quälgeist

Quälgeist war kein Name, den man gern hörte. Doch in der Nacht, als die Stadt unter einer Decke aus Regen und Neon glitt, klopfte die Vergangenheit leise an die Tür von Kommissarin Lina Hartmann.

Es begann mit einem fallenden Tapsen auf dem Fliesenboden des Antiquariatensembles am Rand der Altstadt. Ein Dieb? Ein Messer? Nein, etwas anderes: ein Briefumschlag ohne Absender, der in der Ablage neben einer zerlesenen Ausgabe eines klassischen Kriminalromans lag. Darin ein einziges, unscheinbares Wort: Diazepam.

Lina hob den Umschlag an, ließ das Knistern des Pergaments hören, als wäre es eine Nachricht aus einer anderen Zeit. Auf dem Papier klebten Tropfen von etwas, das wie Schmieröl roch – oder war es nur der Geruch von nasser Zeitung, die zu lange in einer Kältebox lag? Sie riss den Umschlag auf. Darin eine einzige Zeile: »Der Quälgeist streicht mit dem Rasiermesser über die Fakten. Finde ihn, bevor die Stadt selbst zu Zittern beginnt.«

Quälgeist. Ein Alias, von dem in der Polizei nur flüchtig gesprochen wurde: ein Mensch, der Angst und Paranoia wie eine Waffe benutzt, der seine Opfer mit psychologischer Manipulation in den Wahnsinn treibt. Jemand, der glaubt, dass die Wahrheit nur dann laut spricht, wenn man ihr den Atem raubt. Jemand, der sich hinter dem Vorhang der Geheimnisse versteckt und gerne mit dem Namen der Angst spielt.

Der erste konkrete Hinweis führte Lina in ein altes Sanatorium am Stadtrand, dessen Korridore längst von der Zeit gezeichnet waren. Die Wände in einem trüben Pastell, das Licht flackerte wie ein störrischer Puls. In einer der Zimmer fanden sie die Ablage einer Vernichtungsakte, auf der ein einziges Foto klebte: eine junge Frau, deren Augen zu verwechseln schienen – mal überrascht, mal kalt. Unter dem Foto stand in feinen, fast zögerlichen Buchstaben: Diazepam. Ein Hinweis, der mehr über den Täter verriet als über das Opfer.

Die Münzsammler der Gedächtnisschlange, wie die Presse die kriminalhistorischen Quecksilberfahnder nannte, hatten über die Jahre eine Reihe seltsamer Ereignisse katalogisiert: verschwundene Medikamente aus Apotheken, menschenleere Notaufnahmen, Stimmen, die aus Radios zu flüstern schienen, als ob jemand die Frequenzen des Lebens neu eingestellt hätte. Jedes Verbrechen war ein Rätsel, jeder Hinweis ein Zitat aus einem Romanskript, das längst vergessen schien.

Lina sammelte Beweise wie seltene Münzen, jeder Fund eine neue Spur. In der Nähe des Sanatoriums entdeckte sie eine Idee, die ihr früher nie gekommen war: Der Täter arbeitete mit Timing. Er nutzte die Umwelten der Nacht, die Geräusche der Stille, die Stimmen in den Telefonen, die niemand hören sollte. Und er spielte mit den Ängsten seiner Opfer, ließ sie zucktäuschen, ließ sie ein wenig mehr wie Schatten wirken, bis sie schließlich in ein falsches Licht liefen.

In einer weiteren Nacht, als der Regen wie eine Flut von Glasplättchen auf die Straßen fiel, traf Lina auf den Mann, der in der Stadt als Quälgeist gefürchtet wurde. Er war ein schmaler Mann mit einem Blick, der zu scharf war, als könnte er Dinge sehen, die nicht da waren. Er trug einen Mantel, der zu lang war und doch perfekt passte, als wäre er aus einer anderen Geschichte ausgeschnitten. Er versprach ihr süß, wie ein Versprechen, das zu gut klingt, um wahr zu sein: „Ich erkläre dir alles. Aber du musst mir zuerst etwas geben: deinen Zweifel.“

Der Verdacht führte Lina in eine Bar am Flussufer, einen Ort, an dem Geschichten auf Eis serviert wurden. Dort hingen Porträts von längst vergangenen Nachtgestalten, und die Karte war eine Liste von Namen, die wie Schatten über der Stadt verschwanden. Zwischen den Gläsern lag ein kleines, rotes Espresso-Glas mit einem Tropfen, der ihr sagte, dass jemand hier lange genug sitzt, um die Zeit zu schmecken.