Hier ein Beispiel für die Gründlichkeit deutscher Forschungskultur:
"Die ersten Menschenversuche, die Ärzte mit Häftlingen aus Konzentrationslagern durchführen, dienen militärischen Zwecken. Nach einem Fortbildungskurs des Luftwaffenkommandos VII in München, bei dem das Risiko von Piloten bei ungenügender oder versagender Sauerstoffzufuhr in großen Höhen diskutiert wird, wendet sich Sigmund Rascher, Stabsarzt der Luftwaffe, direkt an Himmler. Er hat zum Reichsführer SS persönliche Beziehungen. In seinem Schreiben vom 15. 04. 1941 bittet der ehrgeizige Arzt nach ersten Selbstversuchen um die Genehmigung, Experimente an zwei oder drei Berufsverbrechern durchführen zu dürfen, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können.
Himmler ist angetan von diesem Vorschlag. Die in einer Unterdruckkammer im Konzentrationslager Dachau durchgeführten Versuche werden von Rascher sorgfältig dokumentiert.
Mehrfach schickt er Zwischenberichte an Himmler, in denen er betont, für Wissenschaft und Luftfahrt würden sich vollkommen neue Resultate ergeben. Schließlich seien Versuche über die Lebensdauer eines Menschen oberhalb der normalen Atemgrenze noch nie angestellt worden, da mit Sicherheit feststand, dass die Versuchspersonen den Tod erleiden müssen.
Das Protokoll eines dieser Sinkversuche aus fünfzehn Kilometer Höhe verdeutlicht die Torturen, denen Raschers menschliche Versuchskaninchen ausgesetzt sind. Simuliert wird die Rettung aus großer Höhe in einer Druckluftkammer, in der die Versuchsperson wie an einem Fallschirm hängt:
Nach möglichst raschem Aufstieg mit Sauerstoff-Bläser-Gerät wurde bei Erreichen von 15 km Höhe die Maske abgesetzt und der Abstieg begonnen, heißt es einleitend.
Danach sind tabellarisch die Reaktionen während des Abstiegs und die Erholungsphase auf der Erde festgehalten.
Reaktionen während des Abstiegs:
15 km: Lässt Maske fallen, schwere Höhenkrankheit, klonische (schüttelnde Krämpfe).
14,5 km/30 Sek.: Opisthotonus (Starrkrampf im Bereich der Rückenmuskulatur)
14,3 km/45 Sek.: Arme steif nach vorne gestreckt, Pfötchen Stellung, Beine steif gespreizt
13,7 km/1 Min. 20 Sek.: Hängt in Opisthotonus
13,2 km/1 Min. 50 Sek.: Agonale Krampfatmung
12,2 km/3 Min. : Dyspnoe (gestörte Atmung), hängt schlaff.
7,2 km/10 Min. : Unkoordiniertes Strampeln mit den Extremitäten.
6 km/12 Min.: Klonische Krämpfe, Stöhnen
5,5 km/13 Min.: Schreit laut.
2,9 km/18 Min.: Schreit immer noch, krampft Arme und Beine, Kopf sinkt nach vorne.
2,1 km/20-24,5 Min.: Schreit anfallweise, grimassiert, beißt sich auf die Zunge.
0 Meter: Nicht ansprechbar, macht den Eindruck eines völlig Geistesgestörten.
Reaktionen nach erreichen der Bodennähe:
5 Minuten: Reagiert erstmals auf Anruf.
7 Minuten : Versucht auf Kommando aufzustehen, sagt stereotyp: »Nein, bitte.«
9 Minuten: Steht auf Befehl auf, starke Ataxie (gestörte Koordination der Muskelbewegungen), antwortet auf alle Fragen: »Moment mal«. Versucht krampfhaft, sich an sein Geburtsdatum zu erinnern.
10 Minuten: Typische Haltungs- und Bewegungs-Stereotypie, Katatonie (Form der Schizophrenie mit Krampfzuständen und Wahnideen), murmelt Zahlen vor sich hin.
11 Minuten: Hält Kopf krampfhaft nach rechts gedreht, versucht immer wieder, auf die erste Frage nach seinem Geburtstag zu antworten.
12 Minuten: Fragen der Versuchsperson: »Darf ich aufschneiden? (Im Zivilberuf Feinkosthändler) Darf ich schnaufen? Ja. Atmet tief, sagt dann: So, danke schön.«
15 Minuten: Auf Befehl zu gehen, tritt er am Fleck und sagt: »So, danke schön.«
17 Minuten: Gibt Namen an, sei 1928 geboren (geb. 1908) Versuchsleiter: Wo? Etwa 1928. Beruf? 28-1928.
18 Minuten: »Darf ich schnaufen? Bin damit zufrieden.«
25 Minuten Immer noch die Frage: Schnaufen?
28 Minuten Sieht nichts, rennt gegen offenen sonnenbeschienenen Fensterflügel, sodass sich eine große Beule an der Stirn bildet, sagt: »Entschuldigen Sie bitte.« Keine Schmerzäußerung.
30 Minuten: Weiß Namen und Geburtsort. Auf die Frage nach dem heutigen Datum 1. 11. 28 . Zittern der Beine. Stupor hält an, ist durch den Knall eines Schusses nicht zu erschrecken. Dunkle Gegenstände werden noch nicht wahrgenommen, weiß seinen Beruf, örtlich desorientiert.
37 Minuten: Reagiert auf Schmerzreize.
40 Minuten: Beginnt Unterschiede zu sehen. Gerät immer in seine Rede-Stereotypien.
50 Minuten: Örtlich orientiert.
75 Minuten: Immer noch zeitlich desorientiert, retrograde Amnesie (rückläufiger Gedächtnisschwund) über 3 Tage.
24 Stunden: Normalzustand wieder erreicht, nur an den Versuch besteht keine Erinnerung."
Quellen:
»Ärzte im Dritten Reich« von Robert Jay Lifton
»Die Ärzte der Nazis« von Hans-Henning Scharsach
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