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Nachthaut schrieb am 15.1. 2003 um 16:53:01 Uhr über

Abfahrer

Die Anreise

Abiturjahrgang 1977. Vierzehn Mädchen, die teils blasiert, teils entgegenkommend in die Kamera blicken. Der Fotograf hat sie auf die Stufen postiert, die zur Turnhalle führen, eigentlich müßten es fünfzehn sein: Aber eine fehlt. Isabella Niemann hat die Schule abgebrochen. Nur ein paar Monate vor dem Abitur ist sie nach Berlin abgehauen, Susanne Karcher steht irgendwo vorn in der ersten Reihe.

Die anderen halten etwas Abstand zu ihr, oder ist das Einbildung? Susannes linker Fuß ist leicht einwärts gedreht, so daß die Zehen auf den Spann des anderen Fußes deuten wie bei einem kleinen Mädchen.Hör doch auf, Susanne! hat Isa gesagt. Wieso muß ich mich irgendwelchen Dingen stellen, bloß weil es sie gibt? Das Leben kann doch nicht sein wie einer dieser gräßlichen Kindergeburtstage, wo die Mama eine Spieleliste vorbereitet hat, und die wird jetzt abgearbeitet. Antreten zum Topfschlagen! Wer nicht will, ist ein Spielverderber. Und man steht da und will nicht topfschlagen, und man will auch keinen anderen sinnvollen Vorschlag machen, an dem alle Spaß haben, sondern man will sich ganz allein raus in den Garten schleichen und heimlich über die Mauer türmen! Isa ist getürmt. Susanne blickt in die Kamera. Ihr Mund lächelt, mit fest geschlossenen Lippen, Irmgard Bauer lächelt nicht. Sie steht ganz außen in der hintersten Reihe. Sie hat den Kragen ihrer Lederjacke hochgeschlagen, ihr Blick geht knapp am Fotografen vorbei: schräg nach nirgendwohin. Als wäre außer ihr niemand da.

Susanne Karcher sitzt übrigens im Zug. ICE Hamburg-München, Großraumwagen. Raucher, Susanne raucht. Sie muß wirklich mit der Qualmerei aufhören! Aber jetzt ist auch nicht der richtige Moment dafür. Das ist das Ekelhafte bei Angewohnheiten: Es gibt keinen richtigen Moment zum Aufhören. Solange man unvernünftig ist, erscheint einem das Vernünftige wie eine Strafe.

Das denkt Susanne, während der Zug sie immer weiter von ihrer Nordseeinsel wegbringt. Susanne ist auf dem Weg in ihre Heimatstadt, wo morgen abend ein Klassentreffen stattfinden soll. Ein Jubiläum: fünfzehn Jahre Abitur. Susanne hat eigentlich keine besondere Lust, aber sie fährt trotzdem. Warum? Susanne war viele Jahre lang nicht mehr in ihrer Heimatstadt. In dem verfluchten Nest an der Ostgrenze, wie Isabella und Irmgard zu sagen pflegten, es gibt das Nest gar nicht mehr! Die Ostgrenze gibt es nicht mehr, also kann es auch die Stadt nicht mehr geben, die von ihr definiert wurde: Aber wohin fährt Susanne dann überhaupt? Susanne sieht aus dem Fenster. Draußen rattert die Norddeutsche Tiefebene vorbei. Sprühregen, feuchtes Grün, ein paar Pferde auf einer Koppel. Ein Fahrradfahrer in einem weiten gelben Regencape, das der Wind zu einem Pilz bauscht. Zu einem gelben Pilz aus Maries Kramkiste, mit Rädern dran zum Hinterherziehen, Susanne hat Glück gehabt: Sie hat einen Einzelplatz ergattert, obwohl der Zug überfüllt ist. Es ist Ferienzeit, lauter Familien sind unterwegs. Von irgendwoher riecht es nach Leberwurst. Auch Susanne kriegt allmählich Hunger. Sie packt ihr Mittagessen aus: Bio-Vollkornbrot, Naturjoghurt mit rechtsdrehender Milchsäure, natürlich erwägt sie nicht, sich etwas von dem Wägelchen zu besorgen, mit dem sich ein älterer Mann gerade wieder durch den von Reisetaschen, Aktenmappen, Kleinkindern verstopften Mittelgang quält.

