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spiegel schrieb am 21.5. 2001 um 20:47:28 Uhr über

Alptraum

Alptraum einer Anarchie

Nach Osttimor will auch die Krisenprovinz Aceh unabhängig werden.
Präsident Wahid steht vor einer schweren Bewährungsprobe. Zerfällt
sein Riesenreich?

Seine Anhänger johlten nach der Rede, Beobachter werteten sie als
bedeutende Richtschnur für die Zukunft des Landes. Unmittelbar
nach seiner Wahl vor knapp vier Wochen war Indonesiens neuer
Präsident Abdurrahman Wahid, 59, zu einer spontanen Ansprache vor
das Parlament in Jakarta getreten.

Mit dem Erbe der Ära Suharto müsse »friedlich« aufgeräumt werden,
forderte das Staatsoberhaupt. Um den wirtschaftlichen Niedergang
der mit 210 Millionen Bewohnern viertgrößten Nation der Erde zu
stoppen, wolle er vor allem die »Einheit des Landes sichern«. Doch
schon vergangene Woche schien das Versprechen des sanften
Muslimführers nur noch Makulatur.

Nachdem Wahid auf einer
Pressekonferenz versichert hatte, auch
den 4,3 Millionen Bewohnern der
rebellischen Nordprovinz Aceh stehe ein
Unabhängigkeitsreferendum wie in
Osttimor zuDas ist Gerechtigkeit«),
strömten in der Provinzhauptstadt Banda
Aceh am vorigen Montag die Bewohner
zusammen. In einer der bisher größten Demonstrationen Indonesiens
forderten etwa eine Million Acehnesen »Freiheit« und einen
unabhängigen »islamischen Staat«.

Kaum im Amt, droht dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten
eine schwere Regierungskrise. Reformpolitiker, die geholfen hatten,
eine Mehrheit für ihn zu schmieden, revoltieren. "Wenn Aceh sich
abspaltet", protestierte Amien Rais, Sprecher der Beratenden
Volksversammlung, »dann bricht alles auseinander

Auch Parlamentssprecher Akbar Tanjung machte seinen Widerstand
deutlich: "Kein Abgeordneter würde ein Referendum unterstützen,
das zur Abspaltung Acehs führt." Akbars Einspruch wiegt schwer. Als
Führer der früheren Regierungspartei Golkar hatte der Diplomatensohn
seine Anhänger dazu gedrängt, dem damaligen Präsidenten B. J.
Habibie die Gefolgschaft zu entziehen, weil dieser die Abspaltung
Osttimors eingeleitet hatte.

Flugs korrigierte Wahids neuer Außenminister Alwi Shihab seinen für
widersprüchliche Aussagen bekannten Chef: "In Fragen der
nationalen Einheit muss zuerst die Beratende Volksversammlung
konsultiert werden." Auch Wahid schränkte sein Zugeständnis rasch
wieder ein: "Mit einem Referendum wollen wir uns auf keinen Fall
drängeln lassen."

Der nach zwei Schlaganfällen fast erblindete Wahid, ein geschickter
Taktiker, hofft auf die Überzeugungskraft seines Kompromissmodells
für Aceh. Die Region, so hatte er angekündigt, dürfe fortan 75
Prozent der Erlöse aus ihren reichen Öl-, Gas- und
Edelmetallvorkommen behalten. Nahe der Stadt Lhokseumawe
befinden sich Indonesiens gigantische Erdgasvorkommen und die
wichtigste Produktionsstätte von Flüssiggas. Hier werden gut zehn
Prozent der Deviseneinnahmen des Archipels der 17 500 Inseln
erwirtschaftet. In der Vergangenheit war davon so gut wie nichts in
der Provinz geblieben.

Wahid ordnete zudem an, dass die Armee sich aus dem 55 392
Quadratkilometer großen Gebiet an der strategisch wichtigen Straße
von Malakka möglichst schnell zurückzieht und die Polizei
Demonstrationen nicht mehr unterbindet. Den Sicherheitskräften
wurden in der Vergangenheit schwere Menschenrechtsverletzungen
vorgeworfen.

Seit die »Nationale Befreiungsfront Aceh-Sumatra« 1976 einen
islamischen Staat unter Leitung des ins schwedische Exil
geflüchteten Prinzen Hasan di Tiro ausgerufen hatte, herrscht
Aufruhr. 1989 erklärte der damalige Diktator Suharto Aceh zum
»militärischen Operationsgebiet«. Jakartas Truppen durften morden,
foltern und vergewaltigen, sofern sie nur den geringsten Verdacht
hegten, es mit Sympathisanten der radikalen Muslim-Guerrilla zu tun
zu haben.

