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® schrieb am 28.9. 2010 um 08:10:56 Uhr über

Premiere

Theaterpremiere in Hamburg
Aufruhr im Schauspielhaus
Von Matthias Matussek



Fotostrecke: 5 Bilder
DPAStürmischer, nicht endender Applaus, dann Resolutionen und kämpferische Parolen: In Hamburgs Schauspielhaus schwappte Bürgerprotest auf die Bühne, die phantastische »Hänsel und Gretel«-Premiere endete im Tumult. Der nächste logische Schritt wäre der Sturm aufs Rathaus gewesen.

Regisseur Volker Lösch und Dramaturgin Beate Seidel nannten ihre Produktion »Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg«, und diese erzählte genau das: Wie sich das Märchen der Gebrüder Grimm unter den Härtebedingungen der immer weiter auseinanderklappenden Gesellschaft der Hansestadt bewährt, wie es sich spiegelt in Problemvierteln wie im Hamburger Mümmelmannsberg und wie es schließlich in höheren Blödsinn und in alptraumhaftes Kabarett mündet.


ANZEIGELösch und Seidel hatten das Stück aus Interviews mit Schülern und Lehrern und Eltern gebastelt, dazu Texte von Hölderlin, von den Grimms, vom täglichen Talkshow-Irrsinn montiert.

Heraus kam ein bisweilen drastisches, bisweilen zärtliches und poetisches Libretto, das im Wechsel aus Chor und Einzelstimmen die soziale Frage Hamburgs - auch nach der jüngst erfolgten Abstimmung über die Schulreform - mit fast antikischer Wucht über die Rampe brachte.

Über die ganze Bühnenbreite im ersten Bild ein Fries Menschen. Zwanzig Kinder aus Mümmelmannsberg, vierzehn Mitglieder des Hartz-IV-Chors aus der vorangegangenen Erfolgsproduktion »Marat«, alles angeführt von vier Schauspielern des Ensembles. Sie skandieren von einem Alltag, in dem alleinerziehende Mütter trinken, Männer ohne Arbeit und sie selber und ihre Freunde den Dealern oder Erziehungsheimen überlassen sind.

Mittendrin als illusionslose, lethargische Prekariatsmama Marion Breckwoldt, die sich mit dem sozial überengagierten, von pädagogischen Veredelungsträumen beseelten Lehrer Achim Buch streitet um die Kids wie der Teufel um verlorene Seelen.

Was für ein Chor! Was für Gesichter, welche Hingabe, was für ein Ernst!

Ein gespenstisches Tauziehen, in dem die übergewichtige erschöpfte Mama in ihrem Sessel mitten auf der Bühne vor dem Fernseher sitzt und der glühende Pädagoge Buch auf der Balustrade der Intendantenloge in halsbrecherischen Höhen tanzt.

Die Kinder in Mümmelmannsberg haben zu 70 Prozent Migrationshintergrund, und auf der Bühne sind nur vier der Kinder deutsch. Und was für ein Chor! Was für Gesichter, welcher Glanz in den Augen, welche Hingabe, was für ein Ernst! Und zwischendurch steht da ein Kopftuchmädchen und deklariert mit hellster brechtscher Lehrstück-Klarheit: Die Welt ist halt so, wir können sie nicht ändern. Außer durch... na was schon?! Wie verhandeln wir elementare Fragen unseres Zusammenlebens, wie lässt sich Öffentlichkeit darüber herstellen? Antwort im Schauspielhaus: genau so.

In diesen Tagen streitet die Republik um eine Anhebung des Hartz-IV-Satzes um ein paar Euro, die christlichen Sozialen aus Bayern sind entschlossen, dagegen zu kämpfen. Notwendig wurde die Neuberechnung durch ein bahnbrechendes Verfassungsgerichtsurteil, das Kindern einen eigenen Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe zugestand. Hier im Schauspielhaus kann man den Kindern, um die es geht, ins Gesicht schauen. Das blonde Mädchen links hat einen Spalt in der Lippe, das dunkle daneben ist übergewichtig, der bebrillte Junge hat einen S-Fehler, und alle reden sie über ein Leben, das die meisten hier nur aus der Zeitung, aus Statistiken kennen.

»Ich schlag euch tot, ich fress euch auf«

Doch bevor wir dergestalt im dokumentarischen Tribunaltheater erstarren, wechselt die Szene in eine bunte Casting-Show, deren Jury den sozialdarwinistischen Heidi-Klum-, und Dieter-Bohlen-Dreck wiederkäut. Lauter Self-Improvement-Mantras der Glücks-und-Beauty-Idioten, à la »Du bist was du denkst«. Und du beginnst zu ahnen, dass es sich diese geistlosen Typen mit ausgerechnet Sarrazins melancholischem Buch unterm Arm dann doch ein wenig zu einfach machen.