Pappbrötchen, Staubkuchen, zermalmte Tierabfälle in Darm? Susanne ist etwas heikel, was das Essen betrifft, das war sie schon immer. Oder jedenfalls seit der Geburt ihrer Tochter, und das ist so gut wie immer: Marie ist im letzten Herbst sechs geworden, und an ein Leben, in dem Susanne nicht Maries Mutter war, kann sich Susanne kaum mehr erinnern. Natürlich muß es das gegeben haben. Immerhin hat es Susanne 28 Jahre lang gegeben, bevor es Marie gab, aber das war eine andere Susanne. Eine, an die Maries Mutter nicht gerne denkt.

Susanne lehnt sich zurück. Sie überlegt, ob sie dem Mann mit dem Wägelchen nicht wenigstens einen Kaffee abkaufen sollte. Er ist so offensichtlich entschlossen, sich von seinem Job nicht unterkriegen zu lassen, Susanne neigt dazu, Leuten etwas abzukaufen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen: fliegenden Händlern, obdachlosen Zeitungsverkäufern, vorbestraften Hausierern, sie weiß, daß sie nicht viel ausrichtet mit dem Erwerb einer überteuerten Seife, eines krude geschnitzten Holzpferdchens! Sie weiß, ihre milden Gaben werden die Welt nicht retten, es ist das System, das sich ändern müßte. Susanne denkt manchmal noch in solchen Begriffen: das System. Dennoch stapeln sich in ihrem Keller Postkarten aus Behindertenwerkstätten. Fensterleder, Wurzelbürsten. An der Tür abonnierte, nie gelesene Zeitschriften.

Das ist schon in Ordnung, sagt Scribbo zu ihr. Zumindest schadest du damit keinem. Scribbo ist auch so eine Angewohnheit, die Susanne hat. Allerdings eine nützliche. Es gibt ja durchaus nützliche Angewohnheiten, Zähneputzen zum Beispiel, und Scribbo kann schreiben. Scribbo ist ein mageres und potthäßliches Ding, mit Maushaaren und schlechtgeschnittener Kleidung, aber schreiben kann Scribbo, über alles und jedes. Susanne kann nicht schreiben. Das heißt, natürlich kann sie schreiben, sie hat an der Uni sogar sehr gute Seminararbeiten und Abhandlungen geschrieben, und sie hat das Staatsexamen gemacht, aber sie kann nicht über Leute schreiben oder über etwas, was sie sich ausgedacht hat, oder über sich selber. Sie würde es furchtbar gern können! Aber sie kann noch nicht einmal über sich nachdenken: zumindest nicht in der ersten Person. Vielleicht liegt es daran, daß sie sich zu lange bemüht hat, schön zu werden. Wirklich und wahrhaftig schön, so wie Isa. Vielleicht liegt es auch an etwas anderem, jedenfalls kommt Susanne sich selbst nie unter die Oberfläche. Sie geht sich nie unter die eigene unvollkommene Haut. Dazu ist eben Scribbo da. Scribbo denkt über Susanne nach, über Susannes Leben. In der dritten Person. Susanne Karcher saß im Zug undeinen Naturjoghurt denkt Scribbo für Susanne, während draußen die Norddeutsche Tiefebene vorbeiratterte: dritte Person, und Imperfekt. Manchmal redet Scribbo Susanne auch in der zweiten Person an. Da hast du ja wieder eine Scheiße verzapft! sagt Scribbo. Verdammt, hättest du nicht besser aufpassen können? Zum Teufel noch mal, du müßtest doch langsam wissen, wie Jens reagiert, wenn du dich so aufführst!


(s.f.)



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