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Martin von Ulmendorf schrieb am 22.5. 2009 um 13:49:39 Uhr über

Leiden

Da ich gerade auf dem Merlin-Trip bin, hier noch eine mögliche Antwort auf die Frage, was Merlin zum Leiden in der Welt zu sagen gehabt hätte.

"Alles, was lebt und empfindet, leidet auch; mitunter mehr, mitunter weniger. Der Mensch ist in besonderem Maße zum Leiden bestimmt, nur wenigen ist ein Leben in Freude vergönnt, die meisten sind dazu verdammt, ein erbärmliches Dasein zu fristen.
Denkt nur an den armen Bauern, der jeden Tag voller Mühsal sein Feld bestellt, kaum genug erntet, um seine Familie nähren zu können, und der zudem von der Last der ihm auferlegten Steuern niedergedrückt wird. Seht euch nur sein Gesicht an, in das sich Furchen eingegraben haben, als hätte sein Pflug es in gleicher Weise wie seine Felder durchzogen, schaut nur auf die Schwielen, die er an den Händen hat! Es ist ein elendes Leben, das er führt, von schwerer Arbeit geprägt, von Sorgen beherrscht, die ihn nicht nur während des Tages, sondern auch nachts, in seinen Träumen heimsuchen und seine Qualen zu steigern wissen.
Denkt nun an den Wohlhabenden, der all das besitzt, was dem Bauern fehlt, und was dieser zu besitzen sich zumeist noch nicht einmal zu wünschen wagt. Keine schwere Arbeit saugt das Lebensmark aus ihm heraus, Hunger, Durst und Elend muß er nicht fürchten, er besitzt all das, was die meisten gern hätten, doch macht es ihn glücklich? Sieht man nur flüchtig hin, so mag es so aussehen. Doch dieser Schein täuscht fast immer: tatsächlich lebt er in ständiger Furcht, Furcht davor, all das zu verlieren, was er besitzt, in jenes Elend zu stürzen, das die anderen Menschen täglich erdulden müssen. Er fürchtet den Abstieg, den Verlust - und den Spott, der unweigerlich jeden trifft, der einst Gut, Gold, Würden besessen und vielleicht Ämter ausgeübt hat und nun all jenen, über denen er so lange stand, gleichgestellt ist, da eine unerwartete Fügung des Schicksals ihn in den Schmutz gestoßen hat. Und neben der Angst gibt es noch etwas anderes, was ihn quält: es ist die Langeweile, es ist gerade die Tatsache, daß alle Mühsal, alle Arbeit ihm erspart bleiben. Er kann sich auf seinem Gut ganz dem Müßiggang hingeben, doch eben dies läßt ihn irgendwann einmal die Leere seines Lebens spüren. Er reitet aus, geht auf die Jagd, versucht sich anderweitig bei Laune zu halten, doch er spürt in einem verborgenen Winkel seiner Seele, daß er nichts schafft, daß er nichts hinterläßt, nichts vorweisen kann, was über ihn hinausginge, nichts, daß von Bestand wäre, nachdem er selbst seinen Weg auf der Erde durchschritten hat.
Ich könnte noch lange fortfahren, doch ich will darauf verzichten, das Leiden des einzelnen in all seinen Farben zu schildern, weil ihr es wohl selbst recht gut erkennen könnt. Seht euch nur um! Da findet ihr all die Armen und Besitzlosen, die von Hunger, Durst und Krankheiten gequält werden und die nur allzugern aus dem ihnen von den Mächtigen gereichten Becher des Glaubens trinken, weil sie so von einer trügerischen Hoffnung auf eine höhere und göttliche Gerechtigkeit benebelt werden, ohne daß eines ihrer Leiden dadurch wirklich gemildert würde. Sie sind in ein Leben gestoßen, um das sie nicht gebeten haben und das nur aus Mangel besteht. Da findet ihr die Besitzenden, die um ihren Besitz, die Mächtigen, die um ihre Macht fürchten; ihr Leben ist um so vieles erträglicher als das der Besitzlosen und Entrechteten, und doch nagt der Mangel auch an ihnen, freilich in anderer Gestalt. Schaut nur auf das Tierreich! Das Treiben auf einer Wiese oder im Wald scheint eine wundervolle, beneidenswerte Idylle zu sein, das Kaninchen im Gras kennt die Ketten des Sklaven oder den Schmutz der Straße nicht, von grünen Halmen, Blumen und Schönheit ist es umgeben. Sollte es nicht glücklich sein? Oh, wie könnte es? Es sieht die Schönheit nicht, von der es umgeben ist, sie bedeutet ihm nichts, denn alles Geschehen ist nur für den außenstehenden Betrachter schön. Das Kaninchen aber muß in ständiger Angst leben, vom Fuchs geschlagen zu werden, es muß das Kreisen des Raubvogels fürchten. Und welche Qualen hat die arme Kreatur zu erdulden, wenn sie wirklich ihrem Jäger zum Opfer fällt, zerfetzt, zerbissen und verzehrt wird! Doch dem Fuchs ergeht es nicht besser: er muß seinerseits das Kaninchen finden, sonst droht ihm der elende Hungertod.
