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positiv bewertete Texte
Der erste Text am 20.11. 2001 um 23:29:32 Uhr schrieb
Gaddhafi über Auschwitz
Der neuste Text am 21.7. 2023 um 07:42:32 Uhr schrieb
Bettina Beispiel über Auschwitz
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(insgesamt: 38)

am 1.10. 2020 um 09:34:24 Uhr schrieb
Christine über Auschwitz

am 27.10. 2020 um 22:38:53 Uhr schrieb
Christine über Auschwitz

am 11.12. 2019 um 16:54:07 Uhr schrieb
Christine über Auschwitz

Einige überdurchschnittlich positiv bewertete

Assoziationen zu »Auschwitz«

tango7 schrieb am 17.9. 2004 um 01:18:49 Uhr zu

Auschwitz

Bewertung: 10 Punkt(e)

gareth schrieb am 21.11.2001 über Höss u.a.:

»Wie kann ein ganz normaler Familienvater zu einem Ungeheuer mutieren

Es gibt keinen generellen Unterschied zwischen einem ganz normalen Familienvater und einem Ungeheuer.

Das Wort Ungeheuer für eine menschliche Verhaltensweise ist aber verschleiernd, und die damit vollzogene Ausgrenzung für das Verständnis und die eventuelle Verhinderung zumindest *dieses* Terrors von Menschen gegen Menschen nicht hilfreich. Jede Barbarei von Menschen ist notgedrungen auch menschlich.

biggi schrieb am 24.3. 2002 um 13:15:52 Uhr zu

Auschwitz

Bewertung: 6 Punkt(e)

Industrialisierte Menschenvernichtung. Stereotypie der Macht hat verschiedene Gesichter. Das waren alles Menschen. Sehr fleißige Menschen. Wie viele die in so kurzer Zeit auf so engem Raum getötet haben. Warum mir Fleiß angst macht? Du schaust so selten auf dabei, handelst ohne innezuhalten. Deutscher Fleiß. Deutsche Wertarbeit. Auschwitz. Ob die sich vorher beim Arbeitsamt abgemeldet hatten? Das muss doch alles seine Ordnung haben. Auschwitz, numerierte Wege, Baracken und Betten. Geeignet für die Vernichtung vieler Menschen in kurzer Zeit. Ob es auf absehbare Zeit wieder ein Auschwitz geben wird? Oder ob das Ausklinken von Bomben über dem Platz an der Sonne preiswerter bleibt? Wie preiswert ist Atomkrieg? Wie wichtig Glück? Wen interessiert, ob du jetzt gerade glücklich bist? Und wenn, warum interessiert ihn das? Hat er sich verschworen gegen dich? Störst du seine Pläne? Braucht er den Platz, auf dem du lebst? Auschwitz. Nicht Afghanisthan. Nenn es Auschwitz. Heimat und Auschwitz? Was mich mit dem Ort verbindet? Die regenverhangenen Wolken und die leeren Gehsteige. Der Stacheldraht ist weit weg. Fast dreieinhalb Meter höher. Und die Betonplatten sind aus gröberem Kies als beim WBS70. Lachen tut gut. Überall Pfützen. Es ist kalt. Blütenfrost ohne Blüten. Ich würde gern wieder etwas pflanzen. Die Erde ist gefroren.

gareth schrieb am 21.11. 2001 um 11:21:31 Uhr zu

Auschwitz

Bewertung: 16 Punkt(e)

Was waren das für Menschen, die Auschwitz zum wahren Alptraum gemacht haben, Monster, Geisteskranke, Sadisten? Wenn man sich die Vita vom Kz-Kommandanten Rudulf Höss (Zitat: Ich bereue nichts!") durchliest, meint man einen x-beliebigen Menschen vor sich zu haben, und das ist das eigentlich Schreckliche daran. Wie kann ein ganz normaler Familienvater zu einem Ungeheuer mutieren?
Und, kann das nicht jeden Tag wieder passieren?

Wenkmann schrieb am 1.6. 2005 um 20:34:11 Uhr zu

Auschwitz

Bewertung: 5 Punkt(e)

Beobachtungen und Überlegungen zu den
Konzentrationslagern der Nazis

von

Marc Klein,

Professor an der medizinischen Fakultät in Straßburg.


Dies ist das erste Mal, daß ich mich - nicht ohne lebhafte Bedenken - miteinem Thema befasse, das vollständig außerhalb meines Berufsfelds liegt. Ich habe weder Talent als Erzähler, noch als Schriftsteller, Politiker oder Publizist. Von Beruf bin ich Biologe und Arzt. Ich habe das Angebot der Société des Etudes Germaniques, für deren Mitglieder einen Bericht über die Konzentrationslager der Nazis zu schreiben, nach langem Zögern angenommen, weil ich mir darüber klargeworden bin, daß ich damit eine Reihe deutscher Lehrer der verschiedenen Sekundarstufen erreichen kann. Diese Lehrer werden dafür verantwortlich sein, was in den kommenden Jahren über die Deutschen und Deutschland gelehrt werden wird. Aus diesem Grund dachte ich mir, es wäre nützlich, wenn ich meine Beobachtungen und Gedanken über die Konzentrationslager der Nazis so objektiv wie möglich schildere. Ich bin mir über die vielfältigen Gefahren eines solchen Vorhabens im klaren und möchte von vornherein versuchen, Mißverständnisse auszuräumen, die bei der Behandlung eines Themas von solch brennender Aktualität ganz zwangsläufig aufkommen müssen. Ich möchte mich bei meinem Bericht von den folgenden Zeilen des Thukydides leiten lassen: »Wenn es um Ereignisse geht, so bin ich nicht damit zufrieden, sie in der Weise niederzuschreiben, wie sie mir der Erstbeste übermittelt hat, noch in der Weise, wie es mir gewesen zu sein schien; sondern ich habe mich darum bemüht, mich aller Tatsachen hinsichtlich dieser Ereignisse so exakt wie möglich zu vergewissern, und zwar selbst dort, wo ich selbst als Zeuge zugegen war. Dabei gehe ich peinlich genau vor, weil die Zeugen eines Ereignisses nicht alle das gleiche über ein gegebenes Ereignis mitteilen. Die Berichte fallen je nach den Launen der Erinnerung oder der Wahrnehmung ganz unterschiedlich aus. Möglicherweise liest man meinen Bericht mit weniger Freude, weil ich ausgelassen habe, was dem Reich der Phantasie zuzuordnen ist. Indessen reicht es mir, wenn mein Bericht von jenen für nützlich erachtet wird, die die Wahrheit über das, was geschehen ist, wissen wollen, um daraus Folgerungen zu ziehen, wenn sich aufgrund der menschlichen Natur eines Tages ähnliche Ereignisse wiederholen sollten.« (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch I, XXII).

Was ich zu notieren habe, ist ein Augenzeugenbericht, und die Schwächen aller menschlichen Zeugenaussagen sind mir bewußt. Ich werde versuchen, so wenig wie möglich über Erinnerungen zu erzählen, die mir persönlich sehr nahe gehen, um mich nicht dem Verdacht auszusetzen, ich wolle mich in der Absicht, Mitleid zu schinden, zum Hauptdarsteller aufbauen. Solche Erinnerungen, seien sie nun angenehmer oder aufwühlender Natur, haben außer für nahe Bekannte keinen Wert. Darüber hinaus ist es angebracht, eine gewisse Zurückhaltung zu üben, um die Gefühle der mir Nahestehenden zu schonen. Ich werde mich nicht in der Schilderung makabrer oder grausamer Szenen ergehen; andere Berichte über die Lager haben das zur Genüge getan. Nicht, daß die Schilderungen solcher Szenen nicht zutreffend wären, oder daß es sie nicht gegeben hätte. Sie sind traurige Wahrheit, geben jedoch nur einen Teilaspekt der Lager wieder. Ihre Darstellung befriedigt oft nur die sadistische Neugier der breiten Masse und läßt die wirklichen Probleme außer acht. Ich möchte daher versuchen, mich auf allgemein gehaltener Ebene mit der Betrachtung der Organisation dieser Lager zu beschäftigen, deren kalkulierte Perfektion das Grauen und die Gefahren dieser Einrichtungen zur kollektiven Unterdrückung nur verstärkt hat. Ich werde nacheinander die Lager Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald beschreiben, die einzigen, die ich selbst erlebt habe. Ich werde sie miteinander vergleichen, weil es tiefgreifende Unterschiede zwischen diesen Lagern gibt, sowohl was die Einrichtungen, als auch was den Gemütszustand der Insassen anbelangt. Wo ich in Ermangelung einer Erklärung für die wiedergegebenen Ereignisse die reine Schilderung durch Kommentare ergänzen muß, werde ich mir Mühe geben, plausible Deutungen zu finden. Soweit möglich, möchte ich auch jedwede persönliche Gefühlsregung auslassen, weil diese Schmerzen ohnegleichen hervorrufen würde. Rühren Trauer und Leiden eines Autors den Leser oder Zuhörer an, so wird ihm die Möglichkeit genommen, das geschilderte Geschehen in seiner vollen Tragweite zu begreifen. Ein solches Verständnis ist jedoch unbedingt nötig, wenn die Wiederholung solchen Unheils verhindert werden soll. Kurz gesagt: Ich möchte als Naturwissenschaftler meinem Ideal treu bleiben, das danach verlangt, Fakten so objektiv wie möglich herauszuarbeiten, bevor man versucht, sie zu interpretieren.

Möglicherweise erscheinen diese methodischen und erzählerischen Vorsichtsmaßregeln überflüssig. Möglicherweise werden sie nicht dazu geeignet sein, gewissen Reaktionen, zu denen dieser Artikel Anlaß geben könnte, von vornherein den Boden zu entziehen. In diesem Fall mögen sie wenigstens als Hinweis auf den Geist des guten Willens dienen, in dem er geschrieben ist.

Der Name »Auschwitz« bezieht sich nicht auf ein einzelnes Lager, sondern auf eine Gruppe von Lagern unterschiedlicher Wichtigkeit, die alle dem zentralen Lager Auschwitz I oder Auschwitz Stammlager untergeordnet waren. Letzteres lag in etwa 4 Kilometer Entfernung von der Stadt Auschwitz (Oswieciem), die wiederum nahe dem berühmten »Dreikaisereck« liegt, wo vor 1914 die Grenzen des deutschen, des österreichisch-ungarischen und des russischen Kaiserreichs aufeinandertrafen. Ich selbst war im Konzentrationslager Auschwitz I interniert, und die Schilderungen die ich im folgenden wiedergebe, sind nur für dieses Lager gültig. Sie werden sich trotzdem sehr von denen unterscheiden, die von anderen Autoren stammen und die sich in Wirklichkeit auf andere Lager wie Birkenau (Auschwitz II) oder Monowitz (Auschwitz III) beziehen. Zu diesem zentralen Lager gehörten zahlreiche weitere Zweigstellen wie z. B. Birkenau, Monowitz, Fürstengrube, Gleiwitz, Kattowitz, Zator und Laurahütte, um nur die bekanntesten aufzuzählen. Wenn man auf einer Karte die Orte der verschiedenen Lager sucht, wird klar, daß der Lagerbereich Auschwitz eine Fläche einnahm, deren weiteste Strecke ungefähr 120 Kilometer, also den Durchmesser eines durchschnittlichen französischen Departements, erreichte. Es muß angefügt werden, daß in der näheren Umgebung von Auschwitz die nicht minder berühmten und nicht weniger finsteren Vernichtungslager Lublin, Majdanek und Treblinka zu finden waren. Die mittlere Insassenzahl des Lagerbereichs Auschwitz lag einigen Angaben zufolge bei etwa 150000. In Auschwitz I selbst lebten im Durchschnitt ungefähr 15.000 bis 18.000 Gefangene. Trotz der kontinuierlichen Zugänge von Gefangenen blieb diese Belegung infolge der Transporte nach anderen Konzentrationslagern und wegen der Selektionen und Morde gleich nach Ankunft meiner Wahrnehmung nach in etwa gleich. Ich habe eines Tages in der Schreibstube von Raisko einen Plan der Wohnblocks des Lagerbereichs Auschwitz gesehen, in dem das Zentrallager nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Dort war eine ganze Reihe von Einrichtungen und verschiedenen Fabriken aufgeführt, von denen einige bereits ganz und andere teilweise fertiggestellt waren. Wieder andere sollten niemals zur Ausführung kommen. Auschwitz war also etwas ganz anderes als das, was man sich unter einem Konzentrationslager gemeinhin vorstellt. Etwas völlig anderes jedenfalls als ein mit elektrisch geladenen Drahtzäunen umgebenes Areal, in dem man Gefangene einsperrt, um sie dort umzubringen. Auschwitz war ein gigantisches Unternehmen mit Industrieanlagen aller Art: Gruben, Materiallager, landwirtschaftliche Betriebe, Abteilungen für die Verlegung elektrischer Leitungen, für Drainagearbeiten und für den Bau von Kanalisationsanlagen. Es gab Straßen, Kasernen für die SS-Truppen, Krankenhäuser, sanitäre Anlagen, die eigentlichen Lagerbauten selbst und nicht zuletzt als zentralen Punkt die berühmten Gaskammern und Krematorien, denen Auschwitz seinen einzigartigen Ruf verdankt.

Bevor ich das Lager und den Alltag der dort lebenden Gefangenen beschreibe, werde ich meine Ankunft in Birkenau schildern. Diese Schilderung lenkt das Augenmerk sofort auf den wichtigsten Punkt: Auf die Massenvernichtungen und auf die Ansichten, die zu diesem Thema unter den Gefangenen selbst verbreitet waren.

Zu meiner Zeit kamen die Konvois im Lager Birkenau an einem speziell hierfür geschaffenen und für diese Zwecke besonders hergerichteten Bahnsteig an, der nur ein paar Meter von den Gaskammern und Krematorien entfernt war.

Sofort nach meiner Ankunft am 2. Juni 1944 wurden wir nach Öffnen der Waggons in brutalster Weise von Insassen (den sog. »Kapos«, Anm. d. Übersetzers) und der SS umher gestoßen, damit wir so schnell wie möglich ausstiegen und das gesamte Gepäck in den Waggons ließen. Ein junger SS-Arzt fragte mich in perfektem Französisch, wo sich der Medikamentenvorrat befände. Er erkundigte sich auch noch, ob ich Patienten mit Infektionskrankheiten gehabt habe. Anschließend wurden wir unter Stockschlägen auf die Extremitäten zum Bahnsteig getrieben. Die Kranken der drei Sanitäts-Waggons wurden zu einer Gruppe auf der einen Seite zusammengefaßt. Ich sollte niemals einen von ihnen wiedersehen, noch jemals wieder irgendeine Nachricht von ihnen bekommen: »Verschwunden bei der Ankunft«. Anschließend wurden die Männer und die Frauen getrennt. Es wäre sinnlos, die Szenen zu beschreiben, die sich bei diesem Anlaß abgespielt haben. Danach gingen wir an einem SS-Arzt vorbei, der mit einer Geste seines Stocks jeden von uns zu einer Gruppe auf der linken oder der rechten Seite dirigierte. Ich war bereits einer der Gruppen zugewiesen worden, als ich auf die Bemerkung eines SS Unteroffiziers »So ein junger Mensch« mit einem groben »Weg auf die andere Seite« zu der anderen Gruppe geschickt wurde. Ich führe dieses Detail nur an, um klarzumachen, in welch oberflächlicher Weise diese Selektion durchgeführt wurde. Im Laufe einer Stunde hatten sich so zwei Gruppen von Menschen gebildet. Ich erinnere mich, daß, grob gesagt, auf der einen Seite Greise und schwächlich wirkende Männer zu finden waren. Die andere Gruppe, zu der ich gehörte, bestand dagegen aus jungen Männern und solchen, die einen robusten Eindruck machten. Wir vermuteten, daß wir wohl zu härteren Arbeiten herangezogen werden würden, was uns eine plausible Erklärung zu sein schien. Ich hatte vom Gefängnis her die Erfahrung gemacht, daß es besser war, hart zu arbeiten, da man dann bessere Verpflegung erhielt. Ich sah noch einige gute Freunde innerhalb der Gruppe der Schwachen. Nachdem ich einige Worte mit ihnen gewechselt hatte, wurden wir getrennt. Die Tatsache, daß meine unglücklichen Kameraden unmittelbar nach unserer Ankunft vergast und kremiert worden waren, sollte mir nur nach und nach, in kleinen Schritten und nach Monaten zur Gewißheit werden.

