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ich muß los schrieb am 10.4. 2003 um 22:16:10 Uhr über

Groschenromane

tante lollo war dick und wohnte in england. sie trug weite kleider, aus denen ihr kopf herausragte wie ein fröhlicher kürbis, und kolzklotschen, die den schritt auf dem fliesenboden hallen ließen wie hufeklappern. sie kam selten zu besuch, aber dorst wohnte zwei sommer bei ihr. seine eltern brachten ihn hin und fuhren weiter, um gotische kathedralen zu fotografieren. dorst durfte bleiben, schüttete sich morgens schokoladenstreusel auf den toast und ging jeden zweiten tag, ohne ein wort zu verstehen, ins kinderkino. tante lollo fragte ihn nie, was er später werden wollte. wenn er sie fragte, tante lollo, was hast du für einen beruf, dann sagte sie, welchen beruf findest du denn gut. dann sagte er, lokführer oder tierarzt oder dschungelarzt oder orgelspieler, und sie sagte, genau, das bin ich. sie erzählte ihm geschichten von todesmutigen lokführern oder von dem tierarzt, der sich mit einem löwen anfreundete. wenn er für die playmobilmenschen burgen baute, ließ sie sich auf ihre ballförmigen knie nieder und saß wie ein freundliches zelt neben ihm auf dem teppich. sie konnte kleine teigzylinder mit rosinen backen und holte an verregneten tagen plastiktüten mit feuchtem sand aus dem park. die tüten leerte sie in der küche aus, und dorst baute daraus landschaften. wenn das telefon klingelte, meldete sie sich mit einer hohen, aufgeregten stimme und kicherte viel. sie ging fast nie aus dem haus, aber ihre backen waren immer rot.

die mutter wollte, daß dorst musiker oder mediziner würde. lange sagte dorst, wenn man ihn fragte, was willst du denn mal werden, wenn du groß bist, mediziner. als er noch zu klein war, um das wort auszusprechen, sagte er, doktor. aber dorst konnte kein blut sehen. einmal fand er zusammen mit gregor eine tote amsel. ihre augen waren offen und blank. an einer stelle waren ihre blauschwarzen federn verklebt. die blutet, sagte gregor und holte einen stock. ich geh da mal ran, sagte er und stocherte mit dem stock in ihren federn. dorst merkte, wie sich alle geräusche plötzlich in einem hohen summen auflösten und sein magen sich zusammenkrampfte. er setzte sich auf den boden und hielt den kopf in den händen, bis die geräusche wiederkamen. dann lief er weg, ohne sich nach gregor umzudrehen, der hinter ihm herbrüllte, mensch, was ist denn, wir wollten sie doch beerdigen.

zwei jahre, nachdem sich dorsts vater zu tode gehungert hatte, fand der paketbote tante lollo tot im vorgarten. ihr vorgarten war winzig, heckengesäumt und voller löwenzahn. weißt du, warum löwenzahn löwenzahn heißt, hatte tante lollo ihn gefragt. weil es früher eine sorte löwen gab, die hießen graslöwen. die waren klein und grün und zäh. sie fraßen keine menschen, aber dafür rasenmäher. nachts schlichen sie in die gartenhäuschen, schuppen und schrebergärten und fraßen den leuten die rasenmäher weg, mit stumpf und stiel. weil die leute ihren rasen nicht mehr mähen konnten, wurden die gärten ganz unordentlich, und das machte die leute wütend. sie gingen auf safari und schossen alle graslöwen tot, die sie kriegen konnten. der letzte graslöwe spürte, daß er keine chance mehr hatte. er versteckte sich zwischen gartenzwergen und gießkannen, aber die leute würden ihn finden, das wußte er. da biß er ins gras, so fest, daß seine zähne darin stecken blieben. da konnte er ja nichts mehr essen, sagte dorst. wollte er auch nicht, sagte tante lollo. er wollte lieber verhungern. und als er tot war, steckten immer noch seine zähne im gras, und die vermehrten sich wie wild, und bald wuchsen überall löwenzähne. die leute rissen sie aus und streuten gift, aber die löwenzähne waren nicht totzukriegen.
dorsts mutter bekam einen brief mit schwarzem rand und einem luftpostaufkleber. am nächsten morgen vor der schule nahm dorst den brief, ging zu seiner geheimen stelle und vergrub ihn dort zwischen den disteln. ich will, daß tante lollo nicht tot ist, sagte er. er sagte es dreimal, dann kniete er sich auf die disteln und rollte sich zur seite.
weil er aufgehört hatte, die wahrheit zu sagen, konnte er gregor nicht erzählen, daß tante lollo tot war. gregor wollte mit ihm groschen auf die straßenbahnschienen legen und warten, bis eine bahn käme, die die groschen zu flachen medaillen walzen würde. gregor wartete auf den kleinen sprung, wenn die räder über den groschen ruckten, und sammelte die medaillen ein. die entgleist, sagte er fachmännisch, wenn sie umkippt, sterben ein paar leute. oder brechen sich den arm. dorst wollte nicht sehen, wie die bahn entgleiste, und sagte, ich muß los. hosenscheißer, meinte gregor. das hatte er noch nie gesagt. dorst spürte die tränen und ein bitteres gefühl im hals. zu hause schaute er seine sammlung von groschenmedaillen an. sie waren plattgewaltzt und oval. die zahlen und das bäumchen konnte man nicht mehr erkennen, nur noch feine striche. gregor hatte mehr.

dorsts mutter saß im wohnzimmer und schrieb. sie schrieb dauernd und wild. nach der beerdigung des vaters, zu der dorst nicht durfte, hatte sie damit angefangen. dorst konnte ihre schrift nicht lesen. er hatte es versucht und eines ihrer hefte angeschaut, als sie bei kahlmann einkaufen war, aber er sah nur lange kulischwünge. was schreibst du, hatte er sie gefragt. über vati, sagte sie. komme ich auch drin vor, fragte er. zwangsläufig, sagte sie. sie versuchte nicht mehr, ihn von hinten zu umarmen. bin ich dann berühmt, wenn ich in einem buch stehe? ach fröschchen, sagte sie. berühmt mußt du schon selber werden. wie denn, fragte er und wußte, was sie sagen würde. vielleicht wirst du ein berühmter mediziner und machst ganz viele leute gesund. oder musiker, und du spielst so schön wie niemand anders auf der welt. so wie gapardo. weißt du noch. den wir mit vati gesehen haben, im münster. gapardo hatte dürre schultern und wenige, lange haáre gehabt. der hat aber blöd ausgesehen, sagte dorst. es kommt nicht darauf an, schrie seine mutter plötzlich, wie er aussieht. was meinst du, sie schrie lauter, wie dein vater am ende ausgesehen hat. ihre backen wurden lila. ihre augen verschwanden in den kleinen hautsäcken auf den lidern. mami, sagte dorst, aber sie war so laut, daß sie ihn nicht hörte. dorst ging in sein zimmer und holte die medaillen. du kannst eine haben, schrie er, damit die mutter ihn hören konnte, und hielt ihr den kasten hin. sie schüttelte die hände. dorst suchte eine besonders flache medaille aus, legte sie auf die kante des couchtischs und ging wieder in sein zimmer.
er hatte schon oft ins arbeitszimmer gehen wollen. vielleicht hatte der vater einen zettel für ihn neben die lampe gelegt. aber die tür war immer noch abgeschlossen.






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