Wackelt die Rechtschreibreform?
Statt einer einheitlichen Orthographie gibt es nun dreiundzwanzig — das Chaos ist perfekt.
Ein Jahr lang wird nun die neue Rechtschreibung in vielen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften gepflegt. Doch von einer Umsetzung des als amtlich bezeichneten Regelwerks kann keine Rede sein: Neun Zehntel der hundert Millionen Menschen, die Deutsch sprechen und schreiben, tun dies in der bisherigen Rechtschreibung. Die Medien haben sich interne Hausorthographien ausgedacht, um einige besonders heikle Fälle zu vermeiden. Der Duden trennt die Wörter anders als das Bertelsmann-Wörterbuch. Diskrepanz auch innerhalb des Duden-Programms: Im großen zehnbändigen Wörterbuch gibt es zahllose Unterschiede zur Anwendung des Regelwerks im einbändigen Duden. Diskrepanzen allerorten: Die Rechtschreibkommission der deutschen Kultusminister änderte bereits im Vorfeld der Umstellung das Regelwerk soweit ab, daß die Kultusminister nicht mitzogen und die alte Fassung durchsetzten. Heute, ein Jahr nach dem Zerfall der einheitlichen Orthographie, überlegen bereits mehrere große Tageszeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine, weite Teile des Reformwerks nicht mehr umzusetzen, sondern wieder zur landläufigen Rechtschreibung zurückzukehren. Unterdessen ist ein neues Wörterbuch erschienen, das den letzten Stand der traditionellen Rechtschreibung dokumentiert.
Dabei hat zumindest die computergestützte Rechtschreibprüfung bei den Zeitungen den positiven Effekt, daß zahlreiche Fehler der Redakteure automatisch gebügelt werden. Man muß nur irgendeine Tageszeitung aufschlagen, um des Zusammenhangs zwischen dem gesteigerten Tempo der Informationsgesellschaft und dem Niedergang redaktioneller Kultur gewahr zu werden. In den meisten Publikationen achtet man nicht mehr darauf, ob die Rechtschreibung stimmt, allenfalls ist man bemüht, st zu trennen und aus vielsagend zwei Wörter zu machen. Den Grund für den orthographischen Schlendrian kann man zumindest bei den Tageszeitungen in den immer weiter verkürzten Produktionszyklen zwischen Niederschrift der Texte und Auslieferung der fertigen Zeitung sehen. Bereits ein gutes Jahrzehnt liegt es zurück, daß man bei manchen überregionalen Tageszeitungen den Posten des Lektors einfach strich, und zwar fast ausschließlich aus Kostengründen.
Obwohl seither die Redakteure die Texte ihrer Kollegen gegenlesen, wie sich ja auch die Friseure gegenseitig die Haare schneiden, wurde das Quantum an Fehlern zunächst größer. Ausgeklügelte Werbesprüche, die sich heute für jede ambitionierte Zeitung stark machen („Die neue Qualität des Lesens“, „Die Zeitung für Leser“, „Die bessere Zeitung“), sind oft nur noch der marktstrategische Putz, unter dem die Fehler, Stilblüten und Unordentlichkeiten nur so wuchern. Wenn in der Zeitung jeden Tag aufs neue eine niedrige grammatische Kultur gepflegt wird, so wird der Leser doch permanent mit Fehlern konfrontiert, die letztlich auch auf sein eigenes Sprachgefühl wirken. Die Folge: Fehler in Tageszeitungen fallen den meisten Menschen überhaupt nicht mehr auf.
Der Zeitung wurde niemals der Wert beigemessen, den sie für die Dokumentation des Tagesgeschehens eigentlich hat, und darin liegt der Grund dafür, daß man sich mit weiteren qualitativen Abstrichen sehr leicht tut. In einer in Wien erscheinenden überregionalen Tageszeitung gibt es immerhin noch ein Lektorat, doch besteht es aus zwei Lektoren und einer Studentin, in Hinblick auf den ständig steigenden Umfang dieser Zeitung schon jetzt eine regelrechte Unterbesetzung; denn wenn einer ausfällt, beschränkt sich der andere nur noch auf das Lesen von Überschriften und Bildlegenden. Die Beilage, mithin das sammelnswerte Filetstück einer Zeitung, wird aufgrund dieser Überforderung überhaupt nicht betreut. Wenn die beiden Lektoren in Kürze das Pensionsalter erreichen, werden ihre Stellen eingespart. Eine andere große Tageszeitung, die ebenfalls in Wien erscheint, hat bereits seit zehn Jahren keine Lektoren mehr und tröstet sich damit, daß es ja eigentlich ein Ansporn für die Redakteure sein könnte, sich nicht auf eine prüfende Instanz verlassen zu können. Dort liest man dann eben gegenseitig. Als wichtige Ursache für den Niedergang des Lektorats werden auch die gewandelten Produktionsabläufe verantwortlich gemacht. Aktuelle Berichte haben Vorrang, dadurch bleiben auch Kommentare und Hintergrundberichte länger liegen, bevor sie von irgendwem durchgesehen werden. Die Folge ist, daß — wenn es überhaupt noch einen Lektoren gibt — alles im letzten Moment über ihn hereinbricht und er für das Lesen einer voluminösen Freitagszeitung nur noch zwei Stunden Zeit hat.