Ich war auf dem Transport von Drancy nach Auschwitz für einen der drei Krankentransport-Waggons verantwortlich gewesen. Diese unterschieden sich in nichts von den anderen Viehwaggons, als durch die Tatsache, daß sie mit ein paar Matratzen und Wasserbehältern ausgerüstet waren, die wir an bestimmten Stationen nachfüllen durften. Außerdem gab es Medikamente in einer Menge, die auch durch die längste Reise nicht hätte erklärt werden können. Die Deportierten in meinem Waggon waren überwiegend Greise und Kranke. Mir deren Diagnosen zu nennen, hatte man bei der Abfahrt in Drancy nicht für nötig befunden. Im Verlauf des Transports waren einige Leute hinzugekommen, die während der Fahrt erkrankt waren. Ich und meine beiden Kollegen hatten zunehmend mehr ärztliche Hilfe zu leisten. Wir konnten nicht ahnen, was das Schicksal unserer Patienten sein würde. Im Endeffekt gab es in diesen Waggons nur drei Überlebende: das medizinische Personal. Alle anderen Insassen des Waggons sind bei der Ankunft verschwunden. Ich werde versuchen, diese Formulierung »bei der Ankunft verschwunden« zu präzisieren, indem ich die Ankunft selbst beschreibe - einen Vorgang, der sich tausendfach auf diesem unheimlichen Bahnsteig wiederholt hat und dessen Bedeutung und fürchterlichen Ernst wir erst viel später verstehen konnten. Der Neuankömmling war sich nicht darüber im klaren, daß der Ausstieg und die anschließende Auswahl in Wirklichkeit ein Prozeß der Selektion und Vernichtung darstellte.

Es blieben etwa 200 Männer übrig. Wir wurden in Reihen zu je 5 aufgestellt und marschierten zu Fuß nach Auschwitz I, das etwa 4 Kilometer vom Bahnsteig in Birkenau entfernt lag, wobei wir die berühmte Inschrift »Arbeit macht frei« passierten. Das Lager machte auf mich einen sehr guten Eindruck: Die Blocks waren Steinbauten mit mehreren Etagen, die Straßen in sehr sauberem Zustand. Dieser Eindruck wich der Verwunderung, als wir an den Blocks des Häftlingskrankenbaus vorbei geführt wurden. Sollte es möglich sein, daß es in einem Lager, dessen finsteren Ruf alle Welt dank Radiosendungen kannte, ein Hospital mit Spezialabteilungen gemäß dem modernsten Stand der Medizin gab? Vor der Ambulanz aufgereiht, wurden wir vom Lagerarzt empfangen, der zweimal dazu aufforderte, daß Gefangene, die sich nicht wohl fühlten, vortreten sollten. Seine in deutsch getätigte Aufforderung wurde von einem Dolmetscher des Lagers in mehrere Sprachen übersetzt. Etwa zwanzig meiner Kameraden, die sich möglicherweise auf dem Kasernenhof glaubten oder von dem Hospitalbauten in Versuchung geführt worden waren, traten vor. Sie wurden mit einem Krankenwagen, der das Zeichen des roten Kreuzes trug, aus dem Lager gebracht. Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen, und ich habe auch nie wieder gehört, daß ihr Name genannt worden wäre: »Verschwunden bei der Ankunft«. Anschließend wurde uns alles abgenommen, was wir bei uns trugen. Dabei sparte man sich die Mühe, irgendwelche Listen zu führen. Die Gegenstände wurden sortiert und auf Haufen geworfen. Diese wanderten in die »Canadas«: gigantische Lager von Dingen, die den Neuankömmlingen gestohlen worden waren. Bei dieser Gelegenheit wurden uns auch all unsere Papiere abgenommen und vernichtet. Von diesem Augenblick an hatten wir keine Identität, keine Persönlichkeit und keine legale Zuflucht irgendeiner Art mehr, weder innerhalb des Lagers noch irgendwo sonst auf der Welt. Wir hatten nur noch eine Nummer: jene berühmte Häftlingsnummer, die uns auf den linken Unterarm zu tätowieren man keine Zeit verlor. Anschließend wurden wir sämtlicher Kleidungsstücke entledigt und am ganzen Körper geschoren, zu den Duschen geführt und mit dieser gestreiften Kleidung ausgestattet, die uns bei unserer Annäherung an das Lager lebhaft beeindruckt und beunruhigt hatte. Einem wohl eingeführten Brauch folgend, gab man uns Neuankömmlingen die verlumptesten Sachen, die uns für Wochen als solche kenntlich machte und uns Witzen oder Grobheiten seitens der Alteingesessenen aussetzte. Schließlich wurden wir dem Block 17 zugeführt, wo uns der polnische Blockchef eine recht rauhe Rede auf französisch und deutsch hielt. Er erklärte uns, falls wir auf den ersten Blick den Eindruck hätten, in einer Kaserne zu sein, wo eine Verletzung der Regeln zu einer mehr oder minder harten Bestrafung führe, so sollten wir uns von diesem Irrtum freimachen und niemals vergessen, daß im Konzentrationslager Auschwitz jedes Versehen und jeder Fehler im Endeffekt nur mit einer einzigen Strafe geahndet werden würde: mit dem Tod.

Gleich am ersten Abend erhielten wir Besuch von alteingesessenen französischen Gefangenen, vor allen Dingen von Ärzten, die aufgrund ihrer speziellen Armbinden das Recht hatten, alle Blocks einschließlich der Quarantäneblocks zu betreten, die den normalen Gefangenen verschlossen blieben. Diese Kameraden kamen, um Neuigkeiten aus Frankreich zu erfahren, und sie stellten alle die gleiche ungeduldige Frage: »Wieviel wart ihr bei der Abfahrt und wieviel sind übrig? « Soweit ich mich erinnern kann, waren wir 1200, als wir Drancy verließen. Davon waren ungefähr 500 Männer, von denen nach der Selektion auf dem Bahnsteig um die 200 übrig waren, die nach Auschwitz I gebracht wurden. Als wir den Alteingesessenen erzählten, daß wir die anderen Männer, Frauen und Kinder in Birkenau zurückgelassen hatten, brachen die einen in Gelächter aus, andere sagten nichts. Auf unsere drängenden Fragen hin weihten uns einige in das grauenhafte Geheimnis ein, das über dem Lager lag: die Massenvergasungen und -verbrennungen von Konvois gleich nach der Ankunft. Einer meiner französischen Mitgefangenen sagte mir ohne Umschweife, daß jene, die wir in Birkenau zurückgelassen glaubten, in Wirklichkeit längst im Himmel seien. Ein anderer beschwor mich, kein Wort dieses pessimistischen Geschwätzes zu glauben (er gestand mir sehr viel später, daß er das nur aus Mitleid gemacht hätte, weil er den Neuankömmlingen nicht die Wahrheit sagen wollte und weil er sie selbst nicht glauben wollte). Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich hatte das große Glück, alleine nach Auschwitz gekommen zu sein, aber meine bedauernswerten Kameraden, die mit Frau und Kind oder den Eltern nach Auschwitz gekommen waren und diese auf dem Bahnsteig zurückgelassen hatten, begannen sich zu sorgen und verloren die Fassung: War das wahr oder war das nicht wahr, was sollte man glauben, was nicht? Während der folgenden Wochen und Monate sollten diese Fragen Gegenstand leidenschaftlicher Debatten sein. Dabei bediente man sich spezieller Worte, weil es bei Todesstrafe verboten war, von Gaskammern, Vergasungen und Krematorien zu sprechen. Bei den Franzosen hieß diese Vernichtungsmaschinerie »Die Pfeife, die Schmorpfanne, der Kamin«. Nach einer gewissen Zeit benutzten wir eine bestimmte Geste in Verbindung mit einer besonderen Mimik, die keinen Zweifel über das Schicksal eines Individuums, einer Gruppe oder eines Transports ließ: Wir blickten zum Himmel auf und hoben gleichzeitig den rechten Zeigefinger, was für Eingeweihte soviel wie das bedeutete, was man innerhalb des Lagers »Himmelfahrtskommando« nannte.

Und so lernte ich selbst die Wahrheit kennen: Drei Wochen nach meiner Ankunft im Lager zeigte mir der Großrabbiner von Straßburg, der seit Februar 1944 im Lager inhaftiert war, einen Brief seiner Frau. Anläßlich einer Selektion ausgewählt, hatte sie ihm noch schreiben können, bevor sie sich auf den Weg in die Gaskammer machte. Auf diese Weise hatte ich erfahren, daß es im Lager Selektionen gab. Von den Massenvergasungen unmittelbar nach der Ankunft war ich noch nicht überzeugt. Ich wußte seit 1936, daß in den deutschen Krankenhäusern, besonders in den Irrenanstalten, die unheilbaren Fälle durch intravenöse Injektionen von Gift beseitigt wurden. Es gab infolgedessen keinen vernünftigen Grund für die Annahme, daß diese im Deutschland Hitlers anscheinend legale Verfahrensweise nicht auch im Hospital von Auschwitz angewandt wurde.

Wir wußten früh genug von dem ein oder anderen, dem es nicht gut bekommen war, sich in die Krankenabteilung einweisen zu lassen. Und wir wußten auch, daß man unversehens anläßlich einer Selektion verschwinden konnte. Doch selbst in Anbetracht dieser Gegebenheiten und trotz der hämischen Bemerkungen der Alteingesessenen stand für uns noch nicht fest, daß die massive Vergasung ganzer Konvois gleich nach der Ankunft Realität war. Daß wir von Zeit zu Zeit auf heimlichen Wegen Nachrichten von auf dem Bahnsteig zurückgelassenen jungen Frauen und Mädchen aus unserem Transport bekamen, die in Birkenau geblieben waren, bestärkte uns in unseren Zweifeln. Mir fiel allerdings sehr schnell auf, daß wir niemals Nachrichten von Männern, Frauen mit Kindern oder alten Frauen bekamen, die auf dem selben Bahnsteig zurückgeblieben waren. War es wahr? War es nicht wahr? Ich für meinen Teil begann zu glauben, daß es wahr war. Aber meine Kameraden, die in Birkenau von ihren Familien getrennt worden waren, klammerten sich an die wenigen Nachrichten, die wir erhielten und an die Hoffnung, daß die Frauen mit Kindern in einem speziellen Lager für Familien interniert worden wären, das für unsere heimlichen Botengänger nicht zugänglich wäre. Wir hatten von solch einem Lager gehört, wo es angeblich einen Kindergarten geben sollte, in dem die Kinder Milch und Butterkuchen bekämen. Solche fast unglaublichen Gerüchte beschwichtigten zeitweilig die Ängste meiner Kameraden. Dieses sagenhafte Lager für Kinder hat es in Birkenau wirklich gegeben, genauso wie es die Vergasungen von Kindern gegeben hat. Ich mußte diese irrsinnige Wahrheit von einem Zeugen aus erster Hand zur Kenntnis nehmen, einem alten Lagerkapo in Birkenau.

Am letzten Samstag des Juni 1944 kamen in Stube 8 von Block 28 zwei Neuankömmlinge, die meine Kollegen und mich selbst in Bestürzung versetzen sollten. Zwei Tschechen waren von einem SS Arzt in einem Wagen von Birkenau hergebracht worden. Aus verschiedenen Erzählungen, die uns einige Tage später aus dem Nachbarlager zugetragen wurden, konnte mit gutem Grund der Schluß gezogen werden, daß diese beiden Tschechen dank der Intervention dieses SS Arztes dem Tode entgangen waren, obwohl das gesamte tschechische Familienlager an diesem Tag durch Vergasung vernichtet worden war. Einer der beiden war Privatdozent für Psychiatrie gewesen, der zweite Gehilfe in der Autopsie der deutschen Universität in Prag. Der Letztere, ein Epileptiker, war oft auf meine Dienste angewiesen, um heimlich an Beruhigungsmittel zu kommen. Im Gegenzug vertraute er mir in Phasen von Verwirrtheit und unter Gewissensbissen eine Reihe von Geschichten über Theresienstadt und Birkenau an, die ich mir in aller Diskretion von dem Psychiater bestätigen lassen konnte. Dieser Gehilfe hatte in Theresienstadt eine sehr privilegierte Stellung eingenommen, weil er dort das Amt des Henkers ausgeübt hatte. Er erzählte mir, daß er eines Tages dreizehn seiner Kameraden hatte hinrichten müssen. Er hätte es jedoch geschafft, die Gunst zugestanden zu bekommen, diese gräßliche Tätigkeit nicht in aller Öffentlichkeit, wie eigentlich im Lagerreglement vorgesehen, sondern in einer Zelle ausführen zu dürfen. Er war für einige Zeit Lagerkapo in Birkenau, wo ihm der Ruf großer Brutalität vorauseilte, bevor er in das tschechische Familienlager überführt wurde. Dort gab es Gerüchten zufolge eine spezielle Schule, in der die Kinder eine eigens für sie ausgewählte Verpflegung erhielten. Und genau jene Kinder waren an diesem letzten Samstag im Juni 1944 ermordet worden. Ich hörte von anderen Mitgefangenen, daß dieser unheimliche Mensch sich in bewundernswerter Weise um die Kinder gekümmert hatte, von diesen vergöttert worden war und den Spitznamen »Napoleon der Kinder« erhalten hatte.

Von ihm erhielt ich eine detaillierte Schilderung der Prozedur der Selektion auf dem Bahnsteig von Birkenau. Er beschrieb mir die Gaskammern und die Krematorien, in denen er gewesen war, genau. Von all dem hier nur das Wichtigste: Jene, die bei der Selektion auf dem Bahnsteig dazu verdammt waren zu verschwinden, hatten keine Zweifel daran, was ihnen bevorstand. Nachdem man sie all ihrer Habe beraubt hatte, gab man ihnen ein Handtuch und ein Stück Seife und führte sie zu einem besonderen Bau, der mit »Bad« beschriftet war. Einmal in diesen Duschen angekommen, setzte man sie den Ausdünstungen von Cyanwasserstoff aus, der von einem speziellen Produkt, Zyklon B, das gewöhnlich zur Rattenbekämpfung in Schiffen eingesetzt wird, freigesetzt wurde. Der Tod muß unverzüglich eingetreten sein. Die Leichen wurden anschließend in einem sehr modernen, perfekten Krematorium unverzüglich verbrannt. Die Arbeit der Beseitigung erst der Leichen und anschließend der Überreste aus den Krematoriumssöfen wurde einem Spezialkommando aus Häftlingen überlassen, denen zahlreiche materielle Privilegien gewährt wurden, die aber regelmäßig ausgetauscht und selbst der Vernichtung zugeführt wurden.

Der Prager erzählte mir auch, daß der Anteil derer, die bei der Ankunft selektioniert wurden, von einem Zug zum anderen merklich schwankte; er selbst habe gesehen, wie komplette Konvois, die im Herbst 1943 aus Frankreich und Holland ankamen, verschwanden. Im Lauf der seiner Überführung zu uns vorangegangenen Woche hatte er die massive Vernichtung bestimmter Konvois bemerkt, die aus Ungarn kamen. Diese Erzählung war in Übereinstimmung mit dem Eingang zahlreicher ungarischer Prothesen, die wir in der Apotheke, in der ich zu dieser Zeit arbeitete, beinahe täglich ordnen mußten. Wir schätzten anhand der Zahl der orthopädischen Hilfen, die wöchentlich eingingen, daß die Größenordnung der bei der Ankunft vergasten Menschen zeitweise bei 8 bis 10000 pro Tag gelegen haben muß. Diese uns schwindelerregend hoch anmutende Zahl hat sich in der Folge als richtig erwiesen, wie auch aus den verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen zu entnehmen ist. Aufgrund der gesammelten mündlichen Berichte des Laboranten aus Prag, die durch verschiedene weitere Hinweise erhärtet wurden, gibt es keinen vernünftigen Zweifel für mich: Es erfolgte eine systematische Vernichtung einer bestimmten Anzahl der Neuankömmlinge in Auschwitz in einem im voraus festgelegten Ausmaß. Wir kamen zu dem Schluß, daß nur die Juden in dieser Weise vernichtet wurden. Nach meiner Kenntnis wurde niemals auch nur ein einziger Konvoi aus Ariern auf dem Bahnsteig von Birkenau einer Selektion unterzogen. Obwohl ich inzwischen von der Realität dieser Vorgänge überzeugt war, habe ich äußerlich den Eindruck erweckt, als glaube ich nicht an diese »Horrorgeschichten«. Auf diese Weise konnte ich zahlreiche meiner Kameraden beruhigen und trösten. Wenn jemand, der auch nach Frankreich zurückgekehrt ist, diese Zeilen liest, weiß er nun um meine wahren Gedanken.

Eine weitere Prozedur der massiven und summarischen Vernichtung waren Selektionen, die innerhalb der Lager selbst von speziellen »Kommissionen« durchgeführt wurden und deren offen eingestandener Zweck die Vernichtung von kranken oder arbeitsunfähigen Insassen war. Eine »Kommission« ging ungefähr alle vier oder sechs Wochen durch die einzelnen Abteilungen des Hospitals, ließ sich von den Ärzten die Kranken vorführen und merkte eine bestimmte Anzahl von ihnen vor. Noch am selben Tag oder ein paar Tage später wurden diese Kranken aufgerufen und mit Lastwagen aus dem Lager evakuiert. Aufgrund von Hinweisen, die wir von in der Zentralwäscherei arbeitenden Kameraden erhielten, wußten wir, ob die Kleidung dieser Insassen dort angeliefert wurde oder nicht. Wenn diese noch am selben Tag geliefert wurde, war das für uns die Bestätigung, daß sie vergast und verbrannt worden waren. Diese Selektionen wurden manchmal unter seltsamen Umständen durchgeführt, die dazu gedacht waren, uns zu verwirren. Manchmal beschränkten sie sich auf eine sehr kleine Zahl von tatsächlich unheilbar Erkrankten. Zu anderen Gelegenheiten hatte die Inspektion der Kommission erst nach einer gewissen Zeit Konsequenzen. Einmal wurden von ihr keinerlei Exekutionsentscheidungen gefällt. Ein anderes Mal wurde der Lagerälteste, um das Lager zu beruhigen, schließlich beauftragt, den Transport bis zum Lager Birkenau zu begleiten, um ihn davon zu überzeugen, daß die selektierten Insassen nach einem Erholungslager verbracht würden. Den Aussagen von Kameraden aus Buchenwald und Dora zufolge wurde definitiv auch in anderen Lagern mit kranken Insassen so verfahren. Man schickte sie zum Sterben in sogenannte Erholungslager wie z. B. Bergen-Belsen.

