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wuming schrieb am 12.5. 2003 um 00:57:27 Uhr über

Nest

20 9.5.2003
Rudolf Walther Die geistige Situation
Start Service Recherche WIDERSTANDSNEST Anmerkungen zu 40 Jahren »edition Suhrkamp« Noch Ende der sechziger Jahre besaß das Taschenbuch in konservativ-elitären Kreisen einen Luder- und Schundgeruch. Der Historiker Werner Kaegi empfahl in seinen Vorlesungen gerne längst vergriffene mehrbändige Monographien zur Lektüre und fügte ebenso maliziös wie hämisch hinzu: »Aber heute lesen ja sogar schon die Studenten TaschenbücherSo ist es kein Wunder, dass der jüngst verstorbene Verleger Siegfried Unseld das Wort »Taschenbuch« peinlich vermied, als er vor genau vierzig Jahren - am 2.Mai 1963 - die edition suhrkamp ankündigte. Und die Entscheidung war im Beraterkreis des Verlags höchst umstritten. Max Frisch sprach von einer »Kapitulation vor dem Taschenbuch« und verspottete das Vorhaben: »Suhrkamp in Leinen, Suhrkamp in Dosen, Suhrkamp als Brotaufstrich.« Unseld ließ sich nicht beirren und lancierte die ersten 20 Bände mit dem dreifachen Ziel, Bücher zu niedrigen Preisen an junge Leser zu verkaufen, insbesondere der neuen deutschen und ausländischen Literatur »zum Durchbruch« zu verhelfen und »gleichzeitig ... in der Veröffentlichung wissenschaftlicher, philosophischer, soziologischer, politologischer, anthropologischer, literaturkritischer und sozialgeschichtlicher Texte den Boden für eine weitere Entwicklung des Verlags auf dem Gebiet der Wissenschaft vorzubereiten« (Unseld). Die edition suhrkamp leistete sich nach dem Wort des Verlegers inhaltlich und formal »Luxus und Leidenschaft einer Linie«, die sich auf die Generalnenner »kritische Aufklärung« und »moderne Literatur« bringen lässt. Programmatisch ist auch die Wahl von Brechts Galilei als Nummer 1 zu verstehen - Vernunft, Kritik und Aufklärung bilden die Signatur des Zeitalters der Wissenschaft, von der Brechts Galilei sagt: »Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichternDer Graphiker Willy Fleckhaus gestaltete die grauen Bändchen formal streng und versah sie mit abnehmbaren bunten Einbänden in den 48 Farben des Sonnenspektrums. Die neue Reihe brachte in jeder Hinsicht neue Farben und Licht in die Regale wie in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Normalband kostete drei, ab 1970 vier Mark. Die aubergine-farbene Nummer 3 - Samuel Becketts Warten auf Godot - brachte Unruhe und Konvulsionen bis in die hinterste Provinz mit Sätzen wie diesem: »Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die NachtDie edition suhrkamp erschloss von Anfang an nicht nur neue literarische Horizonte, sondern auch philosophische und gesellschaftskritische. Der zehnte Band enthielt Essays Adornos unter dem Titel Eingriffe und der elfte den ersten Teil von Blochs Tübinger Einleitung in die Philosophie. Die Reihe wurde zu einem sensationellen Erfolg auch dadurch, dass sie Werkausgaben herausbrachte - unter anderem von Prousts Hauptwerk und von Brechts Werk in 20 Bänden (136.000 verkaufte Exemplare). Nach zehn Jahren waren von 594 Titeln (davon 499 noch lieferbar) über 13 Millionen Exemplare gedruckt worden. Der legendäre Lektor Günther Busch verlieh der Reihe ein kantiges inhaltliches Profil, dem der Kritiker Heinrich Vormweg 1967 bescheinigte, es ziele auf »Differenzierung des Bewußtseins und Analyse der Realität« wie keine andere Reihe. 1979 brachte Jürgen Habermas unter dem ironischen Titel Stichworte zur ´Geistigen Situation der Zeit als Band Nummer 1000 Zeitdiagnosen von rund 50 Intellektuellen und Wissenschaftlern heraus. Die Zeiten hatten sich geändert. Die edition suhrkamp segelte zunächst im Wind der Studentenbewegung und mit deren Abebben gingen auch die Umsätze zurück. Hinzu kam, dass »die intellektuelle Linke, die das kulturelle Milieu mit einer gewissen Selbstverständlichkeit« (Habermas) geprägt hatte, in die Defensive geriet, nachdem Konservative den Versuch unternahmen, ihr und besonders der »Frankfurter Schule« die Verantwortung für den Terrorismus verblendeter Desperados in die Schuhe zu schieben. Professorale Tendenzliteraten überzogen das Land mit der pauschalen Denunziation von Kritik, Aufklärung, Emanzipation und radikalem Denken überhaupt. Jahre vor Helmut Kohls Propaganda für die »geistig-moralische Wende« (1981) plädierten Autoren aus dem Umkreis des »Bundes der Freiheit der Wissenschaft« unter dem Schlachtruf »geistige Auseinandersetzung« für eine Rückkehr in die selbstgerechte und muffige Gemütlichkeit der Zeiten vor 1968. In den Kulturkampf-Feuilletons ist die Polemik gegen die edition suhrkamp seither nicht mehr zum Stillstand gekommen. Uwe Wittstock bescheinigte ihr schon am 3.11.1979 in der FAZ »das Ende« und Christian Geyer am 22. 4. 2003 ebendort die »völlige Bedeutungslosigkeit«. Trotz schwieriger gewordenen Zeiten ließ sich die edition suhrkamp von derlei geballten Ressentiments nicht beeindrucken und setzte auch in der Neuen Folge, die ab Ende 1979 von Raimund Fellinger und seit kurzem von Alexander Roesler betreut wird, ebenso auf Kontinuität wie auf Widerspruch und Neuentdeckungen, ohne sich dem jeweils modischen discours à la mode anzupassen. Das guruhafte »Sphären«-Gemurmel Peter Sloterdijks und die Instant-Soziologie Ulrich Becks erscheinen zwar im Suhrkamp-Verlag, aber nicht in der edition. In die Reihe integrierte Sammlungen wie die Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, die Friedensanalysen oder die Neue historische Bibliothek von Hans-Ulrich Wehler (57 Bände!) dokumentieren die Innovationsfähigkeit und jene »Suchbewegungen«, die Unseld und Fellinger 1979 der Neuen Folge als Programm vorgaben. Bis Ende 2002 erschienen 2.311 Bände in einer Gesamtauflage von 41 Millionen Exemplaren. Keine einzelne Buchreihe hat das wissenschaftliche, intellektuelle und ästhetische Klima des Landes so lange und so nachhaltig geprägt wie die edition suhrkamp. Das Land sähe schäbiger und trostloser aus ohne sie. Den Wünschen Wolfram Schüttes zum 25jährigen Bestehen der Reihe kann man sich nur anschließen: »Im Gelände des ›Zeitgeistes‹, der auf Utopie- & Empathie-Verschrottung aus ist, darf man getrost in deredition suhrkampein hoffnungsvolles Widerstandsnest erblicken. Ad multos annos.« Raimund Fellinger/ Wolfgang Schopf: Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Frankfurt am Main 2003, 102 S., 4 EUR
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