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Milli schrieb am 10.10. 2003 um 20:20:10 Uhr über

Geräusch

Dieses Geräusch. Dieses gemeine Geräusch. Nicht, dass es in den Ohren weh getan hätte, dieses Geräusch. Nein, mehr im Kleinhirn. Ganz hinten im Kleinhirn, da wo die Erfahrungen längst vergangener Generationen, im Laufe von Jahrmillionen zu Urängsten geronnen, darauf lauern, erinnert zu werden, um, endlich, nach all der Zeit, all dem vergleichsweise harmlosen Werden und Vergehen so vieler unserer Vorfahren, all den mit Müh’, Not, Geschick und nicht wenig Glück überstandenen Gefahren, heraufzukriechen, langsam, schleichend, auf den Nervenbahnen eine Gänsehaut zurücklassend, auf verheilt geglaubten Stellen, üble Erinnerungen heraufbeschwörend, Erinnerungen, die nicht die eigenen sind, Erinnerungen an anderer Leute Erfahrungen, finale Erfahrungen.

Diese Erinnerungen, in unfassbarem Schrecken erworben und nach mühsam überstandener Agonie noch mühsamer verdrängt, durch Verdrängung, Überwindung und Vergessen, süßes Vergessen, verwässert und verdünnt und doch im Laufe der Zeit eingedickt, eingekocht über Äonen hinweg auf der kleinen stetig brennenden Flamme des Grauens, des verdrängten, überwundenen, vergessenen, oh süßes Vergessen, Grauens, eines Grauens, das, verdrängt, überwunden, vergessen, oh ewig süßes Vergessen, in unsäglicher Angst vor sich selbst und in nimmerermüdender Fürsorge für uns, sich zurückzog, sich zu verstecken suchte, weg hier, weit weg, weit zurück, soweit wie nur irgend möglich, raus aus dem Bewusstsein, raus aus dem Kurzzeit-, Langzeit-, jeder Art von Gedächtnis, verzweifelt zu entkommen versuchte, und doch gefangen im Kopf des Arglosen, in seinem Schädel, in seinem Hirn, ja in seinem Sein selbst, sich verkroch in der hintersten Ecke dieses Seins, in den unzugänglichsten Falten dieses Hirns, kaum noch dem Schädel angehörend, fast schon Teil der Wirbelsäule, sich verkroch, sich versteckte, sich kleinmachte, zitternd, bebend, leise wimmernd, in ewiger Verzweiflung nach einem noch dunkleren Winkel suchend, niemals, aber auch wirklich niemals entdeckt zu werden, auf ewig verborgen zu bleiben, die Erinnerungen in Gewahrsam, den Arglosen zu schützen vor dem, dessen er sich nicht erinnern darf, diese Erinnerungen sind jetzt da.

Hier und jetzt. Gekrochen sind sie gekommen, das Grauen mit sich bringend, oder sind sie, widerstrebend, sich mit Händen und Füßen wehrend, vom Grauen selbst mit Urgewalt hervorgezerrt worden aus seiner finstern Zuflucht, in der sie sich in seinem, des Grauens, Schutz sicher gewähnt hatten? Belanglos. Denn sie sind da.

Hervorgezerrt sind sie worden, heulend, zähneklappernd, mit Nägeln und Klauen vergeblich sich festklammernd, an jeder Hirnzelle, an jedem Nervenstrang, an jedem Gedanken, auf ihrem Weg ins Hier und Jetzt, Narben hinterlassend, Infektion und Verderben säend mit jeder Berührung, auf ihrem unheilvollen Weg nach vorne, nach oben, ins Licht, ins Bewusstsein. Und jetzt sind sie da.

Aufgestiegen vom Boden des Bodenlosen, wo ungenutzte Instinkte und andere Atavismen vor sich hin rotten, aus den tiefsten Abgründen der gemeinschaftlichen Hölle einer ganzen Spezies, so tief, dass die Götterdämmerung selbst irgendwo anders stattgefunden haben muss (wir hätten sonst nie von ihr erfahren), sind sie endlich da. Aber sowas von da.

Erinnerungen, die einen seelischen Würgereiz verursachen, der nicht einmal mehr seinesgleichen sucht, jedenfalls nicht freiwillig. Im Schlepptau dieser Erinnerungen Urängste, die ebenfalls lieber da geblieben wären, wo sie waren, obwohl es dort auch nicht gerade besonders sonnig war. Auf welchen Erfahrungen diese Ängste basieren, welcher Horror sie einst auslöste in längst vergessenen Zeitaltern, welche uns heute, da wir nichts mehr von ihnen wissen, so präapokalyptisch vorkommen, wissen wir ebenfalls nicht mehr. Und wenn wir es wüssten, wünschten wir, wir wüssten es nicht. Und jetzt kommen sie uns gerade hoch. Und sie gehören nicht zu den Gerichten, die rückwärts besser schmecken. Jetzt wissen wir es wieder. Denn wir haben es gehört, dieses Geräusch. Dieses gemeine Geräusch.

Dieses Geräusch einer Flasche, die geöffnet wird. Nicht etwa irgendeiner Flasche. Einer Bierflasche. An und für sich ein schönes Geräusch, jedoch handelt es sich nicht um irgendeine Bierflasche, sondern um die letzte. Die letzte Bierflasche. Und noch einmal für alle, die es immer noch nicht wahrhaben wollen: „Die letzte Bierflasche“. Traurig. Traurig, aber doch nicht dermaßen tragisch, wird der mitleidige Leser jetzt vielleicht denken: Da lehnt man sich eben zurück, genießt sein kühles Bierchen, und macht sich irgendwann zwischen den letzten beiden Schlucken Gedanken darüber, wie es jetzt wohl weitergehen soll. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Denn dieses Geräusch, dieses gemeine Geräusch, entstand eben nicht dort, wo sich unsere Hände befinden. Nicht dort, wo es uns mit Vorfreude erfüllen, nicht dort, wo es, kraft seines Anblicks und Duftes Genuss verheißend, uns durch seine Nähe sofortigen Zugriff versprechen, uns lüstern zuhauchen kann: „Ich bin Dein“. Nein. Weit weg ist dieses Geräusch, es kommt aus der Ecke, in der der Kühlschrank steht, und, um das ganze Ausmaß des Schreckens voll zu machen, wird es gefolgt von den Worten: „Das Bier ist alle, wer holt neues?“.


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