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Otto schrieb am 11.11. 2001 um 13:39:35 Uhr über

Denken

Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.

Friedrich Wilhelm Nietzsche


Ich habe ein Heim, habe einen Herd, ein Auto, ein wenig Geld, ein friedliches bürgerliches Leben. Ich stehe Morgens auf und gehe zur Arbeit, komme abends müde nach Hause mit dem guten Gewissen mein Tagwerk vollbracht, und meine Zukunft ein weiteres Stück gesichert zu haben. Ich lese Zeitung und schaue Nachrichten, um weltpolitisch auf dem neuesten Stand zu bleiben, denn ich möchte ja mitreden können. Ich schimpfe auf den Staat und auf die Wirtschaftsbosse, ja auf alles was mir von den Medien als verachtenswert vorgesetzt wird. Am Sonntag schlafe ich aus, gehe abends ins Kino oder nett Essen in ein teures Restaurant. Weihnachten feiere ich im Kreise meiner Lieben, mit kleinen Geschenken und Gaben.. Zum Jahresende gehe ich ins Theater, manchmal zu einem Konzert, um auch mein kulturelles Dasein zu fördern.
Kurz und gut: Ich bin zufrieden.

Doch da ist etwas, ein kleiner bohrender Schmerz, so wie der Beginn von Zahnschmerzen, man spürt ihn, er ist stets präsent, doch noch stört er nicht. Erst nach einer langen Zeit fange ich an mir die Frage zu stellen: „Was stimmt mit mir nicht“. Um so heftiger der Schmerz wird, desto mehr denke ich nach, und mir fällt meine Kindheit ein, selten akzeptiert von den Anderen, oft ausgeschlossen und verstoßen. Damals habe ich mich gefragt, wo mein Fehler liegt, bin jedoch nie zu einer Lösung gekommen, später habe ich mich angepasst und sogar das gewonnen was man allgemeinhin „Freundenennt. Und trotzdem, da ist dieser Schmerz.

Eine Bekannte war in einer Vorstellung über Nietzsche gewesen, und als sie mir davon erzählt hat, strahlte sie eine Kraft aus, wie ich sie noch nie vorher gesehen hatte. Ihre Augen glänzten beim Erzählen, und ich beschloss, mir diesen Nietzsche einmal anzusehen. Da die Vorstellung zum letzten Mal gelaufen war, blieb mir nichts anderes übrig, als ein Buch zu kaufen, und da mein Leben von Vernunft geprägt ist, informierte ich mich vorher welches denn wohl das Richtige für mich sein könnte. So entschied ich mich für Zarathustra, und begann zu lesen.

Es ist ein wenig schwierig, sich in Nietzsche hineinzulesen, doch viel schwieriger ist es, als kleinbürgerlicher „homo normalis“, die Welt und das Denken der Figur Zarathustra zu verstehen. Dazu muss man die Möglichkeit besitzen, sich von seinen bisherigen Vorstellungen zu lösen und einen Blick über den Tellerrand hinaus zu werfen. Es war dieser kleine bohrende Schmerz, der mir dabei geholfen hat. Plötzlich schien es mir leicht, die letzten drei Jahrzehnte einfach wegzuwerfen, nur um alle Aussagen, alle Nuancen, alle Lebensphilosophien Zarathustras lesen, und vor allem um darüber NACHDENKEN zu können. Wenn ich jetzt sage: „Ich habe mich in Zarathustra wiedererkannt“, ist das nicht ganz richtig. Aber ich weiß jetzt, woher der Schmerz, dieser kleine bohrende Schmerz, der, wenn ich so darüber nachdenke, mein bisheriges Leben entscheidend mitgeprägt hat, kommt. Es ist die Differenz zwischen Gefühl und Verstand, es ist die Tatsache zu MÜSSEN ohne zu WOLLEN, zu WOLLEN, aber vielleicht nicht zu KÖNNEN. Ich will mein Leben verändern, muss dazu jedoch das Altgewohnte verlassen, materiell wie auch geistig. Ich will MEIN Leben leben, nicht das Leben welches mir von Traditionen, Gesetzen und Doktrinen aufgezwungen wird. Mein Glück ist mir zum Ekel geworden, ebenso meine Vernunft und meine Tugend, doch vielleicht ist es zu spät, den Sprung auf den Gegenzug noch zu schaffen. Dann bin ich verloren zwischen zwei Welten, ohne die Chance jemals in einer von beiden Fuß zu fassen.

Mich selbst erkannt zu haben ist das Ende eines langen Weges im Kampf gegen mich selbst, doch das Schwerste steht mir bevor, wenn ich es wage mich vom Alten zu lösen, Dinge zu tun, die im Widerspruch stehen zu meinem gesamten bisherigen Leben. Dies wird wohl der mühsamste Abschnitt auf dem Weg zu meinem eigenen Ich sein. Viel wird sich ändern, Freunde werden plötzlich keine mehr sein, wenn ich akzeptiere, dass ein Freund mehr ist, als jemand der mal abends auf ein Bier vorbeikommt. Ich werde Ängste überwinden lernen müssen, und darf mich nicht vor ihnen verstecken. Ich werde auch die ungeliebten Wahrheiten aussprechen müssen, wenn es notwendig ist. All diese Dinge, vielleicht noch viele mehr, stehen mir bevor, ohne das ich jemals ein Ziel sehen werde, ohne dass ich je wieder zufrieden sein werde. Somit ist die letzte große Frage die mir zu stellen bleibt: „War ich je zufrieden, will ich es jemals sein?“ Ich kann nur versuchen, die Schmerzen klein zu halten und damit zu leben.


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