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tootsie schrieb am 31.12. 2006 um 17:57:14 Uhr über

Vorlesung

Hin und wieder werden Geschichten wie die folgende verschwiegen. Ich aber will nicht zu denen gehören, die beschämt schweigen! Ich war ein Teil der Ereignisse, die ich im Folgenden schildern werde, und ich vertraue meinen seltsamen Bericht dem Blaster und der Zukunft an, wohl wissend, dass auch andere in den Wirren vor Weihnachten die Erleuchtung gefunden haben. Ich schwöre bei den Balken der Schöpfung, dass alles sich so zugetragen hat wie ich nun berichte!

Es war eine dieser seltsamen Weihnachtsvorlesungen, die sich Dozenten gelegentlich selbst zum Geschenk machen. Dagegen ist sicherlich nichts einzuwenden; Professoren sind auch nur Menschen und können den Urschleim, den sie in den Vorlesungen für das erste Semester lehren, sicher nicht mehr hören.

Ein paar Studenten waren noch da, der Rest schien bereits in die Weihnachtsferien geflüchtet. Irgendjemand ließ Würfelzucker herumgehen. Der Zucker war in Ethanol getaucht worden und stimmte weihnachtlich.

Das Licht wurde gedimmt, der Beamer justiert und ER fing an. Offenbar zirkulierte auch in seinem Blutkreislauf etwas von dem Zucker, denn sein Gesicht war leicht gerötet. Naturwissenschaftler neigen ja dazu, ihre Erkenntnisse direkt an sich selbst zu erproben. Außerdem ging es um den enzymatischen Abbau von Alkohol und seine Wirkung auf das Nervensystem - warum nicht ein paar Würfel von den Chemiestudenten borgen?

Mir wurde so sonderbar, und auch die fünfzig StudentInnen, mit denen ich im Hörsaal saß, grinsten sich aus glänzenden Augen an. Uns war plötzlich sehr warm! Wir kicherten verhalten, und auch dem Prof fiel es schwer, sich auf seinen Stoff zu konzentrieren. Irgendwo in den hinteren Reihen fing ein Mädchen an zu lachen. Dieses Lachen wirkte ansteckend. Wir glucksten, und versuchten, bei der Sache zu bleiben. Überall rote Gesichter, die mühsam versuchten, nicht in gellendes Wiehren auszubrechen. Schließlich musste auch der Prof glucksen. Er drehte sich weg, um sich ein wenig zu sortieren. Das gab den Ausschlag:

Alles brüllte los! Wir lachten, kicherten, schnappten nach Luft und lachten wieder. ER öffnete den obersten Hemdknopf, lockerte seine Kravatte und tobte mit uns. Uns standen bunte Ringe vor den Augen. Diese Ringe verschwanden NICHT. Nein, die Ringe warn sogar recht beständig. Meine Ringe sammelten sich auf der Kravatte des Professors und mischten sich mit schrägen Streifen. Goldene Vierecke und leuchtende Nebel schwebten durch den Audimax.

Der Professor war mit großen Augen zu uns gekommen und bestaunte mein Federkästchen. Er sehe darauf Fledermäuse, die sich paarten, und Fledermäuse hätten den größten Penis von allen Säugetieren - zumindest im Verhältnis zur Körpergröße. Wie interessant, meinte ich, und folgte meinen Worten, die ich in der Tat sehen konnte! Sie sahen aus wie eine Klaviertastatur und klimperten in Richtung Beamer. Ich wies den Fledermausfreund auf die Tasten hin, die rosa und dunkelgrün »für Elise« spielten.

Meine Sitznachbarin meinte, der Beamer zeige einen Pornofilm. Sie lachte und ihre Augen leuchteten dabei. Ich musste sie plötzlich küssen! Ihre Brustwarzen zeigten sich unter der Bluse. Irgendwo im Hintergrund stöhnte jemand. Ein Slip landete auf meinem Pult. Ich überschüttete meine Nachbarin mit Küssen und legte meine Hand auf den Schmerbauch des Profs. Sie lud ihn ein, sich neben sie zu setzen. Ihr Parfüm mischte sich mit seinem Rasierwasser, und ich konnte Neroli, Patchouli und verschiedene Fruchtaromen in leuchtenden Farben um die beiden pulsieren sehen. Wir lagen uns lachend und schmusend in den Armen, küssten uns, lachten und küssten uns wieder. Uns war warm, unsere Augen strahlten und wir kannten einer die Gedanken des anderen.

Irgendwann, es muss nach einer zeitlosen Ewigkeit gewesen sein, begann ich zu summen. Die Melodie war in meiner Seele aufgestiegen, und der Professor mischte seinen Bass dazu. Das Summen breitete sich aus im Hörsaal, und das Mädchen zwischen mir und dem Professor sang mit seiner überirdischen Silberstimme »gaudeamus igitur«. Andere Sängerinnen und Sänger fielen ein, und ich selbst modulierte eine zweite Stimme in der Lage das Countertenor dazu. Eine dritte und viete Stimme schlossen sich uns in verschiedenen Lagen an. Alles mischte sich zu einem wunderbaren, musikalischen Patchwork, und wenn einer den Text vergessen hatte, so konnte er sicher sein, dass sein Nachbar ihm weiterhalf.

Wir erhoben uns nahezu gleichzeitig, wir sangen und verließen, obschon tanzend und singend, so doch wunderbar geordnet den Hörsaal. Vom Campus aus zogen wir in die leipziger Innenstadt

Irgendwoher kamen neue Zuckerwürfel, und wir aßen reichlich davon. Andere Menschen gesellten sich zu uns, wir lachten und sangen; wir küssten und liebten! Wir bekamen Hunger und verwüsteten den Weihnachtsmarkt. Wir hoben den Professor auf das Dach einer Marktbude, und andächtig lauschend saßen das Mädchen aus dem Hörsaal und ich zu seinen Füßen. Er erzählte zuerst die Weihnachtsgeschichte, und alles Volk lagerte auf Decken und Möbeln aus geplünderten Geschäften. Auch erzählte er von den Balken der Schöpfung und davon, wie sie aus dem akausalen Meeren der Prim an den Strand der Existenz geschwemmt wurden. Er erzählte von der Geburt des Chaos, von den Teilchen und den Quanten und den Strings, er erzählte davon, dass alle Dinge den Balken dienen und das wir im achten Zeitalter der Schöpfung lebten, nämlich im Zeitalter der Strukturen. Eines Tages, nach zehn hoch 33 Jaren, werde es keine Protonen mehr geben, und alle Strukturen würden vergehen. Nur die Balken würden schweigend noch da sein und nach und nach in die Prim zurücksinken. Bis dahin sollten wir uns der Strukturen erfreuen und das Wunder unserer flüchtigen Existenz genießen, und bis zu unserer Verhaftung sangen wir zwischen brennenden Mülltonnen »gaudeamus igitur!«.


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