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© Grafshop schrieb am 9.11. 2019 um 17:54:53 Uhr über

Zukunft

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Wahlabend

Stefan Schmidt verfolge vom Bürostuhl seines Amtszimmers aus die Hochrechnungen. Bei den Sozialdemokraten herrschte Jubel. Die konservative »Land-Partei« hatte ihre Mehrheit verloren und sie rechnete sich deshalb sehr gute Chancen aus, die nächste Regierung zu stellen. Die Fernsehreporter interviewten die verschiedenen sozialdemokratischen Politiker. Es war jetzt 18:07 Uhr. Die Wahllokale waren grade erst 7 Minuten geschlossen und die allerersten Hochrechnungen kamen herein.
Ungefähr jetzt begann sein Telefon sturmzuklingeln. Seine SekräterInnen hatte die strikte Anweisung erhalten, niemanden durchzustellen. Sollte ein Parteivorsitzender oder Spitzenkandidat anrufen, so wäre die Auskunft lediglich, dass der Präsident die Frage der künftigen Regierung nicht per Telefon besprechen will. Es gab nur eine Ausnahme, eine Person, die er höhren wollte.
Schmidt kippte sich einen Whisky ein.
Seit dem Zusammenbruch der Europäischen Union anfang der 2020er Jahre wegen der Eurokrise waren nun fast 20 Jahre vergangen. Die Nordeuropäische Union oder die »Kopenhagener Union«, zusammengesetzt aus den skandinavischen Ländern, den Benelux-Ländern, Deutschland und Österreich, war ein Produkt dieses Zusammenbruches. Seine Verfassung und die Mentalität dieses Staatsystems waren ein Ergebnis der Krise gewesen, aber sie hatten sich inzwischen stabilisiert.
Stefan Schmidt war der Präsident der Kopenhagener Union, sein Amtssitz war in Berlin. Er war bereits der vierte Präsident dieser Union. Das Amt des Präsidenten wurde direkt durch das Volk der Kopenhagener Union für 5 Jahre gewählt. Es gab in der Regel zwei Wahlgänge, im ersten war der gewählt, der die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt, berechnet auf die Wahlberechtigten. Dies war noch niemals jemanden gelungen. Im zweiten Wahlgang fand dann eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen statt und in dieser hatte derjenige gewonnen, der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte.
Der Präsident war nur das Staatsoberhaupt der Union, das bedeutet, er hat in erster Linie repräsentative Aufgaben, unterschreibt Gesetze und internationale Verträge, die andere geschrieben haben und nimmt Botschafter ab. Es ist nicht vorgesehen, aber der maximale Einfluss des Amtes auf die Realpolitik war, dass der Präsident eine Art »Schattenaußenpolitik« betrieb, indem er Staatsbesuche machte und die Beziehungen zu ländern verbesser. Schmidt hatte von dieser Möglichkeit gebrach gemacht, organisierte Besuche in den USA und Russland. Beides Länder, zu denen die Regiergung lieber auf Distanz blieb. Für Schmidt ein Zeichen der typischen politischen Dummheit, die schon die EU zerstört hatten. Das waren eben die mächtigsten Machtblöcke der Welt, deshalb musste sich die Kopenhagener Union auch irgendwie zu ihnen verhalten.
Der Sieg der Sozialdemokraten war doppelt ärgerlich für Schmidt. Der erste Grund war, dass ihn seine Genossen bei der Wahl zum Präsidenten im Stich gelassen hatten und ihn erst im zweiten Wahlgang formal unterstützten. Das hatte er seinen Genossen niemals verziehen und das würde er sie spüren lassen. Der andere Grund war politischer. Das Assoziierungsabkommen mit Frankreich müsste zumindestn in Teilen neu verhandelt werden, denn die Sozialdemokraten wollten mehr Arbeitnehmerrechte reinbringen.
Schmidt wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn es klingelte das Telefon. »Ja«. »Herr Präsident, es ist Gustavson«, sagte seine junge Sekretärin, das war die Ausnahme. Präsident Schmidt lachte, »durchstellen!«.
»Hallo Mister Präsident«, keuchte es aus den Telefon. »Hallo Herr Gustavson«, antwortete er. Das war ein deutliches Signal. Gustavson bekleidete formal zwar noch das Amt des Erstministers und war damit Regierungschef, aber seine Amtszeit würde enden, sobald das neue Parlament zusammentrat. Die beiden Männer hatten eine spannungsreiche Zusammenarbeit gehabt. Natürlich war Schmidt letztlich kein großes Problem für ihn gewesen, als Präsident bestanden seine Möglichkeiten nur darin, Interviews zu geben, Reden zu halten und immer wieder zu warnen. Es war auch letztlich nicht Schmidt, der Gustavsons Regierung endlich zu fall brachte, oder die sozialdemokratische Opposition, der er zufällig angehörte, sondern der Wähler. Schmidt sah auf die neusten Hochrechnungen, »na, wie ist das Wetter so bei euch in Luxemburg«? »Das Wetter«, lachte es aus dem Hörer, »du Arsch willst mir damit nur sagen, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben«. »Oh nein, Bürger Gustavson, ich hätte Ihnen noch eine ganze Menge zu sagen, aber was würde das jetzt noch bringen?«, er musste nur das offensichtliche ansprechen, um Gustavson zu verärgern. Dieser musste sich sehr zurückhalten, aber wollte auch kein schlechter Verlierer sein. Gustavson sagte höflich, »also wird es deine Genossin, Marianne ter Velde«?
