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® schrieb am 2.10. 2010 um 03:22:09 Uhr über

Protest

Die zersplitterte Arbeitermacht
GEWERKSCHAFTEN In Europa protestieren Hunderttausende gegen harte Einschnitte in den Sozialstaat. In Deutschland tut sich wenig. Die Interessen der einzelnen Gewerkschaften sind zu unterschiedlich
VON MARTIN KAUL

Hartmut Riemann ist der Mann, der für diese Spaltung steht. In seinem mokkafarbenen VW Passat fährt der Gewerkschaftssekretär der IG Metall in diesen Tagen viel durch die Republik der Kämpfenden. Am Dienstag war er im Sauerland, bei den »Heuschrecken«, wie er sagt, da ging es um Entlassungen. Und Mittwochabend saß er am Verhandlungstisch in Düsseldorf. Der Stahlabschluss und 6 Prozent mehr Lohn, das ist sein Kampf. »Wenn es um Hartz IV geht, dann können wir nicht mobilisieren«, sagt Hartmut Riemann. Und er sagt es verzweifelt.

In Europa protestierten gestern Hunderttausende von Menschen. In Spanien riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik. In Brüssel versammelten sich bis zu 100.000 Menschen, um gegen die Arbeitsmarktreformen der europäischen Regierungen zu demonstrieren.

Und in Deutschland? Kopfpauschale, Rentendebatte und Hartz IV - all das erregt seit Monaten die öffentlichen Debatten hierzulande. Glaubt man einem wichtigen Genossen von Hartmut Riemann, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Michael Sommer, dann folgt auf die Regierungspläne von Angela Merkel ein »heißer Herbst«. Er könnte sich irren.

Es waren nicht die Gewerkschaften, sondern das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das mit symbolischen Bankbesetzungen, mit Infoständen und Straßentheater beim europaweiten Aktionstag gestern ein kleines Zeichen in Deutschland setzen konnte. In 75 Städten gingen die Globalisierungsgegner auf die Straße. Gewerkschaftliche Großdemonstrationen und Massenmobilisierung - das ist in Deutschland hingegen auch weiterhin nicht geplant. Und das ist durchaus eine Strategie.

»Wir haben eine klare Verabredung. Die Gewerkschaften machen ihre Aktionen vor allem auf Betriebsebene«, heißt es beim DGB. Michael Sommers heißer Herbst findet in Plochingen, Salzgitter, in Kempten und Nerchau, in Eisenach und in Kamp-Lintfort statt. Dort, wo Gewerkschafter ihre Infostände vor den Werkstoren aufbauen. In »aktiven Mittagspausen« reden sie über das, was sie bewegt. Es ist ein heißer Herbst für die Lokalnachrichten, doch in der Hauptstadt ist er keine Meldung wert.

Denn um den dramatisch schwindenden Mitgliederzahlen zu begegnen - in den letzten zehn Jahren verloren die DGB-Gewerkschaften fast 20 Prozent ihrer Mitglieder -, führen die Gewerkschaften vor allem die Kämpfe, die ihre Mitglieder überhaupt noch interessieren. Hartmut Riemann kämpft für die Löhne bei den Stahlarbeitern, Ver.di um die kommunalen Finanzen, und die IG BCE schickt Bergleute auf die Straße, weil denen die Subventionen ausgehen.

Und während die ganze Republik über die minimalen Hartz-IV-Erhöhungen und eine Existenz in Würde streitet, warten die Arbeitslosen weiterhin vergeblich auf mehr als rhetorische Solidaritätsbekundungen aus Reihen der Gewerkschaften: »Es ist nicht nachvollziehbar, dass der DGB sich in der Praxis kaum um die soziale Frage kümmert«, sagt Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosenforums in Deutschland. »Michael Sommer wettert zwar gegen die Hartz-Änderungen, das ist aber auch schon alles

Rückendeckung bekommt Behrsing auch von Bernd Riexinger. Er ist Geschäftsführer des Ver.di-Bezirks Stuttgart und sieht, was gerade vor seiner Haustüre los ist. Zehntausende demonstrieren dort wöchentlich gegen einen Hauptbahnhof. Aber aus Protest gegen Hartz IV findet kaum jemand auf die Straße. »Es fehlt an einer Parole, hinter der sich alle versammeln können«, sagt er. »Das müsste der DGB leistenDoch das Klein-Klein der Gewerkschaftskämpfe, die fehlende gemeinsame Linie - das nennen die Arbeitnehmervertreter tatsächlich noch ein »dezentrales Aktionskonzept«.

Manfred Klöpper ist Mitglied im Exekutivkomitee des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Der DGB-Regionsvorsitzende aus Oldenburg kennt die internationale Perspektive, er hat die gestrige Brüssel-Demo mitorganisiert, er weiß, was los ist. Der Gewerkschafter sagt: »Das getrennte Marschieren in Deutschland ist eine gewollte SchwächeDie Forderungen der Gewerkschaften »erscheinen in der Öffentlichkeit so verschieden wie der Bestand in einem Warenhauskatalog.«

Davon kann Hartmut Riemann in seinem Mokka-Passat ein Lied singen. Er ist unterwegs zum Stahltarifvertrag. Der 50-jährige Gewerkschafter würde gerne mehr für die soziale Frage kämpfen und nicht nur für den Lohn in seiner Branche. »Aber es nützt nichts«, sagt er. »Wir können derzeit nur in der Tarifpolitik Macht ausübenGleich will Hartmut Riemann sechs Prozent für seine Leute rausholen. Das ist sein kleiner Beitrag für den heißen Herbst.

Meinung + Diskussion SEITE 12
Über minimale Hartz-Erhöhungen wird gestritten. Arbeitslose aber warten weiterhin auf Solidarität






Sozialproteste in Europa
Gegen die Sparpakete der europäischen Regierungen und Kürzungen bei Löhnen und Rente gingen am Mittwoch Menschen in verschiedenen europäischen Städten auf die Straße.

In Spanien ließen beim Generalstreik rund 10 Millionen Menschen ihre Arbeit ruhen. Der öffentliche Verkehr wurde massiv beeinträchtigt, Fabriken wurden geschlossen.

In Brüssel gingen bei der zentralen Demonstration des Europäischen Gewerkschaftsbundes nach Angaben der Veranstalter bis zu 100.000 Menschen auf die Straße.

In Deutschland veranstaltete das globalisierungskritische Netzwerk Attac in rund 75 deutschen Städten verschiedene Aktionen. In Berlin besetzten einige Aktivisten zeitweilig eine Filiale der Deutschen Bank und forderten die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.



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