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@xxx.com schrieb am 26.8. 2008 um 13:01:31 Uhr über

hei

Hei, hab gerade erst deine Mail geöffnet, entschuldige.

Ich kenne natürlich nicht alle Bilder (silhouetten sind doch streng genommen
Schattenrisse), aber das Spannende für mich als Seher oder als
Ausstellungsmacher wäre bei solch einer Bildfolge, zu verfolgen, mit wieviel
Reduktion wir einen Mensch noch als Mensch, eine bestimmte Bewegung noch in
ihrem Ausdruck und Fortgang erkennen. Ein Arm links oben, ein Bein rechts
unten, vom Kopf nur eine Hutkrempe und trotzdem erzeugen wir in uns das Bild
einer weiblichen Person, die seitlich abgewendet hinter einer Gazewand
steht. (Fast wie früher bei Dalli Klick)

Titel? Zitate? Hm, mal überlegen.

Ich fände ein schnoddriges 'Wieviel Mensch' als Opener nicht schlecht,
typographisch so, dass es offen bleibt, ob es eine Frage ist. Wieviel Mensch
braucht es, um ihn zu erkennen?

Die Personen haben auf den Bildern etwas transitorisches, das heißt, wie im
Fortgang begriffen, auf der Durchreise. Man kann an die großen
Teilchenbeschleuniger denken, in denen unterirdisch in gigantischen Tunneln
Teilchen beschossen werden, auf dass sie für einen kurzen Augenblick
sichtbar werden, aber sie werden eben nicht sichtbar, das sind bestenfalls
schon durch die Wahrnehmung gefilterte (Heisenbergscher Unschärfeeffekt, der
Beobachter konstituiert das Beobachtete immer mit) Momentaufnahmen,
stroboskopische Schnappschüsse von Unterwegs, eine Kollision bekommt man in
Millionen Malen nur ein einziges Mal mit. Aber aus den Leuchtspuren kann man
Wege erkennen, Beziehungen sichtbar machen, wie bei Malen nach Zahlen, wo du
die Linien zwischen den Punkten selbst ziehen musst.

Und wie du die Personen nach deinen Vorkenntnissen ergänzen kannst zu einem
ganzen Menschen, dessen Abbild (=Seele?) Dir als Betrachter aber weniger und
doch mehr gehört als ein vollständiges Bild (wenn du etwas Unvollständiges
in deiner Wahrnehmung ergänzt, ist das Ergänzte auch deins geworden), kannst
Du ihre Geschichten freier fortschreiben, als wenn sie in einer klar
umrissenen Umgebung stünden. Wenn alles ringsherum ein perfekt
ausgeleuchtetes Ambiente wäre und mittendrin diese 'Überreste' von Menschen,
es wäre ein Massaker oder eine Geistererscheinung. Aber die Fotografin hat
es gnädig gemeint und auch die Umgebung unserer Vorstellung überlassen, auf
dass wir selbst entscheiden können, ob die abgebildeten Person gerade kommen
oder gehen, ihre Dimensionalität verlieren oder gewinnen, wie bei einem
Rorschachtest, du entscheidest selsbt, wie weit du über die Schwelle trittst
oder die etwas geisterhaften Silhouetten aus dem Rahmen treten lässt.

In der Musik gibt es das Prinzip der Kadenz:

Die klassischen Klavierkonzerte von Mozart oder Beethoven zum Beispiel sehen
eine oder mehrere Stellen im Konzert vor, wo der Pianist mal so richtig die
Sau rauslassen kann und zeigen, was er drauf hat. Dafür gibt es Kadenzen.
Das sind Stellen, die der Klavierspieler ohne Orchesterbegleitung spielt, wo
also alle Aufmerksamkeit auf ihm und dem, was er da spielt, ruht. Was er nun
zu spielen hat, eben diese Kadenz, wird manchmal vom Komponisten nicht
zwingend vorgeschrieben, sondern Beethoven (um den berühmtesten Fall zu
nennen) gibt zum Beispiel die Tonart und den Tonumfang vor, markante Akkorde
vielleicht, die Taktzahl und natürlich den Moment, da das Orchester wieder
mit einsetzt - die Ausgestaltung jedoch bleibt dem jeweiligen Pianisten
überlassen. Vielleicht improvisiert er während des Konzerts selbst über das
Notenmaterial, oder er greift auf eine der klasssichen Kadenzen seiner
Vorgänger zurück.

Immer jedenfalls ist ein Moment in der Kunst, wo nicht nur der Künstler,
sondern auch der Interpret oder unmittelbarer noch der Rezipient ergänzend
eingreift, eingreifen kann, ein besonders spannender. Deshalb sehe ich deine
Fotos AUCH als Sequenzen eines Films, den ich mir selbst ausmalen muss,
Filmstills halt. Wieviel Bilder hat das Kino pro Sekunde? 24 oder so. Würde
sich zum Beispiel die Frau hinter dem Schleier nur zehn Sekunden lang
drehen, wären das gefilmt 240 einzelne Bilder, lauter faszinierende
Körpermobiles, so wirkt das etwas auf mich, was kann man in zehn Sekunden
alles tun. Und wenn ich nur zwei Bilder sehe? Vielleicht einen Augenblick,
vielleicht eine Sequenz auseinander, ich bilde trotzdem aus dem 1+1 ein 3,
da kommt etwas Raum zu, etwas Zeit, und schon ist es der Keim einer
Geschichte.

Schick ich mal so ab.


P. S.: Ich wollte nur mal sagen, dass ich Dich und unsere Familie über alles
liebe und kein Tag vergeht, an dem ich nicht voll letztendlich guter
Empfindungen an euch alle denke. Diese 'Blockade', gepaart mit mancherlei
ungeselligen Beschäftigungen, ist mir zwar selbst stets aufs Neu Grund zum
Kummer, aber ich bin noch nicht ganz durch, sage ich einfach mal. Und das
hat nichts damit zu tun, dass ich mit irgendwem ein Problem hätte, am
wenigsten mit mir selbst - halt, letzteres ist falsch: Wenn ich da
angekommen bin, dass ich mich so mag wie euch, können wir Einweihung feiern,
denke ich mal. (Diese Nachricht raucht sich selbst in 10 Sekunden)



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