Lutz Herden
Leichenfeld Irak
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IM NAMEN DER OPFERWer jetzt zur Tagesordnung
übergeht, kapituliert vor dem nächsten Krieg
Eine Woche nach Beginn der Aggression gegen den Irak, als
sich das Tempo des Vormarschs von Amerikanern und Briten
zeitweise zu verlangsamen schien, warnte Wolfgang Schäuble -
er war in seiner Zeit als CDU-Vorsitzender stets auch potenzieller
Anwärter auf das Amt des Regierungschefs in Deutschland - vor
den Folgen »einer demütigenden Niederlage der Alliierten«.
Diese - so Schäuble - könne »noch schlimmer« sein als der
Krieg selbst.
Unterstellt, diese »Niederlage« hätte infolge zu hoher Verluste in
einem Abzug der Invasionsverbände bestanden und damit das
Sterben auf Schlachtfeldern, an Checkpoints, unter zerbombten
Häusern und in überfüllten Hospitälern beendet - für den
federführenden Außenpolitiker der großen christlichen
Volkspartei wäre eine solche Wende »noch schlimmer«
gewesen als der Krieg, sprich: die Fortsetzung des Sterbens.
Ein Symptom dafür, wie gründlich und prompt die vergangenen
Wochen Maßstäbe bloßgelegt haben, die denen von
Herrenmenschen auffallend nahe kommen? Schäubles Botschaft:
Wir und nur wir sind berufen, über Leben und Tod notfalls ganzer
Völker zu entscheiden, wenn es im Namen unserer
Werteordnung, unseres Bündnissystems, unserer
abendländischen Gesittung, unseres Wohlstandsidylls geboten
erscheint. Da schwingt neben der Angst um fragwürdige
Besitzstände eine Menschenverachtung mit, von der die
politische Kultur des Westens seit 1989 immer häufiger befallen
ist. Sie wird von der Überzeugung beherrscht, das Gefühl einer
zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt
dürfe auch zum - gegebenenfalls militärisch durchgesetzten -
Diktat werden, das sich für die Demütigung und Zerstörung der
Unterlegenen nicht zu schade ist.
Wie schmal dabei der Grat zwischen Anmaßung und Barbarei
sein kann, haben Amerikaner und Briten seit dem 20. März im
Irak mit einer solch archaischen Wucht vorgeführt, das es kaum
noch verwundern konnte, wenn diese Tötungsmaschine fast
täglich auch die eigenen Leute überrollte. Die zuverlässigsten
Wegweiser nach Bagdad sind dieser Tage die Leichenfelder an
seiner Peripherie. Dreitausend irakische Soldaten, die am
Wochenende in nur 24 Stunden getötet wurden, empfehlen sich
als Unterbau einer neuen Gesellschaftspyramide, deren Credo
lautet: Durchsiebt ihre Körper und nennt das Ganze Befreiung
und Demokratisierung. Und vergesst nicht, es gibt Schlimmeres
als Kriege, die so geführt werden.
Bestürzend ist, wie viel in Deutschland bereits öffentlich über die
irakische Nachkriegordnung und den eigenen Part dabei
nachgedacht wird und wie wenig über den Umgang mit dem
Kolossalverbrechen dieses Feldzuges, der mit der geballten
Entladung militärischen Vernichtungswahns und imperialen
Hochmuts seinesgleichen sucht. Sollte es noch irgendeinen Sinn
haben, im Namen von Recht und Gerechtigkeit einen
Internationalen Strafgerichtshof aufrechtzuerhalten, dann nur, falls
dort die Kriegsverbrechen der Bush, Blair und anderer
wenigstens in Form von Klageschriften dokumentiert werden,
auch wenn es nie einen Prozess gibt.
Die rot-grüne Regierung in Berlin hat sich weder dazu
durchringen können, den Überfall auf einen souveränen Staat als
Aggression zu bezeichnen, noch als Bruch des Völkerrechts zu
verurteilen. Auch der inzwischen zweifelsfrei nachgewiesene
Einsatz der international geächteten Streubomben trifft auf das
stoische Schweigen derer, die ansonsten um ihrer
gesinnungsethischen Tugend und ihres zivilisatorischen
Anspruchs willen humanitären Interventionen - man denke an den
Krieg gegen Jugoslawien 1999 - viel abgewinnen können.
Warum hat es keine humanitäre Intervention des Kanzlers oder
seines Außenministers gegen den Abwurf von Cluster-Bomben
über irakischen Wohnvierteln gegeben? Menschenrechte und
Moral wären mit ihnen gewesen. Blieb ein solche Intervention
aus, weil das für die Beziehungen zu den USA und den Zustand
der NATO »noch schlimmer« gewesen wäre als der Krieg
selbst? Wie pervers muss Logik heutzutage eigentlich noch sein,
um als politisch qualifiziert zu gelten? Und was überhaupt sind
diese Bündnisse künftig wert, wenn es sich um Allianzen mit
Kriegsverbrechern handelt? Als am 20. März die ersten Raketen
auf Bagdad flogen, war die Zeit reif, alle logistischen Hilfsdienste
für die Amerikaner sofort einzustellen. Hier nicht im Sinne der
Verfassung gehandelt zu haben, darin liegt die Mitverantwortung
der Berliner Regierung für den Krieg und seine Opfer. Wer meint,
eine solches Urteil verlasse das Feld des politisch Realistischen,
der sagt auch, dass Realpolitik derzeit ohne Inhumanität nicht
mehr auskommt.
Insofern erscheint es so zynisch wie pervers, über Nacht, quasi
arbeitsteilig, die Schlachtfelder im Irak zum Sanierungsfall der
Vereinten Nationen und die Nachkriegsordnung zum Exerzierfeld
eines US-Besatzungsregimes zu erklären. Wenn die UNO
mehrheitlich das diplomatische Geleit des amerikanischen
Krieges verweigert hat, sollte sie dann jetzt für die humanitäre
Begleitung des amerikanischen Sieges zur Verfügung stehen?
Eine Nachhut, von der die Eroberer nach Belieben nehmen, was
sie entlastet, und der sie verweigern, was als unzulässiger
Eingriff in ihre Entscheidungsgewalt gilt? Müssen nicht die
Vereinten Nationen in dieser Lage den Grad an
Selbstverleugnung genau abwägen, wenn sie ihre
Selbstdemontage, ihre Degradierung zum Not-, Hilfs- und
Wachdienst einer Neuen Weltordnung aufhalten wollen? Es
bezeugt die vom Irak-Krieg ausgelöste Katastrophe in den
Köpfen, dass es absurd anmutet, angesichts der Millionen von
Hilfsbedürftigen diese Fragen überhaupt stellen zu müssen, und
dass es ebenso absurd wäre, darauf zu verzichten. Aber einfach
zur Tagesordnung übergehen zu wollen, liefe auf nichts anderes
hinaus als die Kapitulation vor dem nächsten Krieg.
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