Der Hochschullehrer Abdul Mohammed, 52, geriet 1990 in die Fänge
der gefürchteten Eliteeinheit Kopassus. Um das Geständnis zu
erpressen, er habe die Guerrilla unterstützt, rissen seine Peiniger ihm
die Fußnägel aus und schlugen ihn mit Tischbeinen. "Nach drei
Monaten Haft», sagt der schmächtige Mann, «hat meine Familie mich
nicht wiedererkannt."

Menschenrechtsgruppen schätzen die zivilen Opfer der letzten zehn
Jahre vorsichtig auf etwa 3000. Die Aufständischen sprechen von
mehr als 30 000 Toten. Ständig werden neue Massengräber
entdeckt.

"Auch wenn Wahid jetzt einen noch so weit reichenden
Autonomiestatus verspricht", sagt der Menschenrechtsaktivist
Wiratmadinata, "kommt das zu spät. Die Leute haben zu viel Terror
erlebt, ihre Geduld ist am Ende." Obwohl vergangene Woche der
Kommandeur der Streitkräfte in Aceh durch einen Einheimischen
ersetzt wurde, schlägt den Soldaten Jakartas nur noch Hass
entgegen.

Als sich Truppen in der Gegend von Lhokseumawe weigerten, die
rot-weiße indonesische Fahne einzuholen, brannten Demonstranten
kurzerhand die Kaserne und das Provinzparlament nieder. In einem
Vorort wurde ein Soldat splitternackt durch die Straße getrieben. In
Banda Aceh stürmte der Mob das Gefängnis und befreite mehr als
100 Insassen. Die Ordnungskräfte waren machtlos. Sie dürfen, damit
die Ausschreitungen nicht eskalieren, ihre Schusswaffen nicht mehr
benutzen.

Die aufziehende Anarchie könnte für Jakarta zum Alptraum werden.
»Wenn Wahid uns nicht bald ein Referendum gewährt«, droht Ismail
Sahputra, 34, Kommandeur der Guerrilla im Distrikt Pase, "erklären wir
ihm den Dschihad, den heiligen Krieg."

Die Guerrilla habe derzeit mehr als 1000 Mann unter Waffen und
könne schnell aufgestockt werden. "Mehr als 5000 Acehnesen sind in
Libyen ausgebildet worden", behauptet der gedrungene Mann.

Schon heute herrschen in Aceh die strikten Regeln des Islam. Der
Verkauf von Alkohol oder Frauenfotos auf Werbeplakaten sind streng
verboten. »Wir wollen zu unseren historischen Wurzeln zurückkehren«,
sagt Sahputra.

Aceh, traditionell Schnittstelle zwischen arabischer und asiatischer
Welt, galt über Jahrhunderte als Tor des Islam zu den indonesischen
Inseln. Weil die Aceh-Muslime sich nicht den holländischen
Kolonialherren ergaben, errichteten die Pfeffersäcke im einstigen
Sultanat eine Gewaltherrschaft, die bis Anfang des Jahrhunderts
zehntausende Opfer forderte. Erst die Zusicherung einer
weitgehenden Autonomie im jungen Indonesien überzeugte die
Acehnesen, sich dem Staatsgründer Sukarno anzuschließen. Doch
von ihm und seinem Nachfolger Suharto fühlten sie sich betrogen.

"Es hat gar keinen Sinn, mit Jakarta über etwas anderes als
Unabhängigkeit zu verhandeln", meldete sich vorige Woche Prinz
Hasan di Tiro, Thronfolger der letzten acehnesischen
Sultan-Dynastie, aus Stockholm zu Wort. "In wenigen Jahren wird
Indonesien in mindestens fünf Länder zerfallen sein."

Auch die südlich von Aceh gelegene Provinz Riau, in der rund 50
Prozent des indonesischen Erdöls gefördert werden, will unabhängig
werden. Gleiches gilt für Sulawesi und die unruhigen Molukken.

In Irian Jayas Hauptstadt Jayapura, gut 4000 Kilometer von Aceh
entfernt, gingen am Freitag mehrere tausend Menschen für die
Unabhängigkeit auf die Straße. Die Westhälfte Neuguineas, Heimat
von knapp zwei Millionen Menschen, die einen der größten Urwälder
der Erde bewohnen, war erst 1969 mit falschen Versprechungen dem
indonesischen Staat einverleibt worden.

Wahid weiß, welches schwierige Erbe er antritt. Im September hatte
ihn eine seiner letzten Wahlkampfreisen nach Aceh geführt. Wenn er
gekommen sei, um einem Referendum zuzustimmen, sei er
willkommen, empfingen lokale Politiker den Gast am Flughafen. "Wenn
nicht, können Sie gleich wieder umkehren."


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