Die größte und grausamste Maßnahme, bei der ich zugegen war, fand in den letzten Tagen des September 1944 statt. Sie hatte einen derart speziellen Verlauf, daß zahlreiche Kameraden sogar bezweifelten, daß es sich um eine Maßnahme handelte. Eines abends erschienen neue SS Leute im Lager, was immer ein schlechtes Zeichen war. Mitten in der Nacht ließen sie in zwei Blocks alle Insassen aufstehen und teilten sie in zwei Gruppen ein. Anschließend befahlen sie, wieder zu Bett zu gehen. In den folgenden Tagen wurden alle anderen Blocks außer dem Krankenbau der gleichen Verfahrensweise unterworfen. Als die ausgewählten Insassen weiter in ihren Blocks blieben und die Arbeit normal weiterlief, nahmen die Gerüchte innerhalb des Lagers ihren Lauf. Die Optimisten waren davon überzeugt, daß es sich um eine der unzähligen Zählungen handelte, die wir regelmäßig über uns ergehen lassen mußten, die Pessimisten waren sicher, daß diese unverständlichen Maßnahmen früher oder später in ein großes Massaker münden würden. Im Hospital rechnete man schon seit ungefähr vierzehn Tagen mit der Ankunft einer Kommission, und die Ärzte versuchten alles nur mögliche, um die Säle zu leeren. Dabei hatten sie den seit dem Prozeß in Lüneburg berühmten Lagerarzt Dr. Klein gegen sich, der zahlreiche Einweisungen für eine hinreichend lange Zeit verlängerte. Nun wurden wir von einem unerwarteten Schlag überrascht: Alle aus dem Hospital Entlassenen wurden ermordet, was vor allem die Pessimisten beunruhigte, von denen ich einer war. Die in den vergangenen Tagen ausgewählten Insassen wurden zum Appell gerufen und anschließend in Block 10, dem Quarantäneblock versammelt. Sie erhielten Marschverpflegung, und die Verantwortlichen versuchten die Nachricht zu lancieren, daß sie im Vorgriff auf die wegen der sich nähernden Russen (die derzeit bei Tarnov standen) vorgesehenen vollständigen Evakuierung in ein Lager mit weniger harten Bedingungen verbracht würden. Samstagabend wurden einige Entlassungen aus dem Hospital genehmigt. Jenen, die den Krankensaal verlassen durften, wurde aber nicht erlaubt, zu ihren angestammten Plätzen im Lager zurückzukehren, sondern sie wurden in den Quarantäneblock geschickt. Es folgten zwei Tage der Aufregung und des Abwartens. Dienstagabend, am 2. Oktober, verließ die Marschkolonne der Ausgewählten den Quarantäneblock und das Lager. Es ist uns nie gelungen, auch nur eine Spur irgendeines dieser Kameraden wiederzufinden, die mit diesem Transport abmarschierten, trotz der völlig widersprüchlichen Gerüchte, die über dessen Ziel im Lager kursierten und die wahrscheinlich von den Verantwortlichen lanciert worden waren. Kurz vor dem Abmarsch des Transports hatte man die Arier und die Facharbeiter einiger metallurgischer und labortechnischer Kommandos aus dem Zug herausgenommen. Aufgrund der ungewöhnlichen Verschwiegenheit der Insassen, die in der Wäscherei arbeiteten, erfuhren wir nicht, ob die Habe im Verlauf des Tages angeliefert wurde. Am Morgen des folgenden Tages folgte das entscheidende Ereignis dieser fürchterlichen Woche, das uns allen auch die letzten Zweifel nahm. Die Kranken, die länger als acht Tage im Hospital waren, waren am Vorabend nach Durchsicht der Karteikarten von der Kommission, die sich der Zentralregistratur bemächtigt hatte, selektiert worden. Jene Kranken wurden aufgerufen und ohne jede Vorbereitung, ohne Decken sogar, auf Lastwagen verladen. Binnen weniger Minuten war das Hospital leer. Wir brachten in Erfahrung, daß ihre Kleider bis zum Mittag zurückgeliefert worden waren.

Dieser Vorfall regt zu einigen Überlegungen an: Wußte der Lagerarzt, daß eine Kommission im Lager erscheinen würde und daß sie die Kranken nach der Dauer ihres Aufenthalts im Hospital selektieren würde, oder wußte er es nicht? Wenn er es nicht wußte, heißt das, daß die für das Lager Verantwortlichen nicht im voraus über die Ankunft von Spezialkommandos zur Vernichtung unterrichtet worden waren und daß die von den aus Berlin geschickten Schwadronen verrichtete fürchterliche Arbeit unabhängig von der Lagerverwaltung war. Das ist die Version, die der größte Teil der SS unter uns verbreitete, und ich kann nicht beurteilen, ob sie zutrifft oder nicht. Wenn der Lagerarzt wußte, daß und unter welchen Bedingungen eine Selektion stattfinden würde, sieht man sich mit einer monströsen Doppelzüngigkeit konfrontiert, weil der erwähnte Arzt unter den Insassen einen ausgezeichneten Ruf genoß. War der Transport, der im Quarantäneblock zusammengestellt worden war, ein Teil dieser Selektionsmaßnahme und wurde er sofort in den Gaskammern von Birkenau vernichtet? Es gibt allen Grund, das anzunehmen, obwohl wir niemals einen formalen Beweis dafür finden konnten. Jedenfalls war von keinem der Angehörigen dieses Transport jemals wieder ein Lebenszeichen zu verzeichnen. Im Zuge dieser Selektionsmaßnahme verschwanden mehrere Tausend Insassen auf Nimmerwiedersehen; ein Klima unglaublichen Schreckens beherrschte während mehrerer Tage Auschwitz I. Nach und nach kehrte wieder Ruhe ein. Dies um so mehr, als die Nachrichten über den Verlauf der verschiedenen Fronten, besonders der französischen, ausgezeichnet waren. - Soweit ich mich erinnern kann, fielen nur jüdische Insassen und Zigeuner größeren Selektions- und Vernichtungsmaßnahmen zum Opfer. Arier und Mischlinge wurden jeweils aus dem Kreis der Ausgewählten herausgenommen. Eines Tages verließ ein Konvoi tuberkulosekranker Arier das Lager nach einem Genesungslager. Von einigen von ihnen erhielten wir tatsächlich Nachricht.

Die Selektionen Ende September Anfang Oktober sollten die letzten sein, die in Auschwitz I stattfanden. Mitte Oktober brach eine Meuterei unter den Sonderkommandos an den Kaminen aus. Die Angehörigen dieses Kommandos wußten, daß sie zum Tode verdammt waren und ergriffen ihre letzte Chance, indem sie ihre Wärter ermordeten und versuchten, die Anlagen in Brand zu setzen. Dies geschah an einem Nachmittag. Alle Feuerwehrleute aus Auschwitz I (dort gab es eine Feuerwehr mit einer sehr modernen Ausrüstung) rückten in großer Hast nach Birkenau aus, und von diesen haben wir erfahren, was dort passierte. Der Brand konnte eingedämmt werden. Der größte Teil der Angehörigen des Sonderkommandos fiel den Maschinengewehren zum Opfer, aber eine kleine Zahl konnte entkommen. Möglicherweise gehören sie zu jenen, die der Welt die Gewißheit gegeben haben, daß es die Gaskammern und Krematorien von Birkenau gegeben hat. Diese Tatsache ist der Welt allerdings auch aus anderen Quellen bekannt, wie etwa durch den Augenzeugenbericht eines am 7. April 1944 aus Auschwitz geflohenen Offiziers, der im November 1944 von Executive Office of the War Refugee Board, Washington veröffentlicht wurde, oder durch die Radiosendungen der Alliierten, die einige unserer Kameraden heimlich im Lager empfangen konnten.

Nach dem Aufstand des Sonderkommandos wurden die Gaskammern und die Krematorien abgebaut und im Bauhof in demontiertem Zustand zwischengelagert, von wo sie nach Groß-Rosen gebracht werden sollten. Wahrscheinlich fand dieser Transport wegen des russischen Vormarschs nie statt; jedenfalls gab es in Groß-Rosen zum Zeitpunkt unserer Überführung dorthin nur ein wesentlich kleineres Krematorium und überhaupt keine Gaskammern. Die Verantwortlichen der SS ließen nur ein kleines Krematorium für den laufenden Bedarf in Birkenau in Betrieb. Wahrscheinlich war das alles, was die Russen im Januar 1945 von dieser riesigen Schmorpfanne noch vorgefunden haben, die Millionen menschlicher Wesen verschlungen hat und die jeden Gedanken der Lagerinsassen beherrschte. Die Massenvernichtungen bei der Ankunft, die ständige Furcht, eines Tages von einer Kommission geschnappt zu werden und in der Pfeife zu enden, war die Grundlage all unserer Handlungen. Welche Grenzen ich auch immer ziehe, welche Einschätzungen ich auch immer über die technischen Einrichtungen im Lager Auschwitz 1 abgebe, möge der Leser immer der Existenz der Gaskammern und der Millionen Gefangener gedenken, die in ihnen verschwunden sind.

Auschwitz I bestand aus 28 steinernen Blockbauten, die auf drei parallele Reihen verteilt waren und zwischen denen gepflasterte Straßen verliefen. Parallel zur langen Seite der rechteckigen Anlage führte eine dritte, mit Birken bepflanzte Straße, die Birkenallee, eine für die Häftlinge reservierte Promenade mit einem Randstreifen. Es gab dort sogar ein Schwimmbad unter freiem Himmel. Das ganze war umgeben von einer Betonmauer, an deren Innenseite mehrere Reihen Stacheldraht entlangführten, die unter Hochspannung standen. In festen Abständen standen Pfeiler mit Lampen, die zu Anbruch der Dunkelheit angeschaltet wurden und nur bei Fliegeralarm ausgeschaltet wurden. In die Mauer waren Wachtürme von imponierender Größe eingelassen, die mit Suchscheinwerfern und Maschinengewehren ausgestattet und Tag und Nacht von SS-Wachen besetzt waren. Das Areal, das diese Einfriedung, aus der das eigentliche Lager bestand, umfaßte, maß etwa 800 auf 400 Meter. Abgesehen von der Küche, dem Hospital und einigen Verwaltungsgebäuden, dienten die Blocks ausschließlich der Behausung der Gefangenen. Die vielen Dienste, Werkstätten, Lager und Außenstellen des Lagers befanden sich in mehr oder weniger großer Entfernung außerhalb der betonierten und elektrisch geladenen Umzäunung.

Jeder Wohnblock, aus Backstein gebaut und gekachelt, bestand aus einem Keller, dem Erdgeschoß, der ersten Etage und Mansarden. Wenn das Lager überbelegt war, wurden sämtliche Plätze eines Blocks genutzt, aber unter normalen Umständen wurden nur das Erdgeschoß und der erste Stock belegt. Das Erdgeschoß war im allgemeinen in kleine Schlafsäle unterteilt, die relativ privilegierten Gefangenen vorbehalten waren: Es fanden sich dort sowohl große und gut in Schuß gehaltene Waschbecken als auch Gemeinschaftstoiletten, die dem Stand der modernen Hygiene entsprachen. Jede Toilettenanlage stand unter der Aufsicht einer bestimmten Zahl von Gefangenen, von denen einer (Scheißmeister) speziell für die Sauberkeit verantwortlich war. Die Aufsicht über Waschräume und Toiletten war eine der Pflichten des Blockältesten, der für den Block verantwortlich war.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Problem der sanitären Anlagen, das bei Menschenansammlungen einen der wundesten Punkte in hygienischer Sicht darstellt, in Auschwitz I auf die sauberste, modernste und vernünftigste Weise gelöst war. Als Arzt wage ich es, auf diesem Standpunkt zu bestehen, wiewohl sich jemand, der noch nie etwas anderes als eine Privatwohnung erlebt hat, darüber möglicherweise sehr wundern mag. Das Leben und Überleben von Gefangenen in einem Konzentrationslager hängt viel weniger von generellen oder abstrakten Prinzipien schöner humanitärer Erklärungen ab, als von vernünftig konstruierten sanitären Anlagen und deren einwandfreier Wartung. Ich werde noch einmal anläßlich der Schilderung des Lagers in Groß-Rosen auf diesen Punkt zurückkommen, wo eben wegen der mangelhaften Hygiene in diesem Lager viele meiner Kameraden umkamen.

Die Schlafsäle konnten bis zu 1000 Gefangene aufnehmen, wobei denen im ersten Stock eine größere Bedeutung zukam, als denen im Erdgeschoß. Die Betten waren in Anlehnung an die in deutschen Kasernen gängigen Modelle konstruiert: Ein Holzrahmen mit drei Etagen, von denen jede mit einem Gefangenen belegt war. Zu Zeiten der Überbelegung und besonders im Quarantäneblock schliefen zeitweise zwei, drei oder sogar vier Häftlinge auf einer Matratze. Bei einigen Kommandos, bei denen es eine Nacht- und eine Tagschicht gab, wurde dasselbe Bett im Wechsel von zwei Gefangenen aus den beiden Schichten genutzt. Während der sogenannten normalen Zeiten hatte jeder Gefangene jedoch sein eigenes Bett, was in einem Konzentrationslager als eine der größten Gnaden betrachtet werden muß. Das Bettzeug bestand aus speziellen, mit Stroh oder Holzwolle gefüllten Säcken und zwei bis drei Decken. Bei einigen sehr privilegierten Kommandos konnte man sogar ein oder zwei Bettdecken bekommen.

Jeder Häftling war für die Instandhaltung seines Betts verantwortlich, und der Bettenbau war eine der mühsamsten Aufgaben für den Häftling, insbesondere für Neuankömmlinge, denen die Routine fehlte, ihr Bett schnell und ordentlich zu machen. Die Stuben wurden fast täglich von einem SS-Unteroffizier (Blockführer) inspiziert: Wenn ein Bett schlecht gemacht war, hatte darunter zuallererst der für den Block verantwortliche zu leiden (Blockältester). Dieser rächte sich bei den für die Stuben verantwortlichen Häftlingen (Stubenältester und Stubendienste), welche sich dann wiederum an dem Häftling schadlos hielten, dem das Bett gehörte. Der Bettenbau, unmittelbar nach dem Aufstehen, war eine essentielle Verrichtung, und jede Nachlässigkeit in dieser Hinsicht konnte Mißhandlungen nach sich ziehen oder die Überstellung in ein anderes Kommando bedeuten. Im Extremfall konnte die Vernachlässigung des Bettenbaus den Gefangenen sogar der Gefahr des Todes aussetzen. Die Frage des Bettenbaus war also eine unserer großen Sorgen. Wenn wir beim Abendappell erfuhren, daß in unserer Stube eine gewisse Anzahl an Betten beanstandet worden war, machten wir uns normalerweise auf nichts Gutes gefaßt. Das konnte eine Kürzung der Rationen bedeuten, es konnte auch bedeuten, daß eine Reihe unserer Kameraden in schlechte Kommandos zurückgeschickt würde. Um solchen Ärger zu vermeiden, arrangierten es die intelligenteren Stubenältesten so, daß sie jene auswählten, die am geschicktesten darin waren, ihre Betten nach den festgelegten Regeln zu bauen, und wiesen ihnen die Betten der mittleren Etage zu, welche üblicherweise als einzige anläßlich der kurzen Inspektionen der Stuben begutachtet wurden, weil sie dem freien Blick zugänglich waren. Eine weitere Schikane, die sicher von großer Bedeutung war und zu Zeiten unerträglich werden konnte, war die der persönlichen Körperpflege. Die Waschräume waren sehr groß (es gab dort manchmal bis zu 100 Waschbecken) und so gut ausgebaut, daß jeder morgens die Möglichkeit hatte, sich vollständig zu waschen. Jeder Häftling erhielt in regelmäßigen Abständen ein Stück Seife und ein Handtuch, und es gab genügend Zahnbürsten im Lager, so daß jeder sich mit ein wenig Verschlagenheit eine besorgen konnte. Schließlich bestand der große Ehrgeiz darin, sei es für sich allein oder in kleinen Gruppen, sich Rasierzeug zu besorgen, um nicht mehr auf die Kollektivrasur angewiesen zu sein, die drei, zwei, mindestens aber einmal pro Woche stattfand. Das ist wieder eine Sache, wo ich ein wenig auf Einzelheiten eingehen will, die an und für sich recht unwichtig erscheinen mögen. Ich kann jedoch versichern, daß das Überleben im Lager Auschwitz zu einem guten Teil davon abhing, gut rasiert zu sein. Ein Mehrtagebart stempelte einen sehr schnell zu einem geschwächten Individuum und zog so die böswillige Aufmerksamkeit der Kapos und der SS an. Gut rasiert zu sein war in den Augen unserer Bewacher ein Hinweis darauf, daß wir den Willen hatten, uns zu verteidigen. Darüber hinaus war der Eindruck von Sauberkeit, den wir trotz unserer elenden Lage erwecken mußten, ein absolutes Muß für unser geistiges und körperliches Gleichgewicht. Ein Spruch, den ich von einem meiner besten Kameraden unmittelbar nach der Ankunft zu hören bekam, brachte es auf den Punkt: »Ein unrasiertes Gesicht zieht die Backpfeifen an«. Und eine Backpfeife in Auschwitz konnte den Tod bedeuten, sei es gleich oder später.

