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voice recorder schrieb am 22.1. 2003 um 18:01:41 Uhr über

Publikum

- an dieser Stelle gab es lautstarke Proteste aus dem Publikum. Doch bevor die Zuschauer die Vorstellung unterbrechen konnten, schreitet Pelayo zur zweiten Verhandlung, die Sanchos Recht als Bauer zum Ausgangspunkt nimmt: Der Adlige wird zum Tode verurteilt, weil er ein Recht beansprucht, das ihm die Bauern nicht zugestanden hatten. Durch die Heirat mit ihrem Vergewaltiger hatte Elvira ihre Ehre wiedererlangt. Als Witwe erbt sie nun auch die Hälfte seines Vermögens. Das Stück endete mit der Hochzeit Sanchos und Elviras. Da hatten alle begriffen: Solange es Ausbeuter und Ausgebeutete gibt, so lange wird es zweierlei Justiz geben. Erst wenn die Klassen abgeschafft'sind, wird Gerechtigkeit einsetzen können.
Im Anschluß an die Aufführung diskutierten die Bauern, vor denen wir gespielt hatten, mit den Schauspielern über den Inhalt des Stücks. Als die Rede auf Don Tello kam, fragte einer: »Wer, der Oberst Firminio?« Den Sancho brachten sie mit einem einfältigen, gutgläubigen Mann aus dem Dorf in Verbindung. Sie hatten verstanden, daß im Gewand einer vergangenen Epoche und in Versen versteckt ihr heutiger Gegner dargestellt wurde.
Hatten wir in Lopes Stück, vor allem im dritten Akt, tiefe Eingriffe vorgenommen, so änderten wir an Moli@res Tartuffe nicht einen einzigen Alexandriner. Den Anlaß zu dieser Aufführung bildeten die von Politikern in Säo Paulo unter der Parole »Mit Gott für Familie und Freiheit« veranstalteten Straßenkundgebungen. Um diese Heuchelei zu entlarven, spielten wir Moli@res Stück, und wir brauchten kein jota des Originals zu verändern, um Moli@res Botschaft auf brasilianische Verhältnisse zu übertragen.
Als die Diktatur die Korruption der Regierungen vor dem Staatsstreich von i964 anprangerte, spielten wir Gogols Revisor, wobei wir vor der Folie der Bestechungsaffäre die ungeheuerliche Korruption eines Regimes aufdeckten, das sich für unabhängig ausgibt, während es in Wirklichkeit immer tiefer in Abhängigkeit von amerikanischen Wirtschaftsinteressen gerät. Zu einem Zeitpunkt, da in Brasilien die Notwendigkeit der Agrarreform debattiert wurde, spielten mehrere Theater Brechts Kaukasischen Krei'dekreis, um mit Hilfe dieser Fabel deutlich zu machen, daß das Land dem gehört, der es bestellt. Wenn jahrhundertelang der Grundbesitz nicht in Frage gestellt worden ist, wenn es seit Jahrhunderten als selbstverständlich gilt, daß eine einzige Person

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Herr und Besitzer vieler Quadratkilometer Land ist, Herr und Besitzer der Leute, die dieses Land bewohnen, und wenn diese menschenverächterische Tradition zum Gottesgesetz erhoben wird, dann ist e 1 s schwer, den Bauern davon zu überzeugen, daß die Luft das Eigentum aller ist, daß Wasser und Boden allen
gehören.

Folklore

So wie die Bourgeosie bei Klassikeraufführungen diejenige Version ausfindig macht, die mit ihren Interessen übereinstimmt, so versucht sie auch, die Folklore in ihrem Sinne zu manipulieren, eine heile Welt vorzufahren, ein Volk, das »seinen Ursprüngen treu« ist und treu bleibt und das nicht schon seit alters für eine bessere Zukunft kämpfte. So sind die »Capoeira«-Abende in Bahia heute zu einer touristischen Attraktion geworden. Ursprünglich war die »Capoeira« jedoch ein Kampftanz: Angreifer und Angegriffene bewegen sich im Kreis, zu den Klängen des »berimbau«, wobei sie nach einem ausgeklügelten Schrittsystem die Balance wahren. Es war ein Kampftanz der schwarzen Sklaven, dem die weißen Herren, gegen die er gerichtet war, ahnungslos applaudierten. Diese geschichtlichen Ursprünge von Volksbräuchen, von Tänzen und Liedern gilt es aufzudecken, um das revolutionäre Bewußtsein zu stärken. Das politische Theater vor i964 verwendete viel Folklore. Man brachte Lieder und Tänze, sei es in ihrer überlieferten Gestalt, sei es mit originellen Änderungen. Ziemlich bekannt ist der Tanz »Bumba meu boi-. Dabei wird ein symbolischer Stier geschlachtet und unter die Anwesenden verteilt. Das Herz bekommt jemand, dem man Gutes wünscht, die Eingeweide ein Feind, die Hörner ein betrogener Ehemann usw. Am Ende des Tanzes wird der Stier wieder zusammengesetzt, und er erwacht zu neuem Leben. In der »Bumba«-Aufführung des Centro Popular de Cultura in Bahia war Brasilien der Stier. Seine Teile - Erz, Kaffee, Erdöl - wurden von ausländischen Konzernen an sich gerissen. Der wiederauferstandene Stier - das revolutionäre Brasilien - ging zum Gegenangriff auf den Schlächter über, der einen blaurot gestreiften Anzug und einen Zylinder mit Sternchen trug.
Sehr beliebt ist eine Mischform aus Theater, Politik und Musik,

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