Deshalb verläßt man sich mittlerweile weitgehend auf die automatischen Rechtschreibprüfungsprogramme der Computer. So gut und bequem das auch seim mag, es verleitet zum Abschied von der eigenen Qualität. Eine gewissenhafte und gründliche Prüfung, ein Nachschlagen in Zweifelsfällen oder überhaupt die eigene Befähigung zum fehlerfreien Schreiben sind heute nicht mehr angesagt. Auch vor diesem Hintergrund muß man die Wirkungen sehen, die von der Umstellung der Rechtschreibung ausgehen. „Das Regelwerk ist sprachwissenschaftlich so schlecht, daß wir auf seiner Basis nie zu einer einheitlichen Schreibung zurückkehren können. Und hier können Sie sehen, daß das Regelwerk sprachwissenschaftlich auf den Müll gehört“ sagte Peter Eisenberg, Mitglied der Reformkommission, im Jahr 1997 dem Sender Freies Berlin. Nachdem es schon den Anschein hatte, die Kritiker der Reform seien am Verstummen, häufen sich in letzter Zeit Berichte, nach denen die Rechtschreibreform stillschweigend zurückgebaut werde. Die kruden Trennungen bei Adjektiven und Verben wurden schon weitgehend wieder zurückgenommen, weil sie zu schweren Sinnentstellungen führten. Durch die Änderungen und Rücknahmen ist die Einheitlichkeit der Orthographie nicht mehr gegeben, denn was man wie schreibt, hängt nun davon ab, welches Wörterbuch gerade zur Hand ist. Wer die neue Rechtschreibung anwendet, nimmt sich davon, was ihm paßt: Selbst die Nachrichtenagenturen und Redaktionen orientieren sich nicht an den Regeln selbst, sondern an ihrer hausinternen Auslegung. Durch die redaktionelle Konvertierung von Schreibweisen werden Leserbriefschreiber, Redakteure und sogar die Autoren von Traueranzeigen einem orthographischen Diktat unterworfen, das praktisch permanent zu Sinnentstellungen führt.
Die umstrittene Rechtschreibreform ist großen Teilen der Bevölkerung offenbar nicht vermittelbar und wird deshalb stillschweigend überarbeitet. Nach Informationen der Tageszeitung DIE WELT hat die Rechtschreibkommission aus negativen Erfahrungen gelernt und plant bereits tiefgreifende Änderungsvorschläge. Für zahlreiche Schreibweisen, die im ersten Duden nach der Rechtschreibreform verbindlich festgelegt waren, sind wieder mehrere und damit auch herkömmliche Schreibweisen zugelassen. Zuvor war bereits das zehnbändige „Große Wörterbuch“ des Duden von zahlreichen amtlichen Neuschreibungen wie „am Aufsehen erregendsten“, „noch viel sagender“ und „schwer Behinderter“ abgerückt. Wie gravierend die Folgen der Reform von der Reform sind, beweist der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler. Seine Nachforschungen haben ergeben, dass allein mit „wiedersehen“ zwei Dutzend ähnlicher Verben wieder in herkömmlicher Weise geschrieben werden. In einigen Verlagen wird deshalb bereits die Revision der Hausorthographie vorbereitet. Auch SPIEGEL ONLINE teilt mit: „Experten arbeiten angeblich unter Hochdruck und völliger Geheimhaltung an einer radikalen Reform der Rechtschreibreform. Schon der neue Duden soll zahlreiche Überraschungen — und alte Bekannte — enthalten.“
Unterdessen hat sich im Internet ein Netz der Reformgegner formiert, das von verschiedenen Sprachpflegevereinen und der neugegründeten österreichischen Zeitschrift DEUTSCHE SPRACHWELT getragen wird. Dort ist beispielsweise zu hören, daß kritische Leserbriefe und Redaktionsbeiträge von den Angehörigen eines opulenten Medienkartells systematisch unterdrückt werden. In der Tat sind selbst Zeitungen, die während der Diskussion um die Einführung der neuen Regeln noch fleißig mitmischten, inzwischen auffällig stumm geworden. Diskussionsforen, die beispielsweise über die DEUTSCHE SPRACHWELT oder das Nachrichtenmagazin FOCUS organisiert sind, zeigen deutlich, daß die Neuschreibung noch lange nicht von der Bevölkerung akzeptiert ist. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß die Verkaufsauflagen der vor einem Jahr auf neue Rechtschreibungen umgestellten Zeitungen deutlich zurückgegangen sind. Bei den Wörterbuchverlagen ist gar von einem Brancheneinbruch die Rede. Die Väter der Umstellung haben übersehen, daß der Sinn des Schreibens das Lesen ist und daß die Mühe, die der Schreibende sich durch eine vereinfachte Orthographie erspart, dem Lesenden aufgebürdet wird, der dann rätseln darf, was eigentlich genau gemeint ist.
Doch ging die Fehlerzahl bei Volksschülern mitnichten zurück — abgesehen davon, daß die neuen Schreibweisen möglicherweise das Jahr 2005 nicht mehr erleben werden und eine Gruppe junger Menschen heranwächst, denen die Aneignung einer fundamentalen Kulturtechnik verwehrt wird und die deshalb keine Chance bekommen, ein stimmiges Sprachgefühl aufzubauen. Zur Legitimierung der neuen Regeln schreckte die Dudenredaktion auch nicht davor zurück, tausende Belege aus der deutschen Literatur kurzerhand umzustellen, um den neuen Schreibweisen eine Legitimation zu geben. Darin zeigt sich eine nie gesehene Verrohung in der Begleitung und Dokumentation der geschriebenen Sprache, wie es der Auftrag eines Wörterbuches ist: Statt aufzuzeichnen, was in der Schriftsprache verwendet wird, exekutiert das deutsche Leitwörterbuch eine Retortenschreibweise, für die es keine Belege gibt. „Es ist höchst fatal, ein Reformwerk in die Praxis umzusetzen, dessen Mängel jeder Einsichtige leicht erkennen kann“ schrieb Horst Haider Munske, Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission, im Jahr 1997. Ob sich dieses Regelwerk durchsetzen wird, mag sich zeigen.
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