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Yadgar schrieb am 23.7. 2007 um 12:14:45 Uhr über

Paschtunen

Traditionell das staatstragende Volk in Afghanistan, in älteren Lexika gerne als »Afghanen im eigentlichen Sinne« bezeichnet. Afghanistan als unabhängiges Königreich wurde 1747 vom Führer der mächtigen paschtunischen Abdali-(seither Durrani-)Stammeskonfiguration, Ahmad Schah Abdali (Durrani) gegründet, seither waren nahezu alle Könige oder Präsidenten Afghanistans Paschtunen, dies gilt auch für den gegenwärtigen Amtsinhaber, Hamid Karzai.

Das Siedlungsgebiet der Paschtunen erstreckt sich halbmondförmig entlang der Fernhandelsstraße von Herat über Kandahar nach Kabul, wobei die Paschtunen in den Städten Herat und Kabul selbst in der Minderheit sind, als paschtunisches Kernland gilt die Region um Kandahar, von wo aus seinerzeit auch die Gründung des afghanischen Königreiches erfolgte (Kabul wurde erst 1783 Hauptstadt!). Vor der Reichsgründung verstand man unter »Afghanistan« einfach diese halbmondförmige Region entlang der südlichen Ringstraße. Im Osten dehnt sich das paschtunische Gebiet über die afghanisch-pakistanische Grenze bis zum Indus aus. Im späten 19. Jahrhundert unter Emir Abdurrahman Khan wurden Paschtunen zur Befriedung der dortigen turksprachigen Volksgruppen auch in verschiedenen Gebieten nördlich von Hindukusch und afghanischem Zentralmassiv angesiedelt, wo sie bis heute mancherorts (z. B. in Kunduz) dominieren.

Die Sprache der Paschtunen, das Paschtu, gehört der iranischen Sprachgruppe an, hat allerdings vor allem im Lautbestand viele Eigenarten der nordindischen Sprachen übernommen, z. B. retroflexes »d«, »t«, »r«, »sh«, »zh«, die mit zurückgebogener Zungenspitze gesprochen werden; für die meisten Europäer ist Paschtu daher erheblich schwieriger zu lernen als Persisch, die zweite Amtssprache Afghanistans. Ich selbst habe es auch einmal versucht, aber bald aufgegeben, wenn so schon in so einfachen Dingen wie Brot (Paschtu: dodey) gleich zwei Retroflexe vorkommen... also nee!

Andererseits sprechen und verstehen die meisten Paschtunen auch Persisch, die in ganz Afghanistan verbreitete »lingua franca«, viele Paschtunen in Kabul haben Paschtu sogar ganz zugunsten des Persischen aufgegeben, so originellerweise auch die Familie des letzten Königs, Zahir Schah.

In physischer Hinsicht dominieren unter den Paschtunen mediterrane Typen mit relativ heller Haut, zum Indus hin werden sie dunkler und ähneln mehr den Nordindern. Hinsichtlich meiner speziellen erotischen Obsession käme ich unter Paschtunen voll auf meine Kosten - würde man in eine Afghanistankarte Linien gleicher mittlerer Bartdichte und -länge der erwachsenen männlichen Bevölkerung einzeichnen, läge der »Bärtigkeitspol« eindeutig in der Gegend um Kandahar! Vor allem unter paschtunischen Nomaden (»Kuchis«) finden sich vielen Reiseberichten zufolge wahre Prachtexemplare, blauschwarz und bis unter die Augen... wow! Unter den in Köln und Umgebung lebenden Paschtunen (und ich kenne eine ganze Reihe) hat dieser Typus leider absoluten Seltenheitswert...