Und schon wieder ändert das Stück seine Farbe. Jetzt wird es zur Hip-Hop-Kinderrevue im Hänsel-und-Gretel-Outfit, und das Hexenhaus ist eine blinkende Jahrmarkts-Lebkuchenbude, in der die Hexe thront vor einem Fernseher, eine verwahrloste McDonald's-Schlampe, die den mittlerweile gefangen gesetzten Kindern entgegenrülpst: »Ich schlag euch tot, ich fress euch auf

Doch vor diesem Knusper-Monsterhäuschen hat jetzt der propere Chor der Anwalts-, Zahnarzt- und Prokuristenfamilien aus Hamburgs Nobelvierteln Eppendorf und Harvestehude Aufstellung genommen, und er blökt seine Selbstzufriedenheit heraus, zusammengebunden von überdimensionierten Goldschleifen, die um die Familien und ihre geglückten Biografien geschlungen sind wie luxuriöse Geschenkverpackungen des Schicksals.

»Eine Woche Kastagnetten-Unterricht in Wilhelmsburg«

Schließlich das aberwitzige und bitterböse Finale. Eines dieser Charity-Events, auf die sich besonders das reiche Hamburg so gut versteht. »Die Schauspielerin Marion Breckwoldt ist gerade aus Pakistan zurück, wo sie eine Aktion für pakistanische Waisen aufgezeichnet hatZum Zeichen ihrer Solidarität tritt sie barfuß auf. Und fordert alle, die sich ebenfalls solidarisieren wollen, auf, das Gleiche zu tun. »Nur eine kleine Geste, es ist nicht schwer«.

Sie werden den jungen Murad beglücken. »Der Murad wünscht sich Spanischstunden«, sagt die Breckwold glückstrahlend. Es gibt so viele kleine Murats! »Stimmt doch gar nicht«, protestiert der Junge. Doch er hat das große Los gezogen. Er wird - Pause, Trommelwirbel - »eine Woche Kastagnetten-Unterricht in Wilhelmsburg bekommenUnd sie strahlen, die Charity-Lemuren, und achten darauf, dass sie richtig im Bild sind.

Die Breckwoldt ist sehr genau und absolut wiedererkennbar in ihrem widerwärtigen Society-Zynismus, und Achim Buch improvisiert das Empathie-Pathos so schön verlogen, dass jeder sehen kann: So sind sie, die Hamburger Bildungsbürger, die Hunderte von Millionen für die Elbphilharmonie verbauen und verplanen, aber gleichzeitig das Theater kaputtsparen und viele Museen und Bibliotheken in den Stadtteilen ebenso. Womit absolut nicht das Geringste gegen die Philharmonie oder den Bildungsbürger gesagt sein soll. Aber nur Pfeffersäcke spielen das eine gegen das andere aus.

Die Show könnte die neue Touristenattraktion Hamburgs werden

Zu den hintergründigeren Pointen an diesem Abend gehört, dass der Alstergegend-Bewohner für die Spitzenplätze an diesem Abend 65 Euro zahlen muss, um sich von da oben abwatschen zu lassen. Allerdings sind die, auf die es in Wahrheit ankäme - Kultursenator Stuth und seine Kommissare - ohnehin nicht anwesend.

Die Senatoren haben was versäumt.

Die Show im Schauspielhaus ist jeden einzelnen Euro wert. »Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg« ist die bei weitem witzigste und intelligentste und frechste Show der Stadt, und wenn sich die Kids am Ende verbeugen, möchte man sich zurückverbeugen vor diesem ansteckenden Lebensmut, dieser Spielbegeisterung, dieser Unverstelltheit. Mann, haben sie sich diesen rund halbstündigen Applaus verdient!

»Ich war noch niemals in New York«? Einpacken, jetzt kommt Mümmelmannsberg. Die Show könnte die neue Touristenattraktion der Stadt werden, wenn, ja wenn der kulturblinde Senat das Haus nicht vorher kaputtspart.

Bildungsferne schwarz-grüne Schichten im Hamburger Rathaus


ANZEIGEDeshalb verliest am Ende des Premierenapplauses ein Schauspieler aufgebracht eine Resolution. Das Haus ist kopflos, nachdem der Intendant Schirmer aus Protest gegen eine Kürzung des Etats um 300.000 Euro hingeschmissen hatte.

Der Senat nutzte die Vakanz mit geradezu abenteuerlicher Chuzpe zu einer weiteren Kürzung. Er strich den Etat nun um rund 1,2 Millionen zusammen, was ungefähr die Hälfte des künstlerischen Etats ausmacht. Das bedeutet, dass überhaupt nur noch zwei Produktionen pro Spielzeit möglich sind. So sieht sie aus, die Politik der bildungsfernen schwarz-grünen Schichten im oberen Spektrum: gedankenlos, zutiefst asozial und von robuster Traditionslosigkeit gegenüber dem Haus von Gründgens und Zadek. Prekariat gibt es auch in getäfelten Rathausräumen.

»Wir verstehen diese Maßnahmen als Kampfansage«, rief der Schauspieler, zu dem sich mittlerweile das ganze Ensemble des Hauses auf der Bühne gesellt hatte. »Und wir werden diese Ansage beantwortenAuf der anschließenden Premierenfeier gibt sich Lösch kämpferisch. Das Mitglied der Künstlerischen Leitung des Staatstheaters in Stuttgart hat Erfahrung. Er ist einer der Organisatoren der Bürgerprotestbewegung gegen den Abriss des Stuttgarter Hauptbahnhofs. »Wir werden kämpfen



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