Eine der böswilligsten Schikanen bestand in der nächtlichen Inspektion der Füße. Der Blockchef schlich sich in die Stuben, hob die Decken an und untersuchte unter Zuhilfenahme einer Taschenlampe die Füße. Wehe dem, der schmutzige Füße hatte. Er wurde aus dem Bett gescheucht und gezwungen, sich sofort im Waschraum die Füße zu waschen. Es muß wohl nicht eigens betont werden, daß es besser war, sich nicht die Mißgunst des Blockältesten zuzuziehen. Pech auch für den, der sich aus Mangel an Sorgfalt Hauterkrankungen an den Füßen zugezogen hatte: Man ließ ihn ins Hospital einweisen, und so konnte er leicht Opfer einer Selektion werden.

Das Problem der Fußhygiene wirft die Frage nach dem Schuhwerk auf. Theoretisch konnten wir die Lagerschuhe mit Holzsohlen tragen. In der Praxis ließ man uns zumindest zu meiner Zeit die Schuhe, die wir bei der Ankunft getragen hatten. Allerdings gab es einige russische und polnische Gefangene, die - weil in diesem Handwerk spezialisiert - Neuankömmlingen sehr schnell die Schuhe stahlen und mit diesen einen schwunghaften Handel betrieben. Das Lager quoll über mit Schuhen der bei der Ankunft Verschwundenen. Es war kein Problem, von Kameraden, die im Lager arbeiteten, ein Paar Schuhe - oft allerbester Qualität - zu bekommen. So kam es zu der paradoxen Situation, daß trotz des Verbots, Lederschuhe mit flexiblen Sohlen zu tragen, jedermann in Auschwitz I dies tat. Die vom Lagerreglement vorgesehenen Holzschuhe wurden nur beim Abgang von Transporten, bei größeren Arbeitseinsätzen und von jenen getragen, die nicht begriffen hatten, daß ein gutes Paar Schuhe ihnen das Leben retten konnte. Man durfte auf keinen Fall vergessen, sie während der Nacht im Kopfbereich unter der Matratze aufzubewahren. Wenn man sich am anderen Morgen aufgrund eines Diebstahls seiner Schuhe beraubt sah, konnte das schlimme Schwierigkeiten nach sich ziehen. Noch paradoxer war, daß die SS von jenen, die im Besitz von Lederschuhen waren, eine akribische Lederpflege verlangte. Jede Stube wurde mit Putzzeug bestückt und wehe dem, der anläßlich des Appells oder des Ausmarsches dadurch auffiel, daß er schmutzige Schuhe hatte. Ich glaube, ich übertreibe wiederum nicht, wenn ich sage, daß in der Rangordnung der Punkte, die ein Gefangener zum Überleben beachten mußte, ein sauber rasiertes Gesicht und peinlich saubere Schuhe am meisten zählten. Die Persönlichkeit des Gefangenen spielte eine geringere Rolle, und das galt unter den Gefangenen selbst ebenso wie im Verhältnis zwischen den Gefangenen und der SS.

Einige Blocks waren speziell ausgestattet und dienten nicht zu Wohnzwecken. Da gab es die Krankenblocks, die ich später detailliert beschreiben werde. Block 24, dessen Erdgeschoß aus einem einzigen großen Übungsraum für das Lagerorchester bestand, war in der ersten Etage in Stuben für die Freudenmädchen unterteilt. Der erste Stock des Blocks 2, bei meiner Ankunft noch der Quarantäneblock, wurde später in einen Saal für Kabarett-, Kino- und Konzertvorführungen umgebaut.

Block 11 war das Lagergefängnis (Bunker) und eigens für diesen Zweck hergerichtet. Er konnte bis zu 1200 Häftlinge aufnehmen: Lagergefangene, die wegen verschiedener Vergehen eingekerkert wurden, sowie Zivilisten aus der Umgebung, von denen ein guter Teil polnische Patrioten waren. Block 11 war durch einen vollständig geschlossenen Laufgang mit Block 10 verbunden, wo sich jene schwarze Mauer befand, die lange Zeit als Hinrichtungsstelle des Lagers diente. Zu meiner Zeit wurde sie nicht mehr zu diesem Zweck benutzt. Eines Tages konnte ich allerdings aus einem Fenster in Block 21 beobachten, wie man eine Reihe von Zivilisten in den berühmten Vergasungswagen verlud. Dieser Wagen, über den lang und breit in verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen diskutiert worden ist, war ein sehr großer Lastwagen mit geschlossener Ladefläche, an dem hinten ein Gasgenerator von völlig ungewöhnlicher Größe angebracht war. Den Erzählungen zahlreicher polnischer Kameraden zufolge brachte eine spezielle Einrichtung die Gefangenen während der Fahrt zur Erstickung, woraufhin man sie im Krematorium ablieferte.

In Block 25 fand sich die Kantine, ein großer Laden, in dem man Tabak, Zigaretten und anfangs Bücher (die wurden später in zunehmendem Maße rationiert) kaufen konnte. Es gab dort auch bestimmte Toilettenartikel. Den am längsten internierten Kameraden zufolge war dieser Laden jedoch in früheren Zeiten besser bestückt gewesen. Auf demselben Flur befanden sich ein paar Büros der politischen Polizei des Lagers, die kein einbestellter Häftling jemals anders als in äußerster Beunruhigung aufsuchte. Der SS Offizier, der es leitete, trug lange Zeit den vielversprechenden Titel »Reichsbeistand für Häftlinge«.

Der Block 10 war für lange Monate der Block, in dem die Freudenmädchen untergebracht waren. Später wurden diese nach dem Quarantäneblock verlegt.

Zwischen Block 1 und 2 gab es eine mit Duschen ausgestattete Baracke, mit der es eine besondere Bewandtnis hatte: Sie war Tag und Nacht benutzbar, für die Neuankömmlinge ebenso wie für die obligatorischen Gruppen- oder Einzelduschtermine, die mindestens einmal pro Woche einzuhalten jeder Gefangene verpflichtet war. Sie wurde auch für Entlausungsaktionen benutzt, obgleich dafür in zunehmendem Maß auf eine modernere Anlage für die Entlausung mittels Kurzwellen außerhalb des Lagers zurückgegriffen wurde. Die Kontrollen der Einhaltung der Duschtermine waren strikt. Einer meiner Kameraden, der es allem Anschein nach nicht mochte, sich öffentlich nackt zu zeigen und der, wie jeder wußte, wasserscheu war, wurde eines Abends beim Appell aus der Reihe genommen und als warnendes Beispiel sofort unter die Dusche getrieben. Es handelte sich um einen reichsdeutschen Arier. Wenn er anderer Nationalität oder Jude gewesen wäre, hätte dieses Zwischenspiel sicherlich ein wesentlich schlechteres Ende genommen. Jenseits von Block 24, am äußersten Rand der zwölften Blockreihe, befand sich eine sehr modern ausgestattete Wäscherei, die im Wechselschichtbetrieb Tag und Nacht arbeitete.

Dort wurde die Wäsche und die Bekleidung der Gefangenen , die in regelmäßigen Abständen erneuert wurde, gewaschen. Wenn jemand darauf aus war, seine Sachen zu behalten, die durch die Macht der Gewohnheit zu seinem Eigentum geworden waren, mußte er einen Gefangenen kennen, der in der Wäscherei arbeitete. Der warf dann ein Auge auf die Wäschebündel und gab jedem seine eigenen Sachen unverändert oder ausgebessert wieder zurück. Mit dieser leicht zu realisierenden Strategie war es möglich, die bei der Ankunft erhaltenen Lumpen sukzessive durch angemessene Sachen zu ersetzen. Die Kleidung war auch von hohem Wert für die unmittelbare Sicherheit eines Gefangenen. In Auschwitz I wurde fast ohne Ausnahme gestreifte Kleidung getragen, aber es gab große Unterschiede in der Qualität der Stoffe und in Schnitt und Erhaltungszustand der Anzüge. Der große Ehrgeiz eines jeden Gefangenen bestand darin, daß es ihm so schnell wie möglich gelingen möge, den Habitus dessen abzustreifen, was man in französischen Kasernen »den Blauen« nennt, um auf diese Weise den Schlägen, Schikanen und Gemeinheiten zu entgehen, denen die Niedrigsten in jeder menschlichen Gemeinschaft ausgesetzt sind. Das erreichte man am leichtesten, indem man sich möglichst wenig hervortat und beim Versuch, es nach und nach zu einer ansehnlicheren und saubereren äußeren Erscheinung zu bringen, nicht zu Gemeinheiten griff. Anhand einer Besonderheit sei demonstriert, welche Blüten die Eitelkeit trieb. Es gab geringfügige Unterscheide in der Qualität der Ausführung der vorgeschriebenen persönlichen Kennzeichen. Der Neuankömmling erhielt grelle, schlecht genähte Abzeichen mit schlampiger Beschriftung. Der alteingesessene Gefangene hatte dagegen kleine Abzeichen, die kunstvoll bedruckt (es gab eine Druckerei in Auschwitz) oder gar von Hand gemalt und wenn möglich mit einer Maschine genäht waren. Seine Überlebenschancen und seine Erscheinung änderten sich in gleichem Maße.

Die von der Lagerleitung vorgesehenen und sowohl von der SS als auch von den Gefangenen selbst aus Angst vor Mißhandlungen penibel beachteten Hygienemaßnahmen stellten einen allgemeinen hygienischen Standard sicher, der nicht viel zu wünschen übrig ließ. Während der Zeit, die ich in Auschwitz verbracht habe, war die Zahl der Insassen mit Läusen sehr gering. Jene, derer die Hausaufsicht habhaft werden konnte, waren in der Lagergemeinschaft allgemein bekannt und sahen sich auf der Stelle übelmeinenden und heftigen Bemerkungen ausgesetzt. Die Entdeckung einer Laus zog die Entlausung einer einzelnen Stube oder eines ganzen Blocks nach sich. Wenn unglücklicherweise mehrere Insassen mit Läusen angetroffen wurden, bedeutete das die Entlausung einer ganzen Gruppe von Blocks bis hin zum ganzen Lager. Läuse stellen eine entsetzliche Bedrohung für jede menschliche Gemeinschaft dar, die auf engem Raum zusammengepfercht ist. In Auschwitz wurde überall mit Schildern und Anschlägen in mehreren Sprachen und mit unmißverständlichen Sinnbildern daran erinnert: »Die Laus ist der Tod«. Es ist überflüssig, an dieser Stelle näher auf die Rolle der Laus bei der Übertragung infektiöser Krankheiten - insbesondere des Fleckfiebers - einzugehen. Die Entdeckung einer Laus gab Anlaß für eine Untersuchung der individuellen Sorgfalt der Körperpflege eines Gefangenen und der Herkunft der Kleidung, die er am Leib trug. Wurde eine Entlausung angeordnet, so führte das zu großer Wut unter denjenigen, die sich dieser Maßnahme unterziehen mußten. Diese Maßnahmen waren recht gefürchtet, besonders im Winter. Das rege Interesse der Gefangenen in einem solch mißliebigen Fall galt der Klärung der Frage, ob man eine Entlausung mit Kurzwellen durchführen würde. In diesem Fall fand die gesamte Prozedur in einem geschlossenen und geheizten Raum statt. Die Kleidungsstücke kamen in trockenem Zustand aus der Apparatur und wurden den Gefangenen so ausgehändigt. Wenn die Entlausung in den alten Duschen durchgeführt wurde, wurde die Kleidung den nackt zwischen den Blocks stundenlang darauf wartenden Gefangenen in feuchtem Zustand zurückgebracht. Trockene oder feuchte Entlausung? Das war eine Frage von großer Bedeutung, was immer auch inkompetente Journalisten gedacht haben mögen, die bei verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen dabei sein durften. Denn der Fund einer Laus und die daraufhin ergriffenen drakonischen Hygiene-Maßnahmen konnten auf diese Weise den Tod von Kameraden aufgrund einer Lungenentzündung bedeuten!

In Auschwitz I herrschte also ein richtiggehender Reinlichkeitswahn. Die sanitäre Organisation entsprach den modernsten Erkenntnissen der Hygiene. Um das eventuelle Erstaunen der Leser dieser Zeilen zu mildern, erinnere ich aber daran, daß dies für die Lager in der Umgebung nicht in dieser Perfektion galt. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß all diese sanitären Maßnahmen nicht aus Fürsorge für die Gefangenen getroffen wurden, sondern daß dort im großen Maßstab Versuche über die Auswirkungen von Hygienemaßnahmen durchgeführt wurden. Darüber hinaus waren sämtliche Bauten des Lagers von Gefangenen errichtet worden, und es ist möglicherweise nicht übertrieben, wenn man es so formuliert, wie es eines Tages der Lagerälteste des Krankenblocks ausdrückte: »Jeder Backstein dieser Gebäude entspricht der Vernichtung eines menschlichen Lebens«. Denn außer dem Tod durch Mißhandlungen, durch Entkräftung und durch Krankheiten versah in nur vier Kilometern Entfernung von diesen so perfekten sanitären Einrichtungen dieses so sauberen Lagers eine andere Maschinerie von sehr hohem Entwicklungsstand ihren Dienst: Die Pfeife, die an manchen Tagen Tausende von Deportierten vernichtete.

Bevor ich zur Beschreibung der Arbeit und der Beschäftigungen übergehe, mit denen die Gefangenen im Lager betraut wurden, ist es notwendig, einige Hinweise zu der Einteilung der Gefangenen in Klassen zu geben. Um das tun zu können, müssen wir uns in Gedanken zu den ersten Stunden nach der Ankunft zurückbegeben. Ich habe schon geschildert, wie wir aller unseres persönlichen Besitzes beraubt worden waren, einschließlich unserer Papiere, die vernichtet wurden. Am folgenden Morgen wurden wir in unseren Stuben der Prozedur der Registrierung unterworfen. Schreiber füllten gemäß unserer Angaben detaillierteste Formulare aus, in denen wir vollständige Angaben zu unserem Zivilstand machen mußten. Irgendeine Korrektur war danach nicht mehr möglich, und es fehlte nicht an falschen Angaben. Die Neuankömmlinge hatten sich jedoch eine gewisse Treuherzigkeit bewahrt und wußten nichts über die Diskriminierungen, denen man schließlich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer Rasse ausgesetzt werden würde, weshalb sie samt und sonders korrekte Angaben machten. Es war auch bekannt, daß man sich vor Spitzeleien und Denunziationen in acht nehmen mußte. Die Rubrik »Beruf« erforderte reifliche Überlegung. Ich hatte vorausgesehen, daß es sicher nicht an Ärzten mangelte. Alleine in meinem Konvoi gab es 10 davon. Ich habe einen Moment gezögert angesichts der Bäckerei, die ich bei unserer Ankunft gesehen hatte mit dem Gedanken gespielt, ob ich mich nicht als Bäcker ausgeben sollte. Dieser Beruf war mir sehr vertraut, weil ich in einer Bäckerei aufgewachsen bin. Im letzten Moment habe ich mich dann für den Arzt entschieden, allerdings ohne mein Spezialgebiet zu nennen. Ich durfte mir sicher sein, daß man nicht eben auf einen Histologen warten würde! Später wurde mein Spezialgebiet erkannt und führte zu meinem Einsatz im Labor von Raisko, wo ich bis zum Ende meines Aufenthalts in Auschwitz blieb. Viele meiner Kameraden waren intelligent genug, einen falschen handwerklichen Beruf anzugeben, den sie mehr oder weniger beherrschten. Einigen von ihnen brachte das schließlich die Verwendung in den Fabriken oder in den Werkstätten ein und ersparte ihnen so die Arbeit in den schlechten Kommandos, die beim Erdbau oder beim Transport eingesetzt wurden.

