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® schrieb am 30.9. 2010 um 03:17:44 Uhr über

Schauspielhaus

Hamburger Schauspielhaus
Wenn Mama säuft und Papa haut
Volker LöschsHänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg“ trifft die Theateröffentlichkeit mit dem Thema Kinderarmut ins Mark. Gezeigt wird, dass neben einer bürgerlich abgesicherten Kinderwelt in Hamburg auch eine trübe Parallelwelt existiert. Sie ist verlassen von elterlicher und staatlicher Fürsorge und Bildung.


Zweitklassige TV-Show statt Wald: Hänsel und Gretel im Unterschicht-Stadtteil.
Foto: dpa Zweitklassige TV-Show statt Wald: Hänsel und Gretel im Unterschicht-Stadtteil.
Foto: dpa
In Hamburg herrschen merkwürdige Verhältnisse. Da bringen vermögende Bürger ohne weiteres mehr als 800.000 Euro auf, um acht prominente Gastspiele aus selbstverständlich subventionierten Theatern zum Hamburger Theaterfestival auf die Staatsbühnen einzuladen. Gleichzeitig zwingt jedoch die schwarz-grüne Regierung mit einem Sparbeschluss das Schauspielhaus, die größte deutsche Sprechbühne, ihren künstlerischen Etat um die Hälfte zu kürzen.

Vollstrecker ist der christdemokratische Kultursenator, ein kühler Technokrat, der Subventionen vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig machen will. Anders als seine Vorgänger scheint Reinhard Stuth frei von Verantwortungsgefühl für die ihm anvertrauten Institutionen zu sein, er hat sich vor dem Senatsbeschluss noch nicht einmal mit ihren Betriebszahlen beschäftigt. Seitdem das vergangene Woche ruchbar wurde, vergeht in Hamburg keine Theaterpremiere ohne Kampfansage der Kulturschaffenden, Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen von allen Seiten.

Diese aufgewühlte Theateröffentlichkeit trifft Volker Lösch mit seinem Abend über Kinderarmut ins Mark: „Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg“. Da hört und sieht man, dass neben der bürgerlich abgesicherten Kinderwelt Hamburgs eine trübe Parallelwelt existiert, die verlassen ist von elterlicher und staatlicher Fürsorge, Bildung, Kulturangeboten. Die Kinder aus dieser Welt am Stadtrand, aus einer Gesamtschule in Mümmelmannsberg, stehen plötzlich unmittelbar vor den Zuschauern, getaucht in Scheinwerferlicht, vor einer Wand aus Billigmöbeln (von Cary Gayler).

Viele Migrantenkinder sind unter ihnen, sie rufen im Chor, was man ihnen ansehen kann: dass sie viele Geschwister haben, dass sie zu Hause meist alleine sind, alleine essen, dass sie nie in Urlaub fahren, dass ihre Eltern keine Arbeit haben, dass ihre Eltern auch am Wochenende arbeiten müssen, dass sie nach der Schule im Fernsehen gucken, was eben läuft, dass sie Angst vor den 15-Jährigen draußen auf der Straße haben, dass sie ihren Stadtteil lieben, dass Papa Mama nur haut, wenn sie besoffen ist, dass Mama stinkt, sie aber nicht zu Papa wollen.

Schrecken der armen Kindheit

Lösch und seine Dramaturgin Beate Seidel haben viele Interviews geführt, um die Schrecken einer solchen Kindheit in ein modernes Märchen zu fassen. Mit rund 40 Laien arbeitet Lösch. Auch Eltern-Darsteller, alle in gleicher Billigkleidung (Kostüme von Carola Reuther), die ihre finanzielle Not gemeinsam herausschreien, sind dabei. Sie haben hier als Hartz-IV-Chor für Lösch schon vor zwei Jahren gestanden und mit dem Verlesen einer Liste der reichen Hamburger einen kleinen Theaterskandal ausgelöst.

Hänsel und Gretel werden als ganze Schulklasse in den Wald geschickt. Dort erwartet sie eine zweitklassige TV-Show, die ihnen mit absurden SlogansWettbewerb macht Spaßdie Verwirklichung ihrer Träume (zum Beispiel Stuntman von Beruf) beim Shoppen verspricht. Im ringsum illuminierten Hexenhaus säuselt Marion Breckwoldt in der Diktion des 19. JahrhundertsEin göttlich Wesen ist das Kind“. Während sich die Bühne dreht und immer neue erfolgreiche Bildungsbürgerfamilien aus den anderen Stadtteilen vorführt, stopft sie die Kinder im Innern des Hauses mit Fast Food voll, „Ich mach euch platt!“

Schließlich beschenkt sie als Künstlerin für eine wohltätige Stiftung den kleinen Murat mit einem Flamenco-Kurs und einem Praktikum in einer Zoohandlung.

Wie immer bei Volker Lösch ist der Abend in seiner politischen Eindeutigkeit plakativ bis zum Umfallen. Was ihn aber dann doch zu einem besonderen macht, ist die ungeheure Authentizität der beteiligten Kinder und die unmittelbare Auswirkung von Kultur auf gesellschaftliche Verhältnisse. Die Kinder in die Stadt zu holen, um sie auf einer Bühne von sich erzählen zu lassen und dabei ihre brennende Energie zu spüren, das ist mehr, als sich in Geld umrechnen lässt. Ein Lehrbeispiel für das, was das Schauspielhaus vermag.

Als sich Volker Lösch nach seiner Premiere in die Proteste gegen den Sparbeschluss einreiht und dem nicht anwesenden Kultursenator rät, endlich in den Dialog zu treten, schreit einer: „Wir geben auch Interviews!“

Schauspielhaus Hamburg: 5., 11., 17., 30. Oktober. www.schauspielhaus.de



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