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SPIEGEL ONLINE schrieb am 13.3. 2019 um 17:14:59 Uhr über

Seidenspinner

Nachmittags an seinem Sterbetag hat Tom, dieser 40-jährige Junge mit den Lucky-Luke-Beinen, noch mal seine Kinderschrift gebraucht und auf einen Zettel geschrieben, was sein Leben taugt, die Polizei wird den Zettel später finden und von einem Bilanzselbstmord reden: Links auf dem Zettel stehen die Wünsche, nämlich »Eva, Respekt, Sinn, Ruhe«, rechts steht der Zustand, das Erreichte – »Nichts, da kommt nix mehr«. Er bekritzelt außerdem einen Zettel mit der Phrase »Wenn Du das liest, bin ich nicht mehr da«, an Eva gerichtet, er zerreißt den Zettel, wirft die Schnipsel in den Papierkorb und überlegt dann, in welchem Raum es passieren soll, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer und die Küche würden sich genauso eignen, aber er wählt das Badezimmer, dort hat er zum ersten Mal mit Eva geschlafen, er wollte nur auf die Toilette gehen, aber Eva ist hinterhergekommen und hat ihn sich genommen, so hat er's immer voller Stolz gesehen und erzählt. Er hat nachmittags das Buch »Stiller Schrecken« zu Ende gelesen, das einzige Buch, das er in seinem Leben zu Ende gelesen hat: James Ellroy hat's geschrieben, einer seiner seiner frühen Romane, es handelt von einem Mann, der als Kind und Jugendlicher an seinen Verwandten leidet und später sein Leben mit Sinn füllt, indem er durch Amerika reist und Menschen mit einer Axt zerhackt. Auf die Frage, was ihm denn ausgerechnet an diesem Buch so gefalle, antwortete Tom, ohne nachzudenken: »Es war das Absurde, das Grauen, das LächerlicheDiesen Roman hat er begonnen während der vier Tage in dem Irrenhaus, wie er sagte, es war die offene Psychiatrie eines Krankenhauses, da lagen Männer, die wackelten ständig mit dem Kopf, sabberten und rotzten, befummelten sich unter der Bettdecke und greinten. Hier gehöre ich nicht her, sagte er zu sich selbst und zu Mutter, sie nickte, aber Eva hatte von ihm verlangt, dass er sich einweisen und behandeln lässt, dann wollte sie noch mal »über unsere Beziehung reden und vielleicht an ihr arbeiten«, sagte Eva zu Tom. Zwei Wochen vor seinem Sterbetag hatte Tom in Mutters Küche gesessen und geweint, Muttertag, es gab Spargel und Schinken wie immer, wenn Mutter an diesem Tag für ihre beiden Jungs kochte, Tom hatte die Nacht durchgetrunken (Wodka) und nicht geschlafen, sein Leben war zu Ende, so sah er die Situation, seine Schicksalsfrau hatte mit ihm »Schluss gemacht«, sagte er im Teenagerjargon. Sein Gesicht ähnelte bei den Worten der Fratze von Gwynplaine, dem Helden aus Victor Hugos Roman »Der lachende Mann«: Ein Meisterchirurg hat Gwynplaine zur Strafe entstellt und ihm ein Grinsen ins Gesicht geschnitten, von den Ohren bis zu den Mundwinkeln, der Anblick entsetzt, erschüttert oder belustigt die Leute, das Grinsen umrahmt Augen, in denen Angst und Hass, Zorn und Abscheu sitzen.


Uwe Kopf: »Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe« (2017)


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