Der Papierkrieg der Verwaltung nahm in Auschwitz I breiten Raum ein. Für jeden Gefangenen gab es mehrere Karteikarten, die ihren Platz in einer imposanten Kartothek hatten: Die Gesundheitskarte, geführt für das Hospital, die Korrespondenzkarte, die zur Paketstelle ging und die für die meisten von uns ein unbeschriebenes Blatt blieb, eine weitere Karte, die an die Politische Abteilung (Lager-Gestapo) ging und zu guter Letzt der allgemeine Registrierungsbogen. Bei der Erstellung all dieser Karten erhielt jeder von uns eine Registriernummer, meine war A-11.953, die auf den linken Unterarm tätowiert werden mußte. Die Tätowierung selbst, von darauf spezialisierten Gefangenen mittels spezieller Federhalter durchgeführt, war eine schmerzlose Angelegenheit, der dadurch verursachte psychische Zustand war allerdings schrecklich. Von diesem Moment an waren wir auf die Ebene eines numerierten Objekts herabgestuft worden. Wir waren Gefangene, die offizielle Bezeichnung war »Häftlinge«. Jeder Gefangene war verpflichtet, zwei Stoffetiketten mit der Registriernummer und dem Dreieck zu tragen, das schon von weitem die Kategorie erkennen ließ. Sie mußten auf der linken Seite der Jacke und auf dem rechten Hosenbein angebracht sein. Die Gefangenen wurden in fünf Kategorien eingeteilt: 1. politische Arier: rotes Dreieck, nach unten weisend; 2. gewöhnliche Verbrecher: gelbes Dreieck; 3. Homosexuelle: rosa Dreieck; 4. Asoziale: schwarzes Dreieck; 5. Zeugen Jehovas: violettes Dreieck. Die Juden wurden mit mehreren unterschiedlichen Zeichen versehen; ihre Tätowierung enthielt ein besonderes Kennzeichen, sei es ein Dreieck oder ein Buchstabe. Auf ihren Stoffetiketten war der Davidsstern abgebildet: ein rotes Dreieck, das nach oben zeigte sowie ein gelbes nach unten weisendes Dreieck, von dem man nur die Ecken sah. Während langer Monate mußten die Juden zusätzlich dazu noch ein nach unten zeigendes gelbes Dreieck unterhalb ihrer sonstigen Kennzeichen tragen. Danach wurde dieses Kennzeichen abgeschafft und durch das nach unten weisende Dreieck der Politischen mit einem sehr dünnen gelben Balken darunter ersetzt.

Diese Details waren für das zukünftige Leben eines Gefangenen von einer herausragenden Bedeutung, weil diese Kennzeichen unter allen Umständen auf den ersten Blick erkennen ließen, welcher Kategorie man angehörte. Es muß nicht eigens betont werden, daß die Maßnahmen, die von den Verantwortlichen des Lagers angeordnet wurden, in Abhängigkeit von der Kategorie eines Gefangenen sehr unterschiedlich waren. Einem Reichsdeutschen mit einem grünen Dreieck war alles erlaubt, einem Franzosen mit einem roten Dreieck weniger, einem Juden gar nichts. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß trotz der sehr vage gehaltenen Unterscheidung zwischen dem, was erlaubt war und was nicht, schon eine noch so geringfügige Verfehlung zum Tod führen konnte.

Einige Worte über die verwaltungstechnische Organisation des Lagers. Es gab etwas, das man eine externe Verwaltung nennen könnte. An deren Spitze stand ein Major der SS, dem eine ganze Reihe von Dienstgraden unterstanden: Lagerführer, Lagerkommandant, Rapportführer und die Blockführer, von denen es verschiedene Dienstränge vom Sturmbannführer bis zum Rottenführer gab. In der medizinischen Hierarchie gab es den Standortarzt, einen Lagerarzt, Sanitätsdienstgehilfen, von den anderen hochtrabenden Titeln, die das SS Personal in anderen Diensten führte, ganz zu schweigen (z. B. »Rechtsbeistand für Häftlinge«). Wenn man sich an diese Herren wandte, war es stets vorteilhaft, ihre Titel zu kennen und richtig anzuwenden.

Neben der SS-Verwaltung gab es dann noch etwas, das man die interne Verwaltung des Lagers nennen könnte. Sie war vollständig mit Gefangenen besetzt, an ihrer Spitze standen je ein Lagerältester für das Lager und einer für den Krankenbau. Den Lagerältesten unterstanden die Blockältesten, die jeweils die Verantwortung für einen Block trugen. Ihnen war ein Blockschreiber beigeordnet. Die für die Posten in dieser Verwaltungshierarchie benutzten Titel wurden von den Offizieren der SS vor Ort festgelegt. Aus diesem Grund wechselten die Namen der von den Gefangenen ausgeübten Ämter häufig. Es war nicht leicht, Kontakte zwischen den SS-Leuten und den Gefangenen zu knüpfen. Denn für letztere war es ebenso leicht möglich, früher oder später einen ihrer Vorgesetzten zu stürzen, wie es für die SS-Leute kein Problem war, diese ohne jede Vorankündigung abzusetzen. Wie erwähnt, waren die Posten der internen Verwaltung ausschließlich mit Häftlingen besetzt. Jede Entscheidung von einiger Bedeutung, insbesondere die Zuweisung zu Arbeitskommandos, mußte jedoch zwingend von irgendeiner Dienststelle der SS bestätigt werden. Einer der wichtigsten Dienste war der Arbeitsdienst, der für die Zuweisung der Gefangenen zu den Kommandos gemäß deren Bedarf an Arbeitskräften und den Qualifikationen der Gefangenen zuständig war. Er hatte die furchtbare Macht, einzelne Gefangene zu versetzen, ihnen den Status eines Facharbeiters zuzubilligen und sie sogar fest bei einer Stelle einzusetzen. Jedes Arbeitskommando wurde von einem Kapo angeführt, dem ein oder mehrere Unterkapos und Vorarbeiter unterstanden. Darunter war das Heer der gewöhnlichen gefangenen Arbeiter angesiedelt. Im Hinblick auf die Schwächen der menschlichen Natur war dieses ganze System auf eine bewundernswerte Weise darauf ausgerichtet, dem übelsten Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen Instanzen, dem schlimmsten Machtmißbrauch und einem Klima ständiger Angst Vorschub zu leisten.

Eigentlich sollte die Arbeit nach der Leistungsfähigkeit und dem Können jedes einzelnen vergeben werden, in der Praxis wurde das allerdings nur sehr selten so gehandhabt. In Auschwitz gab es keine Invalidenblocks, da die Behinderten schon bei den Selektionen direkt nach der Ankunft oder bei späteren Selektionen ermordet wurden. Ich habe in Auschwitz nur zwei dauerhaft Arbeitsunfähige gekannt. Es waren zwei Kameraden, die bei einer Bombardierung des Lagers erblindet waren und denen die SS-Leitung ein sicheres Leben und Befreiung von der Arbeitspflicht zugesagt hatte.

Es gab zahlreiche sehr verschiedene Kommandos, und ich kann hier nur einige Beispiele erwähnen. Am auffallendsten war die ungerechte Verteilung sei es der Art der Arbeit oder der Arbeitszeiten in den verschiedenen Kommandos und sogar innerhalb der Kommandos selbst, je nach der Stellung, die ein Gefangener einnahm. Es ist nicht möglich, die Arbeit im Tiefbau, beim Transport von Balken oder Schienen (wozu ich in der ersten Zeit meines Aufenthalts in Auschwitz eingesetzt war) in irgendeiner Weise mit dem Verpacken von Medikamenten in der Apotheke oder dem Anfertigen von histologischen Präparaten (womit ich mich schließlich im Labor von Raisko beschäftigte) zu vergleichen. Die »Scheißkommandos«, die schlechten Kommandos also, umfaßten Planierarbeiten, Bau und Tiefbau, Sanierungsmaßnahmen und die Arbeit in der Landwirtschaft. Die guten Kommandos waren die in den Gruben, in den mechanischen Reparaturwerkstätten, in der Bäckerei, in der Schlachterei, den Selektions-DepotsCanadas«), Posten in der Verwaltung und vor allen Dingen im Hospital. Aber auch innerhalb eines bestimmten Kommandos gab es wiederum große Unterschiede. Selbst in den schlimmsten gab es gute Posten und in den besten unerträgliche. In der unglücklichsten Lage waren die Gefangenen ohne Berufsausbildung oder besondere Fähigkeiten, da es nicht möglich war, ihnen eine Tätigkeit zuzuweisen, für die sie von ihrem Beruf her geeignet erschienen. Deren Zahl war Legion. Jene, die handwerkliches Geschick besaßen, konnten mit etwas Glück darauf hoffen, in einer Werkstatt oder in einem der Betriebe eingesetzt zu werden. Gefangene mit Fremdsprachenkenntnissen gelang es früher oder später, eine bessere Stellung zu ergattern, wenn sie nicht ausgesprochenes Pech hatten. Dabei war es nicht von Bedeutung, mit Titeln oder Diplomen aufwarten zu können. Man beurteilte die Gefangenen mehr nach ihrer Fähigkeit, sich an verschiedene Arbeitsfelder anzupassen, nach ihrem Kameradschaftsgeist, sowie nach ihrer Leistungsbereitschaft im Arbeitsdienst und ihrer Verschlagenheit. Mit Geduld und Umsicht konnte man es zu einem dauerhaften Posten bringen, man war dann »eingesetzt«. Manchmal sogar mit dem vielbeneideten Titel eines »Facharbeiters«, der - von den allgegenwärtigen Unwägbarkeiten abgesehen - einen gewissen Schutz vor Transporten und Selektionen gewährte.

Ich werde erst einige wichtige Kommandos vorstellen, in denen ich nicht gearbeitet habe und die ich daher nur aus Erzählungen kenne. Das Kommando Union arbeitete in einer Fabrik, die zum Krupp-Konzern gehörte. Dort wurde rund um die Uhr Munition mittleren und großen Kalibers gefertigt. Die Schichten waren sehr lang, aber die dort beschäftigten Gefangenen wurden als Facharbeiter angesehen. Darüber hinaus hatten sie einerseits Kontakt zu weiblichen Gefangenen, die aus Birkenau kamen, andererseits zu deutschen Zivilisten, die dort arbeiteten. Schließlich bekamen sie umfangreiche Zuschläge bei der Verpflegung und hatten vielfältige Möglichkeiten zum »Organisieren«, also zum Diebstahl. Ein weiteres großes Kommando arbeitete bei den D. A. W., den Deutschen Ausrüstungswerken. Dort wurden Tischlerei-, Schreinerei- und Baubedarfsartikel hergestellt: Fensterrahmen, Schemel, Tische und Schränke für die Vertriebenen- und Gefangenenlager sowie für die ausgebombte deutsche Zivilbevölkerung. Viele Gefangene waren auch mit Pflanzarbeiten in der Gärtnerei von Raisko beschäftigt. Dort wurden im großen Stil Futterpflanzen, Gemüse und sogar Gummibäume angebaut. Es gab dort riesige Gewächshäuser. Die Mechaniker bei den »Fahrbereitschaften« hatten gute Posten in den Autowerkstätten, wo in Wechselschichten die Fahrzeuge der SS repariert wurden. Wegen der guten Verpflegung, die man dort erhielt, waren auch Posten als Zimmerdiener und Handlanger in den Kasernen der SS sehr gefragt. Schneider und Schuhmacher wurden Spezialkommandos zugeteilt, die die Kleidung der Gefangenen und der SS nähten und flickten. Die Schlachterei, die Wurstfabrik und die Bäckerei boten sehr begehrte Kommandos, denn die dort beschäftigten Gefangenen waren in jeder Hinsicht bevorzugt. Während diese Stellen lange Zeit ausschließlich mit Polen besetzt waren, wurden sie ab Oktober 1944 an Franzosen vergeben, was den anderen französischen Gefangenen sehr zum Vorteil gereichte. So überraschend das erscheinen mag: Die Müllabfuhr war ein sehr gefragter Posten. Die wahren Ringeltauben unter den Kommandos waren jedoch Posten im Architekturbüro, in der Apotheke der SS, in der Waffenfabrik, bei der Schädlingsbekämpfung, welcher die Kurzwellenentlausungsanlage angeschlossen war, bei der Entseuchung, in der Kleiderkammer, auf der Post und schließlich alle Stellen in der Verwaltung, wobei jenen beim Arbeitsdienst die weiter oben erwähnte besondere besondere Bedeutung zukam.

Neben diesen guten Kommandos, bei denen sich die Gefangenen nicht körperlich ruinierten, gab es schlechte Kommandos, in denen sich das gewaltige Heer jener Gefangenen abrackerte, die über keine besonderen Qualifikationen verfügten. Die verschiedenen Abteilungen des Straßenbaus waren für Erdarbeiten jeder Art vorgesehen, für den Bau von Straßen, Schwimmbädern und Flußbegradigungen. Das berühmte Kommando Hufa, dessen Aufgabe im Bau eines riesigen Wasserzuleitungsrohrs aus Beton bestand, war von der gleichen Qualität. Man hat mir erzählt, daß dieses Rohr der Versorgung des neuen Kraftwerks von Auschwitz dienen sollte, das gerade unmittelbar neben dem Lager gebaut wurde. Das schlimmste Kommando schließlich, das als Straf- und Vernichtungskommando galt, war das Faulgaskommando, das in der Theorie für Kanalarbeiten vorgesehen war. Ich habe nie begriffen, was für Arbeiten das eigentlich sein sollten, jedenfalls hatte ein Gefangener, der der Unterabteilung Strafkompanie dieses Kommandos zugewiesen wurde, nicht mehr lange zu leben. Ich werde nicht mehr auf das Sonderkommando eingehen, das mit den Vergasungen beschäftigt war. Die Angehörigen dieses Kommandos führten im Lager ein völlig isoliertes Leben außerhalb des Lagers Birkenau und sie wurden in regelmäßigen Abständen vernichtet. Einige kleinere Kommandos, die sich ganz harmlos anhörten, waren in Wirklichkeit sehr gefährlich. Etwa das Kartoffelschälerkommando, wo man alte Männer unterbrachte, die zu sonst nichts mehr zu brauchen waren und die durch irgend ein Wunder die Selektion bei der Ankunft überstanden hatten. Eines Nachts wurde dieses gesamte Kommando zum Appell bestellt und verschwand, ohne daß wir jemals wieder irgend etwas von den Kameraden zu hören bekamen. Allerdings hatte dieses Pseudokommando aus Invaliden keinerlei Ähnlichkeit mit jenen, die es in Buchenwald gegeben hat.

Die Arbeit in einem Kommando war in der Realität in erster Linie von den SS-Wachen, den Kapos und den Vorarbeitern abhängig, welche die Aufsicht führten. Die meisten Kapos, fast alle Träger grüner Dreiecke, waren brutale Unmenschen, die in der ständigen Furcht lebten, man könne ihnen ihren Posten entziehen. Sie zögerten daher nicht, Strafen zu verhängen, sich bösester Gemeinheiten zu bedienen und die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Es gab allerdings unter ihnen und auch bei den Wachen der SS einige, die sich menschlich verhielten und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemühten, den Häftlingen die abverlangte Arbeit zu erleichtern. Während der kurzen Zeit, während derer ich auf dem Bauhof, dem Holzhof, bei der Hufa und bei den Straßenkehrern des Lagers gearbeitet habe, habe ich sowohl die schlimmsten Rohlinge erlebt, als auch Aufseher, die die Arbeit erträglich hielten. Jedes Kommando, auch das allerschlimmste, konnte erträglich werden, wenn es der Gefangene nur verstand, sich dort anzupassen und seinen Platz zu finden. Umgekehrt konnte auch ein gutes Kommando die physische Belastbarkeit eines Gefangenen zeitweise auf eine harte Probe stellen. Ich will hier nur ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung schildern. Zu der Zeit, als ich in der Apotheke eingesetzt war, mußte ich bei der Entladung von Waggons mit Medikamenten mitarbeiten. Es handelte sich um Paletten und sehr schwere Kisten, sowie um Metallkanister mit Antiseptika, die sich nur sehr schwer rollen ließen. Das Entladen mußte in sehr kurzer Zeit erledigt werden und man durfte sich dieser Plackerei nicht entziehen, um die Kameraden nicht zu reizen und den Eindruck zu vermeiden, man wäre einer solchen Arbeit körperlich nicht gewachsen.

Zusätzlich zu der Arbeit, zu der jeder Gefangene verpflichtet war, konnte man für andere Kameraden einspringen, die dafür mit Lebensmitteln bezahlten. So konnte man sich eine tägliche Extraportion verdienen, ohne die kein Gefangener überleben konnte. Hier komme ich zu einem der wichtigsten Punkte überhaupt: Der Frage unserer Ernährung.