Nomaden machten immer schon einen beträchtlichen Anteil der paschtunischen Bevölkerung aus; die Teilung zwischen Nomaden und Sesshaften folgt dabei nicht Stammes- oder Clangrenzen, sondern zieht sich mitunter sogar durch Familien hindurch. Bei den paschtunischen Nomaden überwiegt die Haltung von Schafen; Rinder spielen aufgrund des trockenen Klimas eine untergeordnete Rolle, Kamele werden hauptsächlich als Lasttiere gehalten, sofern sie nicht bereits von LKWs verdrängt wurden. Kennzeichnend für die paschtunischen Nomaden sind ausgedehnte jahreszeitliche Weidewanderungen zwischen den sommergrünen Hochsteppen in Zentralafghanistan und den wintermilden Gebieten am Südfuß der afghanischen Gebirge oder sogar in der (heute zu Pakistan gehörenden) Indusebene. Die sesshaften Paschtunen betreiben Landwirtschaft zur Selbstversorgung, insbesondere die ausgedehnten Flussoasen an Arghandab und Hilmend sind für ihre reichhaltigen Obstkulturen (Weintrauben, Granatäpfel und andere Zitrusfrüchte) bekannt. In den Städten bevorzugen sie eher kaufmännische als handwerkliche Berufe, letztere werden von ihnen als wenig standesgemäß betrachtet und zumeist Tadschiken oder Usbeken überlassen. Heutzutage haben sich viele Nomaden in Speditionsgewerbe und Fernhandel etabliert.

Kennzeichnend für die innere Organisation der Paschtunen ist die Gliederung in Stammeskonföderationen (z. B. die bereits erwähnten Durrani), Stämme, Clans und Subclans, die sich alle jeweils auf einen namengebenden Ahnherrn zurückführen, wobei die umfangreiche paschtunische Genealogie letztlich in dem quasi-mythischen Stammvater Qais Abdurrashid Pashtun gipfelt, der zur Zeit Muhammads, also im 7. Jahrhundert nach Christi Geburt gelebt soll und als erster Paschtune den Islam angenommen haben soll. Die Vorstellung von hierarchisch gegliederten Abstammungsverhältnissen findet sich auch in den Namen der Stämme und Clans wieder, z. B. Achakzai = Sohn des Achak oder Utman Khel = Clan des Utman.

Aufgrund des verbreiteten Nomadismus wie auch der staatlichen Umsiedelungspolitik vor allem im 19. Jahrhundert bewohnen viele Paschtunenstämme heute kein zusammenhängendes Territorium; ein Beispiel sind die Achakzai, die man sowohl südlich von Kandahar, als Nomaden in der Provinz Farah als auch in Badghis und Ghor findet. Die vergangenen 30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg in Afghanistan mit ihren Flüchtlingsbewegungen taten ihr Übriges.

Bekannt wurden die Paschtunen im Westen auch durch ihr teilweise schriftlich kodifiziertes »Stammesrecht«, das Paschtunwali; wobei »Stammesrecht« eine unzureichende Übersetzung des Begriffes Paschtunwali ist, vielmehr handelt es sich um eine Sammlung sämtlicher Werte, Tugenden und Normen, die für die paschtunische Gesellschaft als verbindlich angesehen werden, mit darin eingebettenen Vorschriften zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens.

Ein zentraler Begriff im Paschtunwali ist »nang« (auch »namus« oder »ghairat«), »Ehre«, die sowohl auf das Individuum als auch auf die verschiedenen Clan- und Stammesgruppen, denen es angehört, bezogen ist. Die Ehre steht in der traditionellen paschtunischen Ethik über dem Leben und muss unter allen Umständen verteidigt werden: einen Paschtunen als »be-nang«, »ehrlos« zu beleidigen ist ein todeswürdiges Verbrechen, das nur durch Tötung des Beleidigers oder ersatzweise eines seiner Familienmitglieder gesühnt werden kann. Ebenfalls hochbrisant ist Fehlverhalten gegenüber Frauen, da diese zum inneren Kern des »namus« eines paschtunischen Mannes gezählt werden. In den meisten Fällen von Verletzungen der Paschtunwali-Normen ist aber auch die Vereinbarung einer Kompensationszahlung in Geld oder Naturalien (badal) möglich.

In dieser Schärfe wird Paschtunwali allerdings hauptsächlich von den Stämmen entlang der pakistanischen Grenze praktiziert; vielen Paschtunen im Westen und Norden Afghanistans ist der Begriff »Paschtunwali« sogar völlig unbekannt.


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