenflügel weiten sich, und einen moment lang steht er da und saugt die luft ein. was haben sie denn in all den tüten, fragt dorst. der mann zuckt zusammen und dreht sich zu dorst um. dorst sieht, daß sein linkes auge flüssig wie eiweiß ist und keine pupille hat. h-milch, sagt der mann. ein liter eins zehn. ich guck immer alle prospekte durch. das macht viel aus. ja, sagt dorst. der mann blickt sich wieder um. soll ich ihnen was tragen, fragt dorst. das dünne mädchen klemmt sich haarsträhnen hinter die ohren und bläst rauch auf den fahrplan am wartehäuschen. nein, sagt der mann, es muß schon so gehen. seine hände sind blutleer. das wäre ja noch schöner. er bewegt sich nicht von der stelle.
dorst geht durch die innenstadt, an zwei straßenmusikanten vorbei, die wild die köpfe schwenken und mit den füßen stampfen. der junge biegt sich um seine gitarre, das mädchen hat eine gelbe geige unterm kinn. ihre haare sind zu kleinen, festen rollen gedreht, die sich wie schwänze in die luft sträuben. sie wippen im takt. dorst wippt auch. oft setzt er sich beim gehen selbst einen takt und pfeift leise dazu. im takt der geigentöne und des schepprigen gitarrenschlags bewegt er sich durch die fußgängerzone.

elner liebte das sitzen. sie konnte es stundenlang, verlagerte nur gelegentlich den schwerpunkt, indem sie die beine unter den leib zog oder die füße hochlegte. sie hatte um das sofa und die sessel alles nötige so angeordnet, daß sie nur die hand danach auszustrecken brauchte. nicht daß sie träge war; wenn sie dinge erledigen wollte oder wandern ging oder kochte oder durch die stadt eilte, war sie behende und hatte einen beherzten schritt. sagte dorst. du hast so einen beherzten schritt, sagte er zu ihr, wenn sie nebeneinander liefen. da sie ihre zehen beim laufen nicht einrollte wie er, konnte sie mit der ganzen fußsohle auftreten und sich mit den zehenspitzen abstoßen.
aber wenn sie saß, dann saß sie, unverrückbar und behaglich. dorst mußte irgendwann los und versuchte sie aufzuscheuchen. du missionierst wieder, sagte sie. im namen der beweglichkeit. besser als im namen von sonstwem, sagte er. komm doch mal zur ruhe, sagte sie, du brauchst einen ruhenden pol. ich muß los, sagte er nur.

du hast ameisen im hintern, hatte seine mutter immer gesagt. ganz schlimm ist das. mädchen sind da ganz anders. die widmen sich einer sache ganz und gar. sie konnte nicht wissen, daß er stundenlang in der tiefgarage stand und sang. oder wie geduldig er den anderen aus seinem versteck beim fußballplatz zusehen konnte. nur wenn seine mutter sagte, jetzt machen wir beide es uns mal richtig gemütlich, dann hielt er es nicht lange neben ihr aus. er versuchte es, setzte sich so dicht neben sie, wie sie wollte, und ließ sie ihre nase in sein haar stecken. aber nach einer zeit wollte er zu gregor oder seine runde drehen. du willst doch immer, daß ich zu gregor gehe, sagte er in die stille hinein. dann ließ sie sofort ihren arm sinken, den sie um seine schultern gelegt hatte, und sagte, na los. sie sagte es munter, aber dorst bemerkte das zittern in ihrer stimme.




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