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GPhilipp schrieb am 8.5. 2002 um 00:33:19 Uhr über

Streit

Streit, ein Leben

Gemeinsam laufen wir gegen
und mit dem Wind um die Wette

Am Tisch dann
fliegen die Fetzen

Sie wirft sie hinaus
auf die Straße, ins Nirgendwo

Flüchten in die Fantasie
nach Ostberlin

Liebe ist nur noch ein Wort
love's gone away from me

The blues has got me on the floor
please, open the door!

Keine Ahnung, wie es weitergehen könnte,
hier ist alles so bequem

Ich klebe fest
wie eine tote Fliege an der Wand

Kein Leben: lost!
Krankenhaus: Fuß amputiert

Alt und verrückt,
nichts geleistet im Leben

Kein Werk, das bleibt
keine Gnade erwartet von oben

Blieb aus,
er blieb allein

Exil, ein Radiomusikhörer,
Bibliotheksbesucher, Fern-Seher

Ein Querulant,
der es sich mit allen verdarb:

Gefangen
im sozialen Netz

Ja, sie gingen auf Tour,
ja, er hatte eine Freundin

Für Computer und Handy
ist er zu alt

Klein ist die Rente
die Wohnung ist spießig

Nie räumt er auf:
das machen nun die beiden Mädchen

Geht am Stock;
ich streiche ihm Küche und Bad,
sortiere den Müll

Neue Hemden kann er sich nicht leisten

Was für ein Leben
Prager Nihilist, Exil-Tscheche

Lebt er noch?
Stirbt er bald, ist er schon tot?

Warum besuche ich ihn nicht
im Krankenhaus?

Warum will niemand etwas von ihm
wissen?

Er weiß so viel,
kennt viele Sprachen

Und ist trotzdem
ein dummer Musiker

Jazz (Swing)
und alte Musik (nicht die Romantiker)
Sängerinnen,
kein Bach-Fan
Bennie Goodman und Artie Shaw!

Kommunisten?
Die hasst er!
Er geht nicht zurück:
da sitzen noch die Alten

Seine ältere Schwester?
Hat er über 30 Jahre nicht gesehen;
vielleicht ist sie tot,
sie interessiert ihn auch nicht

Natürlich hat er Krach
mit den Nachbarn:
»Das sind alte Nazis
und mit dem Vermieter,

Und überhaupt mit aller Welt:
mit den ehemaligen Kollegen,
mit den jungen Aussiedlern
im Reihenhochhaus

Im trostlosen Neubau,
nicht renoviert,
hört laut er Musik
und stellt sie plötzlich
sehr leise,
nimmt alles auf Cassette,
nein: was ihn interessiert

Denn schmal ist die Rente

Jedes Jahr
die Aufenthaltsgenehmigung
verlängern lassen,
persönlich anwesend
in der Kreisstadt.

Zum Orthopäden, zum Chirurgen

Korrespondenz mit den Behörden:
die schwungvolle, große Schrift
Beschwerden!

Kaufangebote flattern ins Haus:
dagegen ist er völlig
wehrlos

Einmal fährt er nach Paris
im Bus

Die Sightseeingtouren
und Disneylandbesuche
schafft er nicht,
er hört Radio

Ein alter Radiohörer:
er kann Sprachen
er versteht,
er kennt sich aus
in der Welt,
in der Geschichte

Gymnasiast, Akademiker
Mitglied im Orchester

Flog raus
und blieb im Ausland

Tourte durch die Schweiz
und durch Deutschland

Brotarbeit
im Kurorchester
(Drecksarbeit)

Andere besaufen sich,
er blieb allein
mit dem Tauchsieder im billigsten Hotel

Ich bin ein Verräter
kein Freund

Mein Vater könnte er sein
(ist er aber nicht)

Er tut Niemandem nichts,
er hasst Alle
(insbesondere die Kommunisten
und Nazis)

Die Moskauer Schauprozesse,
Stalin und Hitler:
wie er sie hasst!

Grausamkeit,
die Welt ist schlecht

Er ist nicht beteiligt,
war ohmächtig
und blieb ein Kind,
handelte unverantwortlich

An Gott glaubt er nicht,
er wundert sich nur

Schlagersängerinnen
Politiker im Bordell

Immer noch liegt er
im Krankenhaus

Am Rollstuhl gefesselt?
Ins Heim gesteckt?

Letzte Ruhe
auf dem Friedhof

Hoffentlich
verpasse ich
seine Beerdigung nicht -
klingt zynisch, ich weiß

Wo wird er
begraben?

Wer bezahlt
die Beerdigung?

Wer interessiert sich
für den Alten?

Was war der Sinn seines Lebens?
Ich beute ihn aus, literarisch

Er lenkt mich ab,
er leidet

Erleidet schon,
was mich erwartet

Alt werden in der Großfamilie?
Das war einmal, das ist nicht mehr!

Ständig bedroht
und arbeitslos

Hinaus geworfen
in eisige Einsamkeiten

Nein, es gibt keine Gemeinschaft mehr
für mich, für ihn

Ach, stürbe es sich nur leichter!
Den letzten Sprung gewagt

Den Absprung verpasst,
ungeübt und kunstlos

Ein Tod
lacht ins Gesicht dir

Gott selbst
setzt dir die Dornenkrone
aufs Haupt

Er quält
und rettet dich

Er ist
dir gnädig,
oder nicht

IST da ein Gott?
»Hallo, wo bist du denn
(Mit Gott auf du und du,
Gott, dein bester Freund!)

Vielleicht sollte ich dankbar sein
für dieses einmalige, wenn auch beschissene Leben

Es gibt Schlimmeres, ja,
Andere haben's noch schwerer!

Andere haben es
leichter

Da singt Einer,
Jemand träumt

Einer läuft
und ist fröhlich

Einer ist krank
und leidet

Dieser unterhält sich
und jener ist munter

Der ist produktiv
und eingepasst
in die Gemeinschaft,
im Leben

Ausgeschlossen
ein Anderer

Du und ich,
wir

In der Wüste
und in den Städten

Auf dem Lande,
auf hoher See

Im Weltraumschiff
und auf dem Mond

In ferner Zeit
aufgehoben

Fern
einer Wirklichkeit

Chance verpasst,
alle gehasst

Liebe die Welt,
die dich erhält



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