Die Verpflegung im Lager bestand aus drei Mahlzeiten. Morgens gab es einen Viertelliter Kaffee (!), der drei oder viermal in der Woche sogar gezuckert war. Mittags gab es eine Suppe, ein Art Eintopfgericht aus den verschiedensten Zutaten: Margarine, Getreide, Gemüse, Wurzeln, Kartoffeln, Nüsse, Pflaumen und manchmal sogar Fleischabfälle. Das am häufigsten benutzte Gemüse war Weiß- oder Grünkohl, der aus den weitläufigen Ländereien des Lagers kam. Die Qualität dieser Suppe schwankte sehr stark, von einem Tag zum anderen und auch innerhalb der verschiedenen Kommandos. Das lag daran, daß die Zutaten, die gemäß der Weisung der Lagerleitung für die Anfertigung benutzt werden sollten, von den in der Küche arbeitenden Gefangenen zurückgehalten und anschließend heimlich innerhalb des Lagers »verkauft« wurden. Das galt besonders für Trockengemüse, Kartoffeln und Fleisch. Einige Polen aus der Küche, die sich mit ihren SS-Wachen - selbst Polen oder Slowaken der übelsten Sorte - arrangiert hatten, wickelten diesen schamlosen Handel ab, trotz des offiziellen Verbots und der Tatsache, daß von der Lagerleitung von Zeit zu Zeit Kontrollen durchgeführt wurden. Ich habe in keinem anderen Lager so miserable Suppe gegessen wie in Auschwitz I, und das war einzig und allein die Schuld der Gefangenen und der SS Wachen in der Küche. Wenn die Suppe plötzlich gut war, so lag mit gutem Grund der Verdacht nahe, daß eine Kontrollkommission der Küche einen Besuch abstatten würde. Es gab dann die bemerkenswertesten Suppen: Solche aus gespaltenen Erbsen oder sogar Nudelsuppe. Anschließend gab es dann wieder Kohlsuppe. Diese war grundsätzlich sauer. Diese Geschmacksrichtung entsprach den Volksgebräuchen der Gefangenen, deren Herkunft östlich eines Meridians lag, der von Geographen, die sich mit der Verteilung von Volksgebräuchen beschäftigen, sehr genau festgelegt worden ist.. Geschmack und Geruch der polnischen »Capousta« rief bei denen, die nicht daran gewöhnt waren, nichts als Widerwillen hervor. Bei der Ankunft der Suppenkessel war es die Hauptsorge der Gefangenen, herauszufinden ob die Suppe dick oder dünn, gut oder schlecht war. Jeder sollte mindestens einen Liter davon bekommen. An Tagen, an denen die Suppe schlecht oder mittelmäßig war, fiel es leicht, sich mehr davon zu besorgen und bis zum abend auf Vorrat zu halten. War sie dagegen gut, bestand keinerlei Aussicht auf Extraportionen. Die Gesamtmenge und die Dicke der Suppe, die ein Kommando bekam, hing zu einem guten Teil von der Ausgefuchstheit der Kapos, der Blockchefs und derer ab, die das »Kesselkommando« hatten und die Suppe in der Küche abholten.

Dieser Aufgabe kam in Auschwitz eine sehr besondere Bedeutung zu. Während meiner Arbeit im Hospital habe ich sie lange selbst übernommen, um gegen Bezahlung zu einer Extraportion Suppe und Brot zu kommen. Sie bestand darin, dreimal am Tag die Suppen- bzw. Kaffeekessel abholen zu gehen und sie zu zweit mittels zweier Tragebalken von der Küche zum Block zu tragen. Man mußte zu einer bestimmten Zeit in der Küche erscheinen und sich schon beim Eintritt schnell entschließen, welchen Kessel man nehmen wollte: Tee oder Kaffee, weiße Suppe oder braune, dicke oder dünne, einen großen Kessel oder einen kleinen. Nachdem man die Tragebalken angebracht hatte, mußte man die Kessel auf den Hof der Küche tragen, wo wir in der Reihenfolge der Blocks aufgestellt wurden. Auf ein Signal hin machten sich die Träger dann auf den Weg zu ihren jeweiligen Blocks. All dies mußte so schnell und ordentlich wie möglich erfolgen, wenn man den Stockschlägen der SS Wächter entgehen wollte.

Der Marsch zur Küche war ein hervorragender Vorwand, um Kameraden aus den Nachbarblocks zu treffen und Neuigkeiten aus dem Lager und von draußen zu erfahren. Das Kesselkommando, so gefürchtet es bei Anfängern war, wurde so schließlich zu einem Spiel und einer regelmäßigen Zerstreuung, trotz der Notwendigkeit, morgens eine halbe Stunde früher aufzustehen als die anderen.

Die Mahlzeit am Abend bestand aus einem Stück Brot von 375 g. Dazu gab es etwas Wurst, ein wenig Margarine oder Marmelade. Aber sowohl Brot als auch Beilagen erreichten die Gefangenen oft nur spärlich. Viel hing von der Rechtschaffenheit derer ab, die zwischen der zentralen Verteilung und jener vor Ort walteten. Die arbeitenden Gefangenen erhielten, wenn nichts dazwischenkam, Dienstags und Donnerstags zusätzlich 750 g Brot und etwas Wurst. Das war die sogenannte Zulage, die immer vollständig ankam und in der Summe die Wochenration an Brot während vier Tagen verdoppelte. Gemäß einer rein theoretischen Vorschrift lag die mittlere tägliche Ration bei etwa 1300 bis 1800 Kalorien. Überprüfungen zufolge, die im Labor von Raisko regelmäßig durchgeführt wurden, zeigten indes, daß die tatsächliche Kalorienzahl deutlich niedriger lag. Das Defizit war der bodenlosen Unehrlichkeit des SS Verwaltungspersonals und der Gefangenen, eher denen in der Küche als denen in den Blocks, zuzuschreiben. Die Verantwortlichen der SS hatten leichtes Spiel, so zu tun, als wären die Gefangenen für ihre dürftige Verpflegung selbst verantwortlich. Leider war das teilweise zutreffend, wegen der Gaunereien in den Lagern und in der Küche und wegen einer Besonderheit, die eines der größten Übel von Auschwitz darstellte. Ich meine hier den Transport von Lebensmitteln und Kleidern im Bereich des Lagerkomplexes. Anläßlich solcher Transporte verließ jeweils ein wesentlicher Teil der Nahrungsmittel und der Bekleidung das Lager für immer und verteilte sich unter der in den benachbarten Werken arbeitenden Zivilbevölkerung, die dafür im Gegenzug mit zwei für das Überleben nutzlosen, allerdings begehrten Dingen bezahlte: Alkohol und Zigaretten. Die Wachen der SS beteiligten sich sehr aktiv und mit hohem Profit an diesem Handel, der am Ende das Lager dessen beraubte, was zum Überleben gebraucht wurde.

Die Tagesration war ganz offensichtlich unzureichend für diejenigen, die schwerere körperliche Arbeit leisten mußten, selbst wenn die offiziell festgelegten Mengen eingehalten wurden. Das galt ganz besonders während der kalten Jahreszeit. Man war auf zusätzliche Nahrungsquellen angewiesen. Jedem Häftling hatte im Prinzip das Recht, Päckchen zu erhalten. Um das zu erreichen, mußte man dafür sorgen, daß jemand außerhalb des Lagers die Registriernummer erfuhr. Das Recht zu schreiben war nur bestimmten Kategorien von Häftlingen gestattet. In der Praxis hatten alle Juden bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen Schreibverbot. Infolgedessen erhielt nur eine kleine Minderheit Päckchen: Die Arier verschiedener Nationalitäten und einige Juden deutscher oder tschechischer Abstammung. Die Empfänger dieser Sendungen waren die »Reichen« des Lagers. Sie konnten es sich oft leisten, teilweise oder gar ganz auf die Lagerverpflegung zu verzichten. Die so gewonnene Ration benutzten sie, um andere Gefangene damit für kleinere oder größere Dienste zu bezahlen. Die einfachste und zuverlässigste Methode, sich eine Extraration zu verdienen, bestand darin, für andere zusätzliche Arbeiten zu übernehmen. Ich habe dies für mein Teil oft bei den verschiedensten Diensten getan: Kesselkommando, Reinigungsarbeiten aller Art, heimliche Englisch-, Französisch- und sogar Biologiestunden. Schließlich war es auch eine gute Idee, die gesamte Tabakration gegen Brot zu tauschen. Mir ist auf diese Weise oft gelungen, mehr Lagerverpflegung und sogar Süßigkeiten aus den Paketsendungen von Kameraden zu bekommen, als ich eigentlich gebraucht hätte. Es war allerdings die heilige Pflicht eines jeden halbwegs menschlichen Gefangenen, seine Überschüsse ärmeren Kameraden zu überlassen, insbesondere jenen, die sich im Hospital von einer Krankheit erholten. Die Verpflegung dort war chronisch unzureichend. Für diesen Schwarzhandel, der sich im Lager abspielte, gab es sogar so eine Art Währungseinheit, die das Geld ersetzte: Zigaretten, egal ob Lagerzigaretten, deutsche oder polnische. Es gab auch echtes Geld, die Lagermark, mit der einige Kommandos für ihre Arbeit bezahlt wurden. Ich selbst habe zu Zeiten 50 Pfennige pro Woche erhalten. Zu anderer Gelegenheit habe ich sogar im Labor von Raisko gegen Quittung 4 Lagermark bekommen. Für eine Lagermark bekam man 30 Zigaretten und auch in diesem Fall hatte man die Pflicht, das, was übrigblieb mit den Kameraden zu teilen, die nicht bezahlt wurden. Diese Verpflichtung erlangte von dem Moment an besondere Bedeutung, als Tabak nur noch gegen Bezahlung und gegen Tabakkarten ausgegeben wurde.

Der Unterschied zwischen den Kommandos beruhte nicht nur auf der Härte der Arbeit und der Behandlung, die der Kapo den Gefangenen angedeihen ließ, sondern auch auf den mehr oder weniger guten Möglichkeiten, zusätzliche Nahrung zu »organisieren«. Eine Nahrungsquelle waren mehr oder weniger bedeutende Diebstähle, die in den Lagern, den »Canadas«, und in den riesigen Depots der SS-Truppen mit Billigung aller Kameraden, wenn auch unter Lebensgefahr, an der Tagesordnung waren. Das reichte von einem kleinen Diebstahl für den Eigenbedarf bis zum Entwenden von mehreren hundert Konservendosen anläßlich der Entladung eines Güterwaggons. Die Quellen dieser Einkünfte waren vom Geschick des einzelnen abhängig. Alles war erlaubt, um sich zusätzliche Nahrungsquellen zu beschaffen, wenn dabei kein Mitgefangener geschädigt wurde. War das der Fall, dann handelte es sich um ein klares Verbrechen. Es gab bedauerlicherweise auch Mittel, sich Nahrung zu verschaffen, die als weniger ehrenhaft galten. Das reichte vom Diebstahl der Ration eines Kameraden bis zu dessen Ermordung. Aber solche Vorfälle gab es nur in Zeiten von Hunger oder Elend und ich hatte Gelegenheit, anläßlich meines Aufenthalts in Groß-Rosen und im kleinen Lager Buchenwald einige Beispiele dafür zu beobachten.

Nach einer recht harten Zeit im Block 2, dem Quarantäneblock, wo wir im Zusatzkommando für sehr mühsame Arbeiten eingesetzt worden waren, hatten ich und sieben Ärzte aus meinem Transport das Glück, als Gruppe nach Block 28, dem Hospital, versetzt zu werden.

Das Hospital (Häftlingskrankenbau oder H.K.B.) bestand aus vier festen Blocks. Je nach Notwendigkeit wurden ihm noch bis zu drei weitere zugewiesen. Die Anlage war nach den neuesten Stand der Technik des Krankenhausbaus eingerichtet. Block 21: Chirurgie; Block 20: Infektionskrankheiten; Block 19: Durchfallerkrankungen, Hautkrankheiten und Krätze; Block 9: Innere Erkrankungen; Block 10: Für lange Zeit experimentelle Frauenabteilung; Block 28: Ambulanz, Augenheilkunde, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Apotheke.

Der H.K.B wurde von einem Lagerältesten vom Fach geführt, der für die Einstellung von Personal und das Beschaffungswesen der Blocks verantwortlich war und unter der ständigen und unmittelbaren Kontrolle des Lagerarztes stand. Während der Zeit, die ich in Auschwitz verbrachte, war der Lagerälteste ein Arzt aus Lwow, ein junger, höflicher und kultivierter Mann, dem das Kunststück geglückt war, sowohl mit den Gefangenen als auch mit den verantwortlichen SS-Ärzten auf ausgezeichnetem Fuß zu stehen. Er verfolgte eine trickreiche Taktik, um die in anderen Kommandos beschäftigten Ärzte nach und nach dem Hospital zuordnen zu lassen und ihnen so eine ihrem Beruf gemäße Beschäftigung zu verschaffen. Dabei mußte er die systematische Böswilligkeit des Arbeitsdiensts gegenüber Ärzten überlisten. Man ordnete diese oft für kurze Zeit als Kranke ab, um sie anschließend wieder als Arbeiter einzusetzen. Auf diese Art ließ man sie nach und nach in kleinen Schritten rein ärztliche Arbeiten verrichten. Das große Problem bestand aber darin, sie für diese Zwecke offiziell einzusetzen, weil nur diese offizielle »Einsetzung« sie vor den drohenden Transporten oder der Rückkehr in ein anderes Arbeitskommando im Lager schützte. Doch selbst wenn eine solche offizielle »Einsetzung« nicht zu erreichen war, bedeutete die Arbeit im Hospital eine Atempause von manchmal langer Dauer. Daß die Zahl der aus Auschwitz zurückgekehrten Ärzte so hoch ist, ist dem Verhalten dieses Lagerältesten zu danken.

Durch die fortlaufende Ankunft zahlreicher Ärzte im H.K.B. wurde inkompetentes Personal ersetzt. Dadurch wurde den Kranken eine fachkundige medizinische Behandlung zuteil, was immer man auch zu diesem Thema sonst sagen mag. Ich kann mich hier um so freimütiger äußern, weil ich niemals »eingesetzt« war und auch niemals als Stationsarzt gearbeitet habe. Aufgrund meiner Arbeit in der Apotheke war ich bestens auf dem Laufenden über alles, was in den einzelnen Stationen des Hospitals passierte. Die Ärzte, insbesondere die französischen, taten für ihre Kameraden alles, was ihnen unter den materiellen und moralischen Umständen, denen wir ausgesetzt waren, möglich war.

Der H.K.B. war mit den wichtigsten Geräten und modernen Therapiemöglichkeiten ausgestattet. Man konnte Kranke nach dem Stand der ärztlichen Kunst behandeln. Aber über dem Krankenbau schwebte die fürchterliche Bedrohung der Selektion. Das psychologische und praktische Problem bestand darin, daß man die Kranken behandeln und gleichzeitig verhindern mußte, daß sie einem von einer Kommission weggeschnappt wurden. Wir wurden immer mehr oder weniger zeitig vorgewarnt, wenn ein solcher Trupp, dessen Arbeit ich weiter oben bereits geschildert habe, kommen sollte. Diese Warnungen mußten streng vertraulich behandelt werden. Anschließend hatten die Ärzte damit zu tun, den größten Teil der Kranken, deren Zustand das zuließ, ohne ein Wort der Begründung zu entlassen. Die Selektion eines Kranken hing manchmal auch davon ab, wie der Arzt dem Lagerarzt den Fall darstellte. Man kann sich vorstellen, in was für einem Gemütszustand sich die Ärzte in einer solchen kritischen Situation befanden. Die große Kunst bestand darin, die Kranken schnell und effektiv zwischen zwei Selektionen zu heilen. Man mußte auch verhindern, daß Kranke, bei denen das nicht unbedingt nötig war, ins Hospital eingewiesen wurden. Diese wurden anschließend heimlich im Lager behandelt. Aber es gab auch zahlreiche tragische Fälle: Kameraden, die man nicht im Detail darüber aufklären konnte, was sie erwartete und die dann nicht einsehen wollten, daß sie das Hospital besser verlassen oder, ohne weitere Fragen zu stellen, gar nicht erst betreten sollten. Sie zweifelten den guten Willen derer an, die sie behandelten und gingen zugrunde. Vergast nach einer Selektion.

Die im H.K.B. Beschäftigten, auch die niedrigen Chargen, waren sich völlig im klaren darüber, daß die Verpflegungslage und die hygienischen Bedingungen nicht mit denen im Rest des Lagers vergleichbar waren. Man war vom Appell freigestellt, aber die Arbeit war hart, zumindest für Anfänger. Meine Kameraden und ich wurden in der ersten Zeit nicht als Ärzte eingesetzt, weit gefehlt. Unsere Beschäftigung war breit gefächert: Toiletten, Waschbecken, Treppenhäuser reinigen, Gläser spülen, Mülleimer leeren, die Kessel putzen, die Wände der Gänge kacheln, den Fußboden nach Anstreicharbeiten reinigen, Leichen beseitigen, die Wäsche holen gehen, Kohlen schippen und Holz hacken. Das waren einige der Arbeiten, die wir für die Bewohner dieses Blocks ausführen mußten. Das war also die »medizinische Tätigkeit«, um die uns unzählige Kameraden beneideten. Aber man mußte eben arbeiten, um nicht wieder ins Lager zurückgeschickt zu werden und um den Eindruck zu erwecken, man sei im Haus unverzichtbar.