Der Präsident lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Es war ein herrliches Gefühl, denn es war eine der wenigen verfassungsrechtlich vorgesehenen Situationen eingetreten, indem er durch sein Amt echte Macht ausüben konnte. Wenn auch nur in einer einzigen Frage. »Das weiß ich noch nicht«, sagte er, »Marianne hat zwar mehr Stimmen als die konservative Landpartei, aber sie hat keine Mehrheit im Parlamet. Ein klarer Wählerwille liegt nicht vor. Sie sollte sich potenzielle Koalitionspartner suchen, vielleicht die, äh, Grünpartei oder so«. Gustavson musste bei dem Gedanken lachen. »Marianne würde sich eher selbst in den Arsch beißen als...«, sagte er amüsiert. Ja, Schmidt konnte komisch sein, wenn man ihn nicht grade als großen ideologischen Gegner vor sich hatte. Wäre er nicht Präsident oder kein Sozialdemokrat, hätte sich Gustavson sehr darüber gefreut, mit ihn zusammenzuarbeiten. In dem Moment wurde ihn etwas klar. »Heißt das«, rief er ins Telefon, »du wirst sie nicht für den ersten Wahlgang vorschlagen, sondern jemand anderes«?
Die Verfassung der Kopenhagener Union kannte die Trennung zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef. Das Staatsoberhaupt, der Präsident, wurde direkt gewählt, aber der Regierungschef, der »Erstminister«, nicht. Wie in parlamentarischen Demokratien üblich ging die Verfassung davon aus, dass der Wähler die Regierung durch die Mehrheit im Parlament bestimmen will.
Der übliche Prozess, der für die Einsetzung des Erstministers verantwortlich war, sah so aus: Sobald die Regierung durch irgendwelche Umstände erledigt war, ernannte der Präsident einen neuen Erstminister. Dieser musste sich im Anschluss dem Parlament vorstellen und sich dort einigen Fragen unterziehen, sein Kabinett vorstellen und ggf. den Koalitionspartner auf seine Seite ziehen. Darauf wurde die Vertrausfrage gestellt, die Abgeordneten ziehen sich dazu in Kabinen zurück und können dort geheim abstimmen, ob sie die Regierung unterstützen würden oder nicht. Die Regierung konnte im Wesentlichen unter drei Umständen erledigt werden, erstens Rücktritt (noch nie vorgekommen), zweitens das Zusammentreten eines neuen Parlamentes, welches den Posten des Erstministers automatisch vakant machte, drittens scheitern der Regierung bei einer Vertrauensfrage. Wenn der Fall nach der Parlamentswahl eindeutig war, etwa weil es klare Koalitionsabsprachen gab oder eine Partei die Mehrheit errungen hatten, war das reine Formalität. Der Präsident setzt ein, die Vertrauensfrage wird bestanden und die Regierung nimmt ihre Tätigkeit auf.
Interessanter war der Fall, wenn ein Problem auftrat, z. B. keine eindeutige Mehrheit im Parlament zustande kam oder eine Regierungskoalition zerbrach. Das war bisher nur zwei Mal vorgekommen, beide Male direkt zu beginn der Kopenhagener Union, während der ersten Legislaturperiode. Im erste Parlament waren die Parteien noch nicht klar organisiert und Präsident Bach musste eine Entscheidung treffen. Dabei kam es zur ersten Regierung unter dem Erstminister Traustason, eines der Aktivisten, die die Kopenhagener Union vorangetrieben hatte. Nach nur zwei Jahren im Amt, brach seine Koalition aus Pro-Unionskräften zusammen und er stellte die Vertrauensfrage, die er prompt verlor. Präsident Bach schlug daraufhin verschiedene Kandidaten vor und es kam letztlich zu Neuwahlen.
Das Parlament hat nämlich nicht das Recht, sich selbst aufzulösen, sondern kann nur turnusmäßig neu gewählt werden oder durch den Präsidenten aufgelöst werden, um Neuwahlen zu ermöglichen.
Der Präsident kann nämlich bis zu drei Kandidaten als Erstminister vorschlagen. Scheitert auch der 3. Kandidat bei der vorgeschriebenen dritten Vertrausnfrage, hatte der Präsident viel mehr Möglichkeiten. Er konnte das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen oder er konnte wieder einen Kandidaten vorschlagen. Damit hatte er ein echtes Druckmittel gegen die Parteien und Parlamentarier. Das Parlament könnte sich dagegen nur mit einer Anklage vor dem obersten Gerichtshof in Wien verteidigen, der Präsident war durch Amtseid und Verfassung zur »Verhütung von Staatskrisen« verpflichtet. Das wurde noch nie probiert, war aber laut Staatsrechtlern höchstens dann erfolgreich, wenn wirklich eine klare Mehrheit im Parlament für einen Kandidaten bestand und selbst dann könnten die Neuwahlen schon einsetzten, während die Anklage noch verhandelt wurde.
Unter normalen Umständen ist das natürlich nur graue Theorie, nur wenn die Mehrheiten unklar sind, kann der Präsidenten von Amts wegen quasi eine Regierung einsetzen.
War die Regierung erst Mal eingesetzt, hatte der Präsident keine reale Macht, sondern übte nur repräsentative Aufgaben aus, doch im Fall einer Regierungskrise war er am Ball und konnte tatsächlich etwas verändern.
Schmidt trank etwas von den Whisky. Endlich wäre seine Stunde gekommen..."

© Grafshop 09.11.2019
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