Doch gibt es nicht auch Freude, Glücksgefühle, vielleicht sogar ein erfülltes Leben? Gewiß gibt es Glück, doch was ist denn Glück? Glück bedeutet, mit sich selbst im Einklang zu leben, das zu sein, was man sein will. Doch dies kann niemals von langer Dauer sein. Wer gespeist hat und gesättigt ist, wird es nicht lange bleiben; bald stellt sich erneut der Hunger ein, ein neuer Mangel ist an die Stelle des alten getreten, und ebenso durchdringend und spürbar wie der vorige. Ganz anders dagegen verhält es sich mit dem Schmerz, der Trauer, der Verzweiflung! Diese verschwinden nicht allein durch den Lauf der Zeit, sie werden nicht schwächer, sondern gewinnen noch an Kraft oder lassen zumindest nicht nach.
Denn seht, meine Freunde, alles, was existiert, und vor allem alles, was lebt, ist vor allem Mangel und Trieb. Es ist Mangel, weil alles, was ist, nicht das ist, was zu sein es anstrebt, und es ist Trieb, weil es eben etwas anstrebt. Und das gilt besonders für die Lebewesen: sie sind Sklaven ihrer Triebe, sie sind ge-trieben, doch der innere Drang, der ständig seine Gewandung wechselt, kann niemals auf Dauer zufrieden gestellt werden. Wenn ein Mensch gespeist hat und gesättigt ist, dann dürstet ihm; wenn er getrunken hat und es in seiner Kehle nicht mehr brennt, dann brennt es um so mehr in seinen Lenden; wenn er seine Wollust gestillt hat, dann fühlt er ein Verlangen, seinen Geist zu nähren; wenn er ein Buch gelesen und aufgesogen hat, wird er wieder hungrig. Immer wieder wird er vom Drang genarrt, glaubt, Entscheidungen zu treffen und folgt doch nur seinen Trieben, die ihn stets aufs neue quälen, da sie niemals befriedigt werden können.
Wer aber, meine Freunde, begreift, daß der Drang einem Durst, der sich niemals löschen läßt, gleicht, der begreift, daß alle Lebewesen, vor allem aber der Mensch, immer leiden müssen. Warum der Mensch in noch größerem Ausmaß als die anderen Kreaturen? Vor allem, weil der Drang bei ihm nicht nur dem Körper den Wunsch einpflanzt, etwas anderes zu sein als das, was er ist, sondern auch dem Geist. Denkt nur an all jene, die mit ihrem Beruf unzufrieden sind: der Fischer will lieber Maurer sein, der Maurer Bauer, der Bauer Wirt und der Wirt womöglich Fischer. Der Geist ermöglicht dem Menschen aber auch größere Einsichten als dem Tier, und dies ist der Quell neuerlicher Beschwerden. Das Tier sorgt sich nur um sein Überleben, vielleicht auch noch um sein Junges oder seine Herde. Doch der Mensch lebt nicht nur in der Furcht, seiner Familie könnte ein Leid geschehen, er fürchtet auch um sein Land, der Gedanke an einen neuerlichen Krieg, vielleicht auch einen Staatsstreich oder weitere, noch namenlose Schrecken, fährt im in die Glieder und raubt ihm den Schlaf. Unbilden wie Katastrophen oder Krankheiten bekümmern das Tier erst, wenn sie eintreffen, doch der Mensch weiß darum, daß es Seuchen, Erdbeben, Vulkanausbrüche eines Tages geben könnte, und wird so seiner Ruhe beraubt.
Doch leiden müssen eben auch die Tiere, vielleicht sogar schon die Pflanzen auf eine uns unbegreifliche Weise. Alles, was in der Welt ist, ist unvollkommen, mit Mängeln behaftet, strebt danach, nicht das zu sein, was es ist; und sobald ein Lebewesen seine Existenz fühlt, fühlt es auch die Mängel dieser Existenz. Befriedigung des fortwährend lodernden Dranges gibt es immer nur für kurze Zeit, und ähnliches gilt auch für die Vollkommenheit: sie ist niemals vollständig, da sie der Zeit nicht standhalten kann. Das ist der Lauf der Welt: die Dinge wachsen, gedeihen, bilden erstaunliche und schöne Formen, und sind doch schon in ihrem ersten Augenblick dem Untergang geweiht. Das gilt für alles, sogar für die Erde selbst, die ebenfalls einst in ewiger Finsternis verschwinden und sterben wird. Und so spiegelt sich im Leben des Menschen, seinem Wachstum, seiner Blüte, seinem Altern, Siechtum und Tod auch der Lauf der Welt. Und das Leiden des Menschen ist auch ein Teil des Leidens der Welt, die sich in Krankheit und voller Qualen ihrem unvermeidlichen Ende entgegenschleppt."




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