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chronist in schrieb am 16.7. 2015 um 02:52:25 Uhr über

Bibel


GRIECHENLAND-KRISE
Europa muss sich umstülpen
Gleichheit in allen Rechten und Pflichten, für alle Märkte und Bürger: Wir müssen uns jetzt mit der Gründung einer Europäischen Republik auseinandersetzen.

Europa hat am vergangenen Wochenende für einige Stunden in den gähnenden Abgrund geschaut. Ein Grexit konnte dann doch noch verhindert werden, freilich um den Preis von tiefen Wunden, die die nächtliche Krisensitzung und eine aggressive Verhandlungsführung gerissen haben. Bemerkenswert ist vor allem eine feine, aber deutliche Fissur in den deutsch-französischen Beziehungen, die in den kommenden Monaten eine ungeahnte Wirkungsmacht entfalten könnte - und welche die neue Achse Berlin-Helsinki kaum wird kitten können. Wenn der Gipfel in Brüssel eines gezeigt hat, dann, dass das Griechenland-Drama nicht (mehr) 18:1 verhandelt wird.

Das griechische Oxi vom 5. Juli markiert darum den Beginn einer Politisierung der Eurokrise. Es bedeutet die Rückkehr des Politischen, um Chantal Mouffe zu zitieren. Und diesem Politischen wird sich die Eurozone spätestens ab Herbst stellen müssen, denn die systemischen Probleme des Euro wurden wieder einmal nur vertagt. Tsipras hat in die Eurozone zurückgebracht, was ihr am meisten fehlt, nämlich die Demokratie. Integration war die europäische Aufgabe von gestern, heute ist Europa währungs- und wirtschaftspolitisch fast vollständig integriert. Jetzt muss es um die Einbettung einer verwaisten Euro-Währung in eine europäische Demokratie gehen, die dem Prinzip der Gewaltenteilung nach Montesquieu gerecht wird, damit »souveräne nationale Parlamente« und mithin europäische Bürger nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können. Ein Votum des deutschen Bundestags gegen die griechischen Hilfspakete; ein griechisches Referendum gegen die europäische Sparpolitik: Das ist der Diskurs, der in die Irre führt, denn wir sind alle Bürger von Euroland - und wir müssen diesen Sprechakt zur Begründung eines politischen Gemeinwesens auf dem europäischen Kontinent schleunigst leisten!

Darum muss über die weißen Elefanten, die seit Jahren unübersehbar im Raum stehen, endlich gesprochen werden. Derer gibt es mindestens drei: eine Zentralbank als »letzter Geldgeber«, ein Staatsinsolvenzrecht und eine europäische Arbeitslosenversicherung. Die Zeit, die die EZB gekauft hat, ist aufgebraucht. Aus einem nützlichen, aber kryptischen »Whatever it takes« von Mario Draghi muss jetzt ein politisches »It takes this and we will do it now« werden. Die EZB muss zum letzten Geldgeber der Eurozone werden, und der legalistische - vor allem deutsche - Diskurs über das Verbot der Monetarisierung von Staatsschulden muss beendet werden. Extension of Mandate nennen das die Amerikaner und die Briten, und diese Mandatserweiterung muss die Politik beschließen. Vor allem diejenigen, die das geflügelte Wort der »marktkonformen Demokratie« geprägt haben, sollten hier einfach einmal tun, was sich eben diese Märkte am meisten wünschen, anstatt sich in Nebenschauplätzen wie Mehrwertsteuerdiskussionen zu verzetteln.
Ist das griechische Leck geschlossen, kann die politische Arbeit beginnen: »Alle politischen Gemeinwesen sollten als Republik verfasst sein«, schrieb Immanuel Kant 1792. Zeit, dass die Europäer, vor allem die aus jenem Land, die Immanuel Kant als ihren Philosophen bezeichnen dürfen, sich dieses Satzes annehmen. Europa - mit der Eurozone als Embryo - muss zur Europäischen Republik werden: emanzipiert, souverän und basierend auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit seiner Bürger!
Die Französische Revolution von 1789 hat den Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit aller Bürger jenseits von Klassen durchgesetzt; die mentale europäische Revolution des 21. Jahrhunderts muss diesen Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger von Euroland jenseits von Nationen durchsetzen! Die sogenannte funktionalistische Methode, laut der durch immer mehr wirtschaftliche Integration irgendwann einmal die politische Union Europa entsteht, ist in der Eurokrise begraben worden. Die europäischen Nationalstaaten haben diesen Sprung verweigert.