Schließlich hatte ich die Gelegenheit, in die in Block 28 gelegene Gefangenenapotheke zu wechseln. Das war eine Arbeit, um die man am meisten beneidet wurde. Daß ich mich dort behaupten konnte, hatte nichts damit zu tun, daß ich Professor war, auch nichts damit, daß ich über genaue Kenntnisse der internationalen Arzneibücher verfügte. Es lag ausschließlich daran, daß ich wußte, wie man unzählige Flaschen richtig spült, wie man ein Parkett pflegt, wie man einen Teppich richtig bürstet, wie man Möbel poliert, wie man Arzneigläser auf Hochglanz bringt, wie man eine Auslage mit pharmazeutischen Spezialprodukten präzise drapiert und nicht zuletzt, weil ich gut pfeifen konnte. Bei der Auswahl der aus den »Canadas« kommenden Medikamente sowie der Ausgabe von bestellten Arzneimitteln für die Hospitalblocks und die Kommandos durfte ich erst nach und nach mitarbeiten. Vor allen Dingen aber hatte ich dort Gelegenheit, Freundschaften mit sehr vielen anderen Gefangenen zu schließen, von denen ich später ausführlicher berichten werde: Jean, der Belgier; Marian, der Apotheker mit der Gefangenen-Nummer 49; ein Professor der Rechtsmedizin von der Universität Krakau und zwei Polen; Jazzliebhaber der eine, ein Kenner englischer Literatur der andere. Ich war allerdings in der Lagerapotheke nicht sicher, weil ich nicht offiziell dort eingesetzt war. Diese Apotheke war übrigens gut ausgestattet. Wir erhielten auf der einen Seite von der SS-Apotheke einen Teil der aus der Zentralapotheke der SS in Berlin stammenden Lieferungen. Einen anderen Teil erhielten wir in Kisten, ein kunterbuntes Durcheinander spezieller Mittel aus allen Ländern Europas, die man Neuankömmlingen bei ihrer Ankunft abgenommen hatte. Die Auswahl und das Sortieren dieser Mittel machte gegen Ende meiner Zeit in der Apotheke den größten Teil meiner Beschäftigung aus. Zusätzlich erhielten wir nennenswerte Lieferungen in Form von Gebinden. Dank des Geschicks Marians, dem es gelang, SS-Funktionäre mit Alkohol zu bestechen, fehlte praktisch nichts, was in einer normalen Apotheke zu finden sein sollte. Ich staunte oft nicht schlecht, wenn ich im Bestand der Apotheke Produkte fand, die im Zivilleben aufgrund von Lieferengpässen schon lange nicht mehr zu haben waren. Dreimal in der Woche wurden die bestellten Medikamente an das Hospital und die Lazarette der Kommandos verteilt. Schon dabei mußte man mit Bedacht vorgehen. Man durfte nicht einfach alles, was bestellt war, auch bewilligen, wenn aus sicherer Quelle bekannt war, daß die Medikamente auf dem Transport verschwanden und die Kranken nicht erreichten. Wenn die Ehrlichkeit der Überbringer keinem Zweifel unterlag und bekannt war, daß die Medikamente den Kranken zur Gänze zukamen, so mußte man dagegen die bestellten Mengen oder gar mehr bewilligen. Schließlich mußte man immer eine gewisse Menge derjenigen Arzneimittel abzweigen, die zwar für bestimmte Patienten gebraucht wurden, aber auf den offiziellen Listen nicht auftauchen sollten, oder die für die heimliche Behandlung von Patienten im Lager gebraucht wurden. Es fehlte also nicht an der pharmazeutischen Ausstattung. Die Medikamente leisteten einer kleinen Anzahl von Häftlingen gute Dienste. Die große Mehrheit derer, denen diese pharmazeutischen Schätze zuteil wurden, kamen jedoch am Ende doch im Rahmen von Selektionen um, verhungerten oder starben an Entkräftung.

Nach dem Arbeitsende in der Apotheke und dem Abendessen mußte ich in Block 28 außerplanmäßige Sprechstunden abhalten. Diese gab es in Block 28 jeden Tag in Wechselschichten, besonders abends in der Zeit zwischen dem Abendappell und dem Löschen des Lichts. Die Arbeit eines Arztes dort war sehr hart. Man mußte einen schnellen Blick haben und zahlreiche Kameraden verbinden, die sich wegen äußerer Wunden behandeln ließen, ohne sich in das Hospital einweisen zu lassen. Die Sprechstunden dienten auch dazu, Patienten ausfindig zu machen, die innere Verletzungen hatten oder längerer intensiver Behandlung bedurften. Ungefähr zehn Ärzte und ein Krankenpfleger kamen diesen Verpflichtungen nach, die in großer Hast und unter dem striktem Verbot, mit den Patienten zu schwatzen, verrichtet werden mußten. Wir übertraten dieses Verbot regelmäßig auf die Gefahr hin, vom Wachtposten der Ambulanz, über lange Zeit war das ein Uhrmacher aus Krakau, geschlagen zu werden. Nachdem dieser durch einen Offizier der polnischen Luftwaffe, einem kultivierten Mann mit ausgezeichneten Manieren, ersetzt worden war, konnten wir für ein paar Wochen gute Arbeit in einer regelrecht professionellen Weise leisten. Die Streubreite der Fälle war nicht sehr groß. Es handelte sich überwiegend um Arbeitsunfälle. Brandwunden und schwer abheilende Hautinfektionen, Furunkel, Abszesse und Geschwüre behandelten wir, so gut wir konnten, mit den zahlreichen Salben, die uns zur Verfügung standen, und mit dem Verbandsmaterial, das nichts zu wünschen übrig ließ. Bei diesen Gelegenheiten konnte man ein wenig mit den Gefangenen des Lagers schwatzen, ihnen ein paar allgemeine Ratschläge zu ihrem Gesundheitszustand geben und ihnen einschärfen, sich nicht in das Hospital einweisen zu lassen, weil eine Selektion bevorstand, oder sie zur Einweisung anzuhalten, weil gerade eine Selektion stattgefunden hatte. Die mit der Einweisung verbundenen grausamen Folgeerscheinungen habe ich ja schon mehrfach erwähnt. Die Patienten, die schon länger im Lager waren, verstanden bei der geringsten Andeutung, daß der Zeitpunkt für eine Einweisung ins Hospital nicht günstig war. Andere Kameraden glaubten dagegen manchmal an bösen Willen unsererseits. Fasziniert von der Einrichtung des Hospitals und von der Aussicht, eine Verschnaufpause zu bekommen, ließen sie sich gegen unsere wegen der Spitzelei verklausuliert formulierten Empfehlungen einweisen, weil sie sich der unmittelbaren Todesgefahr nicht bewußt waren, der sie sich damit aussetzten. Die Ambulanz ermöglichte es uns, über den Arzneimittelbedarf unserer Kameraden auf dem laufenden zu sein. So konnten wir sie trotz des formellen Verbots medizinischer Behandlung außerhalb des Hospitalblocks heimlich im Lager mit Medikamenten versorgen, so daß sie sich nicht einweisen lassen mußten. Die Patienten, die sich trotz allem einweisen lassen mußten, wurden am folgenden Morgen wieder zum Krankenbau geschickt und vorläufig von der Arbeit befreit. Beim Morgenappell wurden sie aufgerufen und nach dem Block 28 gebracht. Dort wurden sie geduscht und anschließend vom diensthabenden Arzt dem SS Lagerarzt vorgeführt, der die Einweisung und die Arbeitsbefreiung verfügte oder den Patienten zurückschickte.

Noch ein Wort zu anderen Einrichtungen von Block 28, der von allen Blocks des Lagers der sauberste und am besten auf die praktischen Erfordernisse hin konzipierte war. Es gab dort eine Diätküche, wo für die Patienten leicht verdauliche Pasten, spezielle Suppen und sogar ein spezielles Brot zubereitet wurde, gerade so, als ob die Patienten sich erholen könnten und es so etwas wie die Selektionen gar nicht gäbe. Es gab ein Röntgengerät, Geräte zur Infrarotbestrahlung, Höhensonnen, ein kleines, speziell für die Krankenstation ausgestattetes Labor, eine Kammer für Heilpflanzen, einen sterilen Operationssaal und ein Untersuchungszimmer für Augen-, Ohren-, Nasen- und Rachenerkrankungen. Es gab im ersten Stock aber auch einen speziellen Raum, Saal 19, in dem die SS an unseren Kameraden Menschenversuche durchführte und dessen Betreten uns verboten war. Unter dem Vorwand, Medikamente abliefern zu müssen, gelang es mir ein paarmal, dort hineinzukommen. Zu jener Zeit machte man dort gerade zum Vorteil einiger großer deutscher pharmazeutischer Fabriken Versuche mit Substanzen, die hartnäckige Abszesse verursachten. So viele Widersprüche in den hier geschilderten Fakten, die einem ein Gefühl dafür vermitteln, daß die Atmosphäre in Auschwitz vom Wahnsinn geprägt war.

Mitte Oktober 1944 wurde ich in das Labor in Raisko versetzt. Ich verließ Block 28, in dem es mir seit Mitte Juni gelungen war, mich gut arrangieren, mit großem Bedauern. Die Leitung des Labors in Raisko hatten mich zur Verwendung als Histologe angefordert. Aus verschiedenen Gründen war es aber gut, daß ich aus Block 28 fortkam. Ich hätte den Zeitpunkt meiner Abordnung nach Raisko nicht mehr länger aufschieben können.

Das Labor Raisko lag etwa vier Kilometer vom Lager entfernt in einem kleinen Dorf, aus dem die polnischen Bewohner evakuiert worden waren und wo nur SS-Angehörige wohnten. Das Labor war der SS-Sanitätsstelle untergeordnet, die wiederum der Direktion des Gesundheitsdienstes der SS in Berlin unterstand. Es war in mehrere Sektionen gegliedert: Chemie, Bakteriologie, Serologie, experimentelle Biologie, Meteorologie und zu guter Letzt die kleinste Sektion, die Histologie. Ich sollte dort drei Monate mit meinem Kollegen Lévy-Coblentz, dem früheren Laborleiter an der medizinischen Fakultät der Universität Straßburg und dem Chef der medizinischen Fakultät an der Universität Paris, zusammenarbeiten. Als ich in Raisko ankam, war der größte Teil der Ausrüstung bereits verpackt und angesichts der vorrückenden Russen bereit zur Evakuierung in die Gegend von Breslau. Die Gerätschaften, die ich noch in Gebrauch sah und ganz besonders jene, derer wir uns bei unserer Arbeit bedienten, waren durchaus ausreichend und von neuester Bauart. Die Einrichtung war sehr zweckmäßig und elegant, wie auch die gesamte Ausstattung des Labors von den besten Herstellern Deutschlands stammte. Ein Teil der Geräte war französischen Ursprungs, ob gestohlen oder gekauft, konnte ich niemals mit Gewißheit herausbekommen. Unsere histologische Arbeit bestand in der Untersuchung anatomisch-pathologischer Proben aus Biopsien und Autopsien, die aus verschiedenen Lagern des Lagerbereichs Auschwitz, aus den SS-Krankenhäusern des süd-östlichen Sektors, aus verschiedenen zivilen Krankenhäusern der Region und aus den dem Lager angeschlossenen Pferde- und Hundezuchtanstalten angeliefert wurden. Darüber hinaus waren wir mit der Untersuchung verschiedener Lebensmittel, insbesondere der in der Schlachterei hergestellten Wurst, betraut. Von Zeit zu Zeit wurden wir auch vom botanischen Labor in histologischen Fragen konsultiert. Dieses lag uns genau gegenüber. Die ausschließlich weiblichen Arbeitskräfte kamen aus dem Lager Birkenau. Während der Zeit, die ich in diesem Labor verbracht habe, sind uns keine Proben untergekommen, die aus den Reihenversuchen an Menschen stammten. Die histologische Abteilung, der eine human- und tierparasitologische Stelle beigeordnet war, war das ruhigste von allen Laboratorien in Raisko. Wir bearbeiteten durchschnittlich 8 bis 10 Proben am Tag. Die Gesamtzahl der in sämtlichen Abteilungen von Raisko bearbeiteten Proben belief sich 1944 auf mehr als 113000, von denen der größte Teil der Bakteriologie zukam. Die Anfragen wurden in einer Buchführung der modernsten Art nach Kategorien getrennt registriert. Zum Labor gehörten ein ausgedehnter Garten, experimentelle Tierzuchtanstalten und Lager für Labormaterial. Wir hatten eine Bibliothek zu unserer Verfügung, in der es zahlreiche Standardwerke sowie die üblichen Handbücher und Zeitschriften gab.

Das Labor von Raisko gehörte organisatorisch gesehen zur SS, und die dort durchgeführten Forschungsarbeiten waren völlig unabhängig von irgendeiner universitären Organisation. Der Leiter der Labors, ein Arzt und Hauptmann, Hauptsturmführer der SS Weber, war 28 Jahre alt und der Ideologie der SS völlig ergeben. Von Beruf war er Bakteriologe und verfügte über breit gefächerte biologische Ausbildung. Er versuchte alles, um die Art und die Zahl der in Raisko durchgeführten Untersuchungen zu erhöhen, um in den Augen seiner Vorgesetzten die Existenzberechtigung seiner Stelle selbst und des Labors zu nachzuweisen. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Konzentrationslager als Studienobjekte dienten, anhand derer man biologische und gesundheitliche Statistiken erstellte, für die man bisher in keinem anderen Gemeinwesen sonst die nötigen Daten hätte gewinnen können. In Einzelfällen konnte man manchmal bei den ausgefeiltesten Arbeitsweisen der modernen Biologie helfen und an mit wahrhaft wissenschaftlichem Ernst geführten Diskussionen über im Lager entdeckte ungewöhnliche Fälle teilnehmen. In diesen Diskussionen spielte fachliche Eitelkeit eine herausragende Rolle, während Tag und Nacht dieser furchtbare »Kamin« in Betrieb war. Der SS war sehr daran gelegen, daß das Labor reibungslos funktionierte. Denn während ihre Kameraden an den verschiedenen Fronten ihre Treue zum Ehrenkodex der SS unter Beweis stellten, indem sie sich töten ließen, hielt es das technische SS-Personal des Labors von Raisko aus Gründen des öffentlichen Interesses und aus wissenschaftlichen Gründen für notwendig, sich in Auschwitz zu halten und dort ein unbeschwertes Leben zu führen. Ein junger Bakteriologe, Obersturmführer Delmotte, war Weber unterstellt. Einige meiner Kameraden wurden gezwungen, eine Doktorarbeit für ihn zu schreiben. Außer ihm war auch ein Arzt namens Münch für die Leitung der Histologie zuständig. Er war ein Mann in den Vierzigern und gerade zum Untersturmbannführer befördert worden, also zum ärztlichen Unteroffizier. Er behandelte uns wie richtige Kollegen und ließ sich hin und wieder neue Kniffe einfallen, um unsere Tagesrationen zu erhöhen. Jedesmal wenn sich im Lager schlimme Dinge ereigneten oder ein Kamerad, an dem wir hingen, in Gefahr war, konnten wir offen mit ihm darüber reden. Er tat dann, was in seiner Macht stand. Ich weiß nicht, was später aus ihm geworden ist. Er war einer der sehr wenigen - wenn auch nicht der einzige - SS-Ärzte, die auch in Uniform Mensch geblieben waren.

Unsere psychologische Beziehung zu unseren Vorgesetzten war alles andere als einfach. Sie unterzeichneten die Diagnosen und waren gegenüber ihren Vorgesetzten in der Zentrale direkt verantwortlich. Auf der anderen Seite mußten wir diese Diagnosen gleichzeitig fälschen, um nicht einen unserer Kameraden im Lager zu gefährden. Solange wir die weißen Laborkittel trugen, wurden wir als unverzichtbares technisches Personal angesehen. Sobald wir sie auszogen, waren wir wieder normale Gefangene, die dem Lagerreglement unterstanden. Abgesehen von dem Privileg, in einem Beruf arbeiten zu dürfen, der uns vor Unbilden und schlechter Behandlung schützte, teilten wir das Leben der Gefangenen. Ich werde nun versuchen, ein Bild hiervon zu entwerfen, indem ich in aller Kürze den Tagesablauf schildere.

Zum Wecken läutete eine Glocke. Im Sommer um 4 Uhr, mit den kürzer werdenden Tagen dann sukzessive später, bis es im tiefsten Winter 6 Uhr war. Man hatte gerade genug Zeit, um aufzustehen, das Bett nach den festgelegten Regeln zu machen, sich zu waschen und ein wenig warme Flüssigkeit und ein Stück Brot vom Vorabend zu sich zu nehmen. Für die Kommandos, die innerhalb der Blocks im Lager arbeiteten, begann die Arbeit direkt danach. Die überwiegende Mehrheit, die außerhalb des Lagers arbeitete, mußte zuerst antreten; anschließend folgte der geordnete Ausmarsch. Das Antreten, das während der schönen Jahreszeiten nicht im geringsten unangenehm war, geriet während der sehr harten Winter zur Qual. In Auschwitz I gab es keinen eigenen Platz für die Appelle. Jedem Kommando wurde ein Platz auf den Straßen des Lagers oder zwischen den Blocks zugewiesen. Die Kolonnen traten in Reihen zu je fünf an, wobei jedem Gefangenen ein fester Platz zugedacht war. Gruppen zu zehn wurden in einer festgelegten Ordnung von einem Scharführer kommandiert. Es war sehr einfach für den Schreiber des Kommandos, das Fehlen eines Gefangenen festzustellen, da er die meisten ja sogar persönlich kannte. Nachdem man sich aufgestellt hatte, hieß es, den vom Kommandanten des Lagers gegebenen Befehl abzuwarten, auf den hin das Orchester zum Ausmarsch Märsche spielte. Das war wegen der Kälte eine Quälerei, besonders an nebligen Tagen. Die Kommandos marschierten dann in dicht geschlossenen Reihen los und defilierten an der Lagerleitung vorbei, die sich gegenüber dem Orchester nahe dem Ausgangstor aufgestellt hatte. Bei dieser Zeremonie mußte eine peinliche Disziplin eingehalten werden. Die Blockältesten wurden in einer Schlußreihe aufgestellt. Etwa fünfzig Meter vor dem Erreichen der Offiziere gab es eine Folge von Kommandos: »Vordermann! Seitenrichtung! Abstand halten! Mützen ab! Hände anlegen!«. In minutiös ausgerichteten Fünferreihen passierten wir die Offiziere in einigen Metern Abstand unter dem Klang von Militärmärschen. Beim Passieren des Tors machte der Kapo Meldung. Ich werde niemals die donnernde Stimme unseres Kapos Bertram vergessen, die das Orchester übertönte: »Laboratorium Raisko, hundertdrei Häftlinge!«. Ein Schreiber notierte die Namen der Kommandos und die Zahl der Gefangenen, die das Lager verließen. Etwa zwanzig Meter vom Tor entfernt setzten wir die Mützen wieder auf und der Gleichschritt geriet aus dem Takt. Dieses Defilee von 5000 Männern dauerte etwa eine Stunde. Es war jedesmal die gleiche Prozedur. Die einzige Änderung gab es, wenn es kälter als -12 Grad war, für welchen Fall der Kommandant beschlossen hatte, daß es dann kein »Mützen abgab.

