Tagewiedieser

Und wie jedes Jahr war die Verwandtschaft da: Oma pupste, da bei ihr die rektalen Muskeln nicht mehr die fittesten sind, mein Cousin erzählte vom Studium, Sydney und ...? Ja. Wunderbar. Meine Tante sammelte jeden Schrott, sogar die Serviette konnte doch noch einmal benutzt werden. Die neu angeheiratete Frau meines Onkels war angezogen wie eine Nutte und ich bin nun stolze Besitzerin einer neuen, für das menschliche Auge schädlichen Lederhandtasche, in welche eine Schulklasse oder mein übergewichtig-schnaufender Onkel passen würde. Zum Glück sind nun 365 Tage Ruhe.

6:30 klingelt der Wecker. Ich wache auf. Im Halbschlaf denke ich: Es war doch zu spät gestern. Und: Besser heute nicht zu spät kommen, wegen der Lehrerin, die Atomkraftwerke sicher findet.

Eine halbe Stunde später wache ich ein zweites Mal auf. Shit, denke ich, warum habe ich meine kreativen Schübe immer abends, wenn die Anderen schon schlafen? Frühstück und Zähneputzen will ich mir aber nicht nehmen lassen.

So kommt es, dass ich die Bahn verpasse. Die nächste kommt zu spät. Vielleicht sollte ich einfach zuhause bleiben. Andererseits: Das hier ist schließlich mein ABI und da möchte ich etwas Motivation zeigen, nur für die Lehrerin. Die Anschlussbahn kommt garnicht, ich muss einen anderen Weg wählen.

8:25 Wenigstens bin ich nicht so spät wie das letzte Mal. Als ich in den Raum komme, sieht mich die Lehrerin nicht mal an, macht nur das Kreuzchen in der Klassenliste weg. Wenn sie so drauf ist, brauche ich ihr auch nicht meine Entschuldigung vorzutragen, denke ich.

Da ich noch müde bin, lege ich meinen Kopf beim Vortrag auf. Es ist eins von diesen Themen, die es nur abzuschreiben und dann zuhause auswendigzulernen gilt.

Später am Tag habe ich die gleiche Lehrerin nochmal. Ich bin nicht mehr so K.O., sondern total aufgekratzt. Ich rede dazwischen. Ich albere rum. Ich lache. Eigentlich wie jedes Mal. Brav stillsitzen und mitarbeiten kann ich neben meinem Banknachbarn nicht.

Die Lehrerin meint, sie hätte jetzt weitere Maßnahmen ergriffen und meinen Tutor informiert. Und überhaupt, warum ich ihr nie eine Entschuldigung nenne! Ich erkläre ihr, dass ich trotz Wecker wieder eingeschlafen bin. „Du bist alt genug!“ Sie ist bestimmt beleidigt, weil ich trotz ihrer Drohungen wieder eingeschlafen bin heute morgen, denke ich. „Es ändert nichts, ob ich ihnen sage, warum ich zu spät komme, sie tragen es ja trotzdem ein“, argumentiere ich. Ihr Argument: Doch. Möglicherweise würde sie netter sein, wenn ich ihr irgendeine Geschichte erzählt hätte, warum ich zu spät komme. Leider kann ich nicht schauspielern. Und lügen erst recht nicht. (Ich Weichei.)


Okay, ich gebe zu, dass ich oft zu spät komme. Aber selten verpasse ich etwas „Wichtiges“. Und wenn ich alt genug bin, pünktlich zu kommen, bin ich dann nicht auch alt genug zu entscheiden, ob ich lieber ein paar Minuten im Bett oder bei der Begrüßungszeremonie der Lehrerin verbringen möchte?
Aber nein, ich vergaß: Es geht hier ja ums Prinzip.

Eine Frau aus der Buchhaltung rief mich entsetzt an, in ihrem Excel sei irgend etwas verstellt, alles würde blinken und sich selbständig machen. Ich machte dem Spuk ein Ende, indem ich beherzt den Aktenordner von der Leertaste ihrer Tastatur nahm.
Dann Aufregung: Bei Microsoft anrufen. Ob die Lizenzen wirklich alle noch gültig sind? Was, wenn die uns jetzt eine Prüfung ins Haus schicken?
Auf der Kfz-Zulassungsstelle dann harte Handarbeit: Das Nummernschild mit der Nummernschildplakettenentfernmaschine bearbeitet.