Wenn der Rauch dieses Griechenland-Sommers verzogen ist, muss Europas Neustart, der aus dem Oxi der Griechen hervorgehen sollte, darum notwendigerweise ein politisches Redesign Europas beinhalten, eben ein republikanisches. Neben die Marktintegration muss eine europäische Demokratie gestellt werden, zu der Gleichheit der Marktteilnehmer, die im Rahmen des Binnenmarktes die gleichen Regeln genießen, muss die politische Gleichheit der europäischen Bürger addiert werden: kein Steuer- und Lohnshopping mehr für Unternehmen - Wettbewerb ist für Märkte, nicht für Bürger!
Europa muss umgestülpt werden, das ist der - friedliche - revolutionäre Akt Europas im 21. Jahrhundert: Politische Gleichheit würde bedeuten, dass die europäischen Bürger gleich sind bei europäischen Wahlen, bei den bürgerlichen Steuern und bei ihrem Zugang zu sozialen Rechten - genau das wäre eine Europäische Republik! Das kann selbstverständlich nicht über Nacht, nicht einmal in wenigen Jahren passieren. Aber es kann als politisches Ziel formuliert werden, damit das europäische Projekt wieder einen Fingerzeig in Richtung Zukunft sieht.
Die Republik ist in ganz Europa anschlussfähig
Seit Platon ist die Republik das gängige Verfassungsprinzip auf dem europäischen Kontinent - ganz im Gegensatz zum Föderalismus, der nur ein funktionales Ebenen-Prinzip ist, und obendrein in den verschiedenen Sprachräumen Europas unterschiedlich klingt. Die »Föderation von Nationalstaaten« kann darum das politische Ziel nicht (mehr) sein. Der normative Gehalt der Republik hingegen ist die res publica, die Gemeinwohlbindung. Nichts braucht Europa heute mehr. Der Republikbegriff ist in allen europäischen Sprachräumen anschlussfähig, von der Respospolita zur République. Bevor Deutschland 2006 zu Deutschland wurde, war es (auch) die Bundesrepublik.
Wer im Sommer zufällig in Zürich weilt: In der Ausstellung Europa: die Zukunft der Vergangenheit im dortigen Kunsthaus kann die Europäische Republik schon bewundert werden. Im Katalog findet sich ein Manifest, das untermalt wird mit einer Diashow der Berliner Konzept-Künstlerin Valeska Peschke. Eine Arbeit über Amikejo. Amikejo heißt Freundschaft auf Esperanto und war der Name eines kleinen Landstriches im heutigen Belgien, das sogenannte Neutral-Moriset, das bei den Friedensverhandlungen des Wiener Kongresses 1815 zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich quasi vergessen wurde. Es war die erste reale und unabhängige Europäische Republik - die durch die Nationalismen von 1914 zerstört wurde. Das ist die europäische Zukunft, die wir in der Vergangenheit wiederfinden müssen!
Es ist Zeit für ein neues, anderes Europa, für #newEurope!

VON Ulrike Guérot
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance. 2014 war sie Senior Fellow bei der Open Society Initiative for Europe und Gastforscherin für Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaft. Zuvor leitete sie von 2007 bis 2013 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Sie ist Gastautorin von 10 nach 8.
DATUM 15.07.2015 - 11:02 Uhr
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