Ich habe lange Zeit innerhalb des Lagers gearbeitet, und dieses Leben wurde monoton und ermüdend. Dagegen gab es nichts Anregenderes als die morgendlichen Märsche nach der unangenehmen Prozedur des Antretens. Von mit geladenen Gewehren bewaffneten Wachen begleitet, die sich uns am Tor angeschlossen hatten, gingen wir außen an der Betonmauer entlang, passierten die Verwaltungsgebäude der SS, ließen eine weitere Absperrung hinter uns und erreichten schließlich das Ufer der Sola. Dem folgten wir etwa drei Kilometer. Nachdem wir die zweite Absperrung hinter uns gelassen hatten, schulterten die Wachen ihre Gewehre, und es war uns erlaubt, miteinander zu reden. Genaugenommen waren wir erst ab da außerhalb des Lagers. Nahezu jeden Morgen wurde uns das großartige Schauspiel des Sonnenaufgangs über einer reifbedeckten Landschaft zuteil. Und wenn die rote Scheibe der Sonne über die Hügel der Beskiden kletterte, wurde es normalerweise still in der Kolonne. Der Schnellzug Krakau-Berlin, den wir jeden Tag vorbeifahren sahen, erinnerte uns daran, daß für andere Menschen das normale Leben weiterging, während uns die Silhouette der »Schmorpfanne« am Horizont bestimmte Aspekte unserer Zukunftsaussichten ins Gedächtnis rief. Die qualmenden Kamine des Buna-Werks in einigen Kilometern Entfernung machten auf die im Vergleich zu der unseren ungleich härtere Arbeit aufmerksam, die schwer auf den Tausenden Kameraden im Nachbarlager Monowitz lastete. Die aufgehende Sonne über der Hügelkette der Beskiden brachte diejenigen unter uns, die dafür empfänglich waren, auf den Gedanken, wie bedeutungslos doch alles in Anbetracht der großartigen Schauspiele des Universums war.

Nach der Ankunft in Raisko gingen wir ins Labor und begannen mit unserer Arbeit. Gegen Ende der Arbeitszeit am Nachmittag schlug die kritische Stunde des Sakraments der Sauberkeit: das berühmte Saubermachen stand an. Auf ein Zeichen des Hauskapos hin mußte man auf der Stelle jedwede Arbeit unterbrechen und ohne jede Verzögerung die Instrumente, Tische, Schränke, Lampen, Fußböden usw. reinigen. Diesem Ritus, dem ganz offensichtlich eine höhere Bedeutung als der wissenschaftlichen Arbeit zugemessen wurde, opferte man jeden Tag eine gute Stunde. Unmittelbar vor dem Verlassen des Labors mußten wir die Abnahme über uns ergehen lassen, deren Strenge sehr vom diensthabenden SS Unteroffizier und dessen Laune abhing. Einige von ihnen waren jähzornig und überprüften jede Schublade, die letzten Ecken, jede Lampe und jedes Instrument. Wehe, wenn ein Staubkorn oder ein Spinnennetz gefunden wurde. Es setzte dann auf der Stelle lautstarke Szenen und ein paar Backpfeifen oder strafweise Einschränkung der Rationen. Das lag daran, daß die Unteroffiziere in der ständigen Furcht vor einer Inspektion durch den Stabsscharführer lebten, der seinerseits wiederum der Laborleitung gegenüber für den einwandfreien Zustand der Räume und des Materials verantwortlich war. Hier tritt ein weiteres Detail dieses teuflischen Systems zutage: Furcht vor den Vorgesetzten und ständige Schikanen gegen Untergebene, um sich zu rächen. Wenn ein Spinnennetz gefunden wurde, zählte die wissenschaftliche Befähigung nichts mehr. Der Reinlichkeitswahn war in erster Linie ein effizientes Werkzeug zur Unterdrückung. Man mußte sich nicht nur bei der wissenschaftliche Arbeit vor den Offizieren in acht nehmen, sondern auch darauf achten, sich nicht den Zorn der Unteroffiziere zuzuziehen. Darüber hinaus hielt es je nachdem auch der Kapo, der uns zum Lager zurückbrachte, für notwendig, gegen uns wüten, wenn es Wirbel bei der Abnahme gegeben hatte.

Nach dem Verlassen des Labors hatten wir, abermals in Fünferreihen aufgereiht, zu einer streng festgelegten Zeit wieder im Lager zu sein. Dort mußten wir erneut die uns zugewiesenen Plätze in den Marschkolonnen der Kommandos einnehmen, die nacheinander unter dem Klang der Musik mit der Präzision eines Uhrwerks durch das Tor einmarschierten. Anschließend hieß es wieder Antreten zum Appell mit all seinen Schrecken. Das Kommando Raisko war sicher eines der besten Kommandos des Lagers. In einem Laborkittel, in Sicherheit und im Warmen gingen wir einer mehr oder weniger vertrauten Tätigkeit nach. Wir arbeiteten, hatten Gelegenheit zu lesen (manchmal auch heimlich für uns selbst statt für die Arbeit) und konnten untereinander über wissenschaftliche, philosophische und sogar politische Themen diskutieren. Aber wir mußten sehr vorsichtig sein. Wir hatten immer ein Stichwort bereit, um einem Gespräch, bei dem man uns überraschte, eine andere Wendung zu geben. Aber wie hätten wir vergessen können, daß wir zu den Privilegierten dieses Lagers gehörten, wo wir auf der Straße immer unseren bedauernswerten Kameraden aus Birkenau begegneten. Diese waren im Erdbau und für Feldarbeiten eingesetzt, wobei sie scharfen Wachhunden und unmenschlichen weiblichen Kapos ausgesetzt waren. Nach der Abnahme und der Rückkehr in das Lager setzten im Block die abendlichen Schikanen seitens unseres Blockältesten, der »die Professoren« haßte, den Kontrapunkt zu den wenigen Stunden relativer Ruhe bei der Arbeit im Labor. Wir führten ein regelrechtes Doppelleben. Alles im Lager war schizophren, wahnsinnig.

Der Arbeitstag endete im Sommer um halb sieben und mit Einbruch der Dunkelheit, wenn die Tage kürzer wurden. Das Antreten zum abendlichen Appell fand immer an der gleichen, für jeden Block festgesetzten Stelle statt. Dort wurden wir, aufgestellt in schnurgeraden Reihen, von den Blockführern der SS inspiziert und abgezählt. Die Dauer dieser Appelle war variabel. Dieses bewegungslose Strammstehen war ausgesprochen unangenehm, ganz besonders während der kalten Jahreszeit. Jeder Gefangene hatte nur einen einzigen Wunsch: daß beim Abzählen der eigenen Gruppe oder bei einer anderen nichts Unvorhergesehenes passierte. Wenn tagsüber Gefangene geflohen waren, wenn also die abgezählte Zahl nicht mit der von der Schreibstube festgehaltenen übereinstimmte, dann konnte ein Appell sehr lange dauern. In dem Moment, in dem die Ergebnisse der einzelnen Zählungen der Kommandantur zum Vergleich mit den schriftlich fixierten übergeben wurden, erstarrten die Gefangenen in Habachtstellung, und es herrschte ein bedrückendes Schweigen. Das war der entscheidende Augenblick, in dem sich herausstellte, ob der Appell zu Ende war, oder nicht. Es war auch ein Moment, in dem manchmal wichtige Entscheidungen über die Zukunft einiger Gefangener fielen. Es war auch der Rahmen, in dem die öffentlichen Hinrichtungen stattfanden. In den letzten Tagen des Dezember, nach dem letzten »Mützen abdes Tages, wurden vor dem Weihnachtsbaum mit all seinen funkelnden Lichtern vier polnische Patrioten erhängt. Ihre letzten Worte: »Nieder mit den Tyrannen. Es lebe die Freiheit«, tönten durch die Stille. Anläßlich einer anderen Erhängung riß der Strick. Ein Murmeln ging durch die sonst so schweigsame Masse. Alle waren sich sicher, daß der Delinquent gemäß jahrhundertealter Bräuche begnadigt würde. Man brachte ihn zum Bunker, wo er am nächsten Tag hingerichtet wurde. Dieser schweigsame Moment am Ende des Tages war beeindruckend. Es war der Augenblick, in dem man seinen Gedanken über Themen, die man den Tag über sorgfältig zurückgestellt hatte, freien Lauf lassen konnte. Das Kommando »Mützen auf! Weggetreten« brach die Stille, und der Tag war zu Ende. Es blieben uns ein bis zwei Stunden zum Essen, um sich der Körperpflege zu widmen, um mit den Kameraden zu reden oder um sich hinzulegen. Ein Glockenschlag rief jeden dazu auf, sich in seinem Block einzufinden. Eine Viertelstunde später kündigte ein zweiter Glockenschlag das Löschen der Lichter an. Das war der Beginn der je nach psychischem und körperlichem Zustand des einzelnen mehr oder weniger guten Nacht.

An Sonn- und Feiertagen wurde diese starre Ordnung durchbrochen. Es rückte nur ein Teil der Kommandos zur Arbeit aus, die überwiegende Mehrheit hatte frei. Der Appell fand erst um elf Uhr statt, anschließend hatte man frei. Sonntag nachmittags fanden unter lautstarkem Beifall der Zuschauer Fußball-, Basketball und Wasserpoloturniere statt. Der Mensch braucht nicht sehr viel, um sich von unmittelbar drohenden Gefahren abzulenken. Die Lagerverwaltung hatte regelmäßige Unterhaltungsveranstaltungen für die Gefangenen sogar an Wochentagen gestattet. Ein Kino zeigte Nachrichtenfilme der Nazis und sentimentale Spielfilme. Ein sehr beliebtes Kabarett gab häufig Vorstellungen, die oft sogar von SS-Leuten besucht wurden. Schließlich gab es noch ein sehr ordentliches Orchester, das anfangs ausschließlich mit polnischen Musikern besetzt war, welche später durch eine Gruppe hochklassiger Musiker aller Nationalitäten ersetzt wurde, die mehrheitlich jüdisch waren. Der Leiter des Orchesters war Professor am Konservatorium in Krakau. Durch einen eigentümlichen Zufall war ich bei der Zerschlagung des polnischen Orchesters anwesend. Es war ein unvergeßliches Ereignis, das einmal mehr den Wahnsinn dieses Lagers vor Augen führt. Das Orchester war dabei, »Einladung zum Walzer« von Weber zu proben, als ein Gefangener, begleitet von einem SS-Mann, die Probe unterbrach. Die Musiker wurden einer nach dem anderen aufgerufen, legten ihre Instrumente nieder und verließen den Raum, um sich zum Quarantäneblock zu begeben. Von dort wurden sie nach Norddeutschland gebracht. Für sie war das tatsächlich eine Deportation, weil sie ihre Heimat verließen. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Die Szene erinnerte mich an den berühmten Kupferstich von Rethel, auf dem dargestellt ist, wie der Tod einen Maskenball unterbricht und gerade die letzten Musiker den Ballsaal verlassen.

Durch die ständig neu ankommenden Transporte und die von Auschwitz nach anderen Lagern abgehenden Transporte wurde die Besetzung des Lagers immer neu durchmischt. Der Abgang mit einem Transport stellte eine immerwährende unangenehme Bedrohung dar, weil man auf der Stelle die großen und kleinen materiellen Vorteile verlor, die man sich mühsam während langer Zeit erarbeitet hatte. Es war ein Aufbruch nach dem Unbekannten, mit all den Strapazen einer Reise und den anschließenden Schwierigkeiten, sich in dem neuen Lager neu einzufinden. Trotz allem konnte ein Transport, zumindest für die ständig massiv von Vergasungen bedrohten Juden, auch ein Weg zur Rettung sein. Es war allerdings notwendig, so weit das möglich war, genau über die Art und den Bestimmungsort des Transports Bescheid zu wissen. Anschließend konnte man tun, was nötig war, um mitzufahren oder ausgeschlossen zu werden. Die Transporte nach Buchenwald und nach Dachau waren immer sehr begehrt, weil Buchenwald für die Insassen von Auschwitz so etwas wie ein Paradies darstellte. Eines Tages ging ein Transport nach Natzwiller (Struthof), Bas-Rhin. Ich hatte sehr große Lust, mich diesem Transport anzuschließen, weil es für mich die Rückkehr ins Elsaß bedeutet hätte. Nachdem ich aber aus sicherer Quelle erfahren hatte, daß es sich dabei um ein Himmelfahrtskommando handele, habe ich mich gehütet, Interesse für diesen Transport zu bekunden. Man kann nicht mehr sagen, als daß das eine gute Entscheidung war. Bisher ist nicht bekannt, was den bedauernswerten Gefangenen aus Auschwitz widerfahren ist, die in regelmäßigen Abständen nach Struthof verbracht wurden. Die wenigen, die man in den Leichentrögen der Anatomie der Universität Straßburg wiederfand, wurden auf dem Friedhof Straßburg-Nord beigesetzt.

Wegen dieser starken Durchmischung von Häftlingen verschiedener Lager waren wir immer gut darüber informiert, was in den anderen Lagern vor sich ging. Manchmal hatten wir genaue Informationen über Freunde, die in Lagern am anderen Ende Deutschlands einsaßen. Wir waren also nicht völlig vom Rest der Welt abgeschnitten, wir wußten auch darüber Bescheid, was an den verschiedenen Kriegsfronten geschah. Es wurden deutsche Zeitungen ins Lager gebracht. Einige Häftlinge hatten sogar das Recht, sich welche zu abonnieren. Noch besser wurden wir aber von Meldungen alliierter Radiosendungen auf dem laufenden gehalten, die von einigen Kameraden aus verschiedenen Kommandos heimlich während der Arbeit aufgeschnappt worden waren. Wegen der vielen Spitzel mußte man sehr vorsichtig sein, wenn man Nachrichten weitergab. Jedes Gespräch über politische Themen war streng verboten. Man durfte noch nicht einmal den Namen eines Orts aussprechen, der in einem Bericht erwähnt worden war. Es hatten sich regelrechte Menschenketten aus sehr zuverlässigen Leuten gebildet, die die Nachrichten weiterleiteten. So konnten wir Tag für Tag die Orte des unaufhaltsamen Vormarsches der Alliierten in Frankreich verfolgen. Die Eroberungen von Paris, Brüssel und Straßburg wurden heimlich, aber gebührend gefeiert. Wir verfolgten auch, wie die russischen Armeen, die seit August 1944 in der Nähe des Frontabschnitts um Tarnow praktisch steckengeblieben waren, einen Vorstoß auf Krakau gemacht hatten und dort am 14. Januar einmarschiert waren. Darauf hatten wir lange gewartet, und nun fragten wir uns beunruhigt, ob man uns unserem Schicksal überlassen, liquidieren oder evakuieren würde. Zwei Tage später kam der Befehl zur vollständigen Evakuierung von Auschwitz.

Originalartikel: Observations et Réflexions sur les Camps de Concentration Nazis


doG schrieb am 20.11. 2001 um 23:43:06 Uhr zu

Auschwitz

Bewertung: 29 Punkt(e)

Täglich hinter den Baracken
Seh ich Rauch und Feuer stehn.
Jude, beuge deinen Nacken,
Keiner hier kann dem entgehn.
Siehst du in dem Rauche nicht
Ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn:
Fünf Millionen berg' ich schon!
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

Täglich hinterm Stacheldraht
Steigt die Sonne purpurn auf,
Doch ihr Licht wirkt öd und fad,
Bricht die andre Flamme auf.
Denn das warme Lebenslicht
Gilt in Auschwitz längst schon nicht.
Blick zur roten Flamme hin:
Einzig wahr ist der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

Mancher lebte einst voll Grauen
Vor der drohenden Gefahr.
Heut kann er gelassen schauen,
Bietet ruhig sein Leben dar.
Jeder ist zermürbt von leiden,
Keine Schönheit, keine Freuden.
Leben, Sonne, sie sind hin.
Und es lodert der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.



Ruth Klüger war 13 Jahre alt,
als sie dieses Gedicht 1944
in Auschwitz schrieb

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