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paddyver schrieb am 28.11. 2005 um 00:22:11 Uhr über

Ich

Ich wartete auf ihren Anruf.
Sie hat sich seit einer Ewigkeit nicht mehr bei mir gemeldet und das, obwohl sie versprochen hatte, mich am nächsten Tag anzurufen. Das war vorgestern. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich seit einem Autounfall, der sich vor einer Woche ereignete, ans Krankenbett gefesselt bin. Der Audi hat mir beide Schienbeine gebrochen und ich weiß nur noch, dass er die Farbe Bordeaux hatte, meine Lieblingsfarbe, auch jetzt noch.
Ein Windstoß hat mir meine (bordeauxfarbene) Lieblingsmütze vom Kopf geweht. Das ist mir schon öfters passiert, schließlich war die Mütze mir mindestens zwei Nummern zu groß. Sie hatte ein kariertes Muster, in dem sich dunkles und helles Bordeaux miteinander abwechselten, und sie hatte an den Seiten zwei flauschige Klappen zum Warmhalten der Ohren. Vielleicht sah sie an mir deswegen und auch wegen der Übergröße ein wenig...naja...fehl am Platze aus. Aber auch, wenn die anderen Kinder sich über mich lustig machten, diese Mütze gehörte meinem Vater - meinem richtigen Vater und sie bedeutete mir sehr viel.
Einmal bin ich von einem Schiff gesprungen, ich habe es wirklich getan! Die Mütze entfernte sich wie in Zeitlupe von mir weg, wirbelte durch die Luft, vollführte einen astreinen Looping und schlug mehrere Salti...und ich tat es ihr, ohne nachzudenken, einfach nach - so gut ich konnte, jedenfalls, damals war ich schließlich noch etwas klein und unbeholfen. Ich spürte kaum einen Aufprall. Aber das Wasser war eiskalt und spülte das wohlig-warme Zeitlupengefühl der Trance , in der ich mich bis dahin befand, von meinem klatschnassen Körper. Ich frierte und ein bisschen Angst hatte ich auch. Aber ich hatte meine Mütze wieder. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass das, was ich da gerade getan habe, auch wenn es unüberlegt und gefährlich war, richtig und vor allem gut war. Das Schiff stoppte unmittelbar und auch, wenn es gut hundert Meter entfernt war, glaubte ich, die Panikschreie meiner Mutter zu hören. Sie hatte schon immer ein sehr kräftiges Organ und war auch schon immer sehr, sehr, sehr besorgt um mich gewesen. Ich fand, das war eine sehr ungünstige Kombination. Wenn sie sich richtig aufregte, fühlte ich mich an auf bestialische Weise gequälte Delfine erinnert. Auch wenn ich niemals erlebt habe, wie gequälte Delfinlaute sich in Wirklichkeit anhören.
Diese wurden jedenfalls immer lauter, während ein herabgelassenes Ruderboot mit meiner Mutter gleich einer Gallionsfigur an seiner Spitze zu meiner Rettung nahte.
Ich kann mich ehrlich gesagt nicht an besonders viel aus dieser Phase meiner Kindheit erinnern, nur daran, dass ich die meiste Zeit über sehr phlegmatisch, geradezu geistesabwesend gewesen bin. Das war ich auch, als meine Mutter mich schlug und mich tüchtig vor allen Leuten ausschimpfte. Andere Passagiere fühlten sich dazu veranlasst, sie kontinuierlich darin zu bestätigen, sie sogar lauthals darin zu unterstützen, so als wolle man ein Lagerfeuer daran hindern, auszubrennen. An mir ging das alles vorbei. Unbemerkt von allen betätigte ich den geheimen Muskel, den nur ich habe und der meine Ohren von innen verschließt. Die schädlichen Schallwellen fanden somit keinen Weg in meinen Kopf und gingen wirkungslos an mir vorüber. Vielleicht hat der kleine Hund hinter mir sie alle abbekommen. Er sah sehr traurig aus.
Am nächsten Tag bekam ich eine dicke Erkältung, die zwei Wochen anhielt. An mehr kann ich mich nicht erinnern.

Diesmal hat das Schicksal meine Mütze und mich auf die Hauptstraße geführt. Hier fuhren jeden Tag eine Menge LKWs entlang. Doch an diesem Tag begegnete ich einem bordeauxfarbenen Audi.
Besser gesagt, ich flog frontal durch seine Wundschutzscheibe und landete mit verrenkten Armen auf seinem Rücksitz. Ich war bei vollem Bewusstsein - während des Unfalls und danach, als sie mir die Splitter aus dem Gesicht gezogen haben. An mir ging das jedoch alles vorbei. Es war mir geradezu egal. Nur die Mütze ließ ich an dem Tag nicht mehr los.
Am Tag nach der Operation bekam ich Besuch vom Unfallfahrer und viel Süßigkeiten. Danach kam der Anruf von IHR.
Sie fragte, wie es mir geht, ob ich die alberne Mütze gerade aufhätte(Ich erklärte ihr, sie läge nun einen halben Meter von mir entfernt in einer Schublade) sie würde mich bald besuchen kommen, sie hat sich die Haare gefärbt und ich solle ihr sagen, wie es aussieht, wenn sie dann da ist, und es sei komisch, dass das englische »also« im Deutschen als »auch«, das deutsche »also« im Englischen jedoch als »so« übersetzt wird, dass das deutsche »so« wiederum im Englischen als »like this« gebraucht wird, und dass Englisch sowieso eine komische Sprache sei.
Jedenfalls hätte sie plötzlich keine Zeit mehr und müsste auch dringend mal auf Toilette. Bevor sie ohne Abschiedsgruß den Hörer auflegte, versprach sie mir, mich am nächsten Tag noch einmal anzurufen.

Das war gestern.
Heute ist Bordeaux noch immer meine Lieblingsfarbe, noch immer drückt meine Mutter ihre Besorgnis in Delfinlauten aus, noch immer liegt mein Vater tot unter holländischer Erde und noch immer warte ich auf den Anruf des einen Mädchens,
das ich liebe.



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