Streit, ein Leben
Gemeinsam laufen wir gegen
und mit dem Wind um die Wette
Am Tisch dann
fliegen die Fetzen
Sie wirft sie hinaus
auf die Straße, ins Nirgendwo
Flüchten in die Fantasie
nach Ostberlin
Liebe ist nur noch ein Wort
love's gone away from me
The blues has got me on the floor
please, open the door!
Keine Ahnung, wie es weitergehen könnte,
hier ist alles so bequem
Ich klebe fest
wie eine tote Fliege an der Wand
Kein Leben: lost!
Krankenhaus: Fuß amputiert
Alt und verrückt,
nichts geleistet im Leben
Kein Werk, das bleibt
keine Gnade erwartet von oben
Blieb aus,
er blieb allein
Exil, ein Radiomusikhörer,
Bibliotheksbesucher, Fern-Seher
Ein Querulant,
der es sich mit allen verdarb:
Gefangen
im sozialen Netz
Ja, sie gingen auf Tour,
ja, er hatte eine Freundin
Für Computer und Handy
ist er zu alt
Klein ist die Rente
die Wohnung ist spießig
Nie räumt er auf:
das machen nun die beiden Mädchen
Geht am Stock;
ich streiche ihm Küche und Bad,
sortiere den Müll
Neue Hemden kann er sich nicht leisten
Was für ein Leben
Prager Nihilist, Exil-Tscheche
Lebt er noch?
Stirbt er bald, ist er schon tot?
Warum besuche ich ihn nicht
im Krankenhaus?
Warum will niemand etwas von ihm
wissen?
Er weiß so viel,
kennt viele Sprachen
Und ist trotzdem
ein dummer Musiker
Jazz (Swing)
und alte Musik (nicht die Romantiker)
Sängerinnen,
kein Bach-Fan
Bennie Goodman und Artie Shaw!
Kommunisten?
Die hasst er!
Er geht nicht zurück:
da sitzen noch die Alten
Seine ältere Schwester?
Hat er über 30 Jahre nicht gesehen;
vielleicht ist sie tot,
sie interessiert ihn auch nicht
Natürlich hat er Krach
mit den Nachbarn:
»Das sind alte Nazis!«
und mit dem Vermieter,
Und überhaupt mit aller Welt:
mit den ehemaligen Kollegen,
mit den jungen Aussiedlern
im Reihenhochhaus
Im trostlosen Neubau,
nicht renoviert,
hört laut er Musik
und stellt sie plötzlich
sehr leise,
nimmt alles auf Cassette,
nein: was ihn interessiert
Denn schmal ist die Rente
Jedes Jahr
die Aufenthaltsgenehmigung
verlängern lassen,
persönlich anwesend
in der Kreisstadt.
Zum Orthopäden, zum Chirurgen
Korrespondenz mit den Behörden:
die schwungvolle, große Schrift
Beschwerden!
Kaufangebote flattern ins Haus:
dagegen ist er völlig
wehrlos
Einmal fährt er nach Paris
im Bus
Die Sightseeingtouren
und Disneylandbesuche
schafft er nicht,
er hört Radio
Ein alter Radiohörer:
er kann Sprachen
er versteht,
er kennt sich aus
in der Welt,
in der Geschichte
Gymnasiast, Akademiker
Mitglied im Orchester
Flog raus
und blieb im Ausland
Tourte durch die Schweiz
und durch Deutschland
Brotarbeit
im Kurorchester
(Drecksarbeit)
Andere besaufen sich,
er blieb allein
mit dem Tauchsieder im billigsten Hotel
Ich bin ein Verräter
kein Freund
Mein Vater könnte er sein
(ist er aber nicht)
Er tut Niemandem nichts,
er hasst Alle
(insbesondere die Kommunisten
und Nazis)
Die Moskauer Schauprozesse,
Stalin und Hitler:
wie er sie hasst!
Grausamkeit,
die Welt ist schlecht
Er ist nicht beteiligt,
war ohmächtig
und blieb ein Kind,
handelte unverantwortlich
An Gott glaubt er nicht,
er wundert sich nur
Schlagersängerinnen
Politiker im Bordell
Immer noch liegt er
im Krankenhaus
Am Rollstuhl gefesselt?
Ins Heim gesteckt?
Letzte Ruhe
auf dem Friedhof
Hoffentlich
verpasse ich
seine Beerdigung nicht -
klingt zynisch, ich weiß
Wo wird er
begraben?
Wer bezahlt
die Beerdigung?
Wer interessiert sich
für den Alten?
Was war der Sinn seines Lebens?
Ich beute ihn aus, literarisch
Er lenkt mich ab,
er leidet
Erleidet schon,
was mich erwartet
Alt werden in der Großfamilie?
Das war einmal, das ist nicht mehr!
Ständig bedroht
und arbeitslos
Hinaus geworfen
in eisige Einsamkeiten
Nein, es gibt keine Gemeinschaft mehr
für mich, für ihn
Ach, stürbe es sich nur leichter!
Den letzten Sprung gewagt
Den Absprung verpasst,
ungeübt und kunstlos
Ein Tod
lacht ins Gesicht dir
Gott selbst
setzt dir die Dornenkrone
aufs Haupt
Er quält
und rettet dich
Er ist
dir gnädig,
oder nicht
IST da ein Gott?
»Hallo, wo bist du denn?«
(Mit Gott auf du und du,
Gott, dein bester Freund!)
Vielleicht sollte ich dankbar sein
für dieses einmalige, wenn auch beschissene Leben
Es gibt Schlimmeres, ja,
Andere haben's noch schwerer!
Andere haben es
leichter
Da singt Einer,
Jemand träumt
Einer läuft
und ist fröhlich
Einer ist krank
und leidet
Dieser unterhält sich
und jener ist munter
Der ist produktiv
und eingepasst
in die Gemeinschaft,
im Leben
Ausgeschlossen
ein Anderer
Du und ich,
wir
In der Wüste
und in den Städten
Auf dem Lande,
auf hoher See
Im Weltraumschiff
und auf dem Mond
In ferner Zeit
aufgehoben
Fern
einer Wirklichkeit
Chance verpasst,
alle gehasst
Liebe die Welt,
die dich erhält
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