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Ich schrieb am 17.8. 2005 um 19:31:10 Uhr über

JeanCharlesDeMenezes

spiegel-online am 17.8.2005 :

Todesschüsse in Londons U-Bahn

Geheimbericht listet fatale Fehler der Polizei auf

Details eines vertraulichen Untersuchungsberichts zu den Todesschüssen auf einen unschuldigen Brasilianer in London bringen Scotland Yard zunehmend in Bedrängnis. So wurde das Opfer vor dem Zugriff nicht eindeutig identifiziert, weil ein Polizist auf die Toilette musste.

Bislang geheimes Foto: Leiche des Brasilianers Jean Charles de Menezes - er trägt eine Jeansjacke, eine Blutlache ist vor dem dritten Sitz zu sehen
DPA
Bislang geheimes Foto: Leiche des Brasilianers Jean Charles de Menezes - er trägt eine Jeansjacke, eine Blutlache ist vor dem dritten Sitz zu sehen
London - Das Unglück nimmt am Morgen des 22. Juli seinen Lauf, genau zu dem Zeitpunkt, als Jean Charles de Menezes aus seinem Hauseingang an der Scotia Road in Tulse Hill im Süden Londons tritt. Einen Tag zuvor hatten vier Männer versucht, Sprengsätze in U-Bahnen und einem Bus zu zünden - genau 14 Tage nach den verheerenden Attentaten vom 7. Juli. Mindestens einen der Bombenleger vermuten die Fahnder, die vor dem Haus lauern, in dem Wohnblock. Außer dem Überwachungsteam vor dem Haus steht noch eine Gruppe von bewaffneten Kollegen hinter der nächsten Straßenecke bereit, um notfalls einzugreifen.

Als der 27-jährige Menezes das Haus verlässt, ahnt er nicht, dass er überwacht wird. In diesem Moment ist einer der Beamten, der den vermeintlichen Terroristen mit einer Videokamera aufnehmen und identifizieren soll, nicht an seinem Platz. Er habe sich »erleichtern müssen«, sagt der Fahnder später aus - das jedenfalls geht aus einem Untersuchungsbericht der Unabhängigen Beschwerdekommission der Polizei (IPCC) hervor, der dem Fernsehsender ITV News vorliegt. Weil sie nicht genau wissen, mit wem sie es zu tun haben, gehen die Polizisten laut Bericht davon aus, dass es sich um Hussein Osman handelt, einen der Rucksackbomber. Sie verfolgen ihn. Anhand von Fotos meinen sie, den Terrorverdächtigen identifiziert zu haben. Menezes steigt in einen Bus und fährt zur U-Bahn-Station Stockwell. Die Kommandozentrale gibt den Befehl, dass der Verdächtige keinesfalls bis in den U-Bahn-Schacht gelangen darf.

Menezes wirkt ganz entspannt

Menezes ahnt noch immer nichts von der Operation und setzt seinen Weg ungerührt fort. An der Station angekommen wird der Brasilianer laut Bericht von einer Überwachungskamera gefilmt: Er betritt die U-Bahn-Station mit einem Dauerticket, nimmt sich ein Exemplar der kostenlosen »Metro«-Zeitung von einem Stapel und fährt in aller Ruhe mit der Rolltreppe in die Tiefe. Erst dann läuft er los, um die Bahn noch zu erwischen. In diesem Moment bekommen die Beamten dem Bericht zufolge die Bestätigung, dass es sich um den gesuchten Terroristen handelt - ein fataler Irrtum.

Erschossener Jean Charles Menezes: Fataler Irrtum
REUTERS
Erschossener Jean Charles Menezes: Fataler Irrtum
Der Bericht widerspricht den ersten Stellungnahmen der Polizei in mehreren Punkten, über die SPIEGEL ONLINE bereits berichtet hat. Kurz nach dem Vorfall hatte es geheißen, Menezes sei vor den Beamten geflüchtet, über ein Drehkreuz gesprungen, sei dann zur U-Bahn gerannt, gestolpert und dort erschossen worden. Er habe außerdem eine dicke Winterjacke getragen - darunter habe man einen Sprengsatz vermutet. Laut unabhängigem Untersuchungsbericht trug er aber eine dünne Jeansjacke. Das ist auch auf Fotos zu sehen, die eine Überwachungskamera im Waggon aufgenommen hat.

Über das, was dann passiert, gehen die Darstellungen ebenfalls auseinander. Im offiziellen Polizeibericht war bislang von einer Verfolgungsjagd die Rede. Auf Aufforderungen, stehen zu bleiben, habe Menezes nicht reagiert, schließlich sei es zu einem Handgemenge gekommen. Dann sei er gemäß der »Shoot-to-kill«-Praxis erschossen worden, weil die Ermittler angenommen hatten, er trüge eine Bombe bei sich und wolle diese zünden.

Beamter berichtet andere Version

In dem Bericht ist hingegen die Aussage eines Überwachungsbeamten festgehalten, der sich bereits in die Bahn gesetzt hatte. Der Mann beschreibt die Szene völlig anders: Menezes betritt den Waggon durch die mittlere Tür, hält kurz inne, sieht sich um und nimmt dann auf dem zweiten oder dritten Sitz mit Blick auf den Bahnsteig Platz. Der Beamte hört dem Untersuchungsbericht zufolge einen Ruf »Polizei!«, woraufhin der Brasilianer sich von seinem Sitz erhebt und in Richtung der Einsatzkräfte geht. Der Überwachungsbeamte packt Menezes und fixiert mit seinem Griff dessen Arme am Körper. Dann habe er ihn auf den Sitz zurückgeschoben, berichtet der Fahnder laut ITV News in dem Papier. »Ich hörte dann einen Pistolenschuss direkt neben meinem Ohr und wurde weggezogen auf den Boden des Waggons

Dieser Aussage zufolge war Menezes also bereits überwältigt und bewegungsunfähig, als die Beamten das Feuer eröffneten. Die Obduktion ergibt später, dass Jean Charles de Menezes sieben Mal in den Kopf geschossen wurde und einmal in die Schulter. Drei weitere Schüsse verfehlen ihn.

Dass der Brasilianer bereits gesessen hatte, legen auch Fotos vom Ort des Geschehens nahe: Neben der Leiche des jungen Mannes ist eine große Blutlache zu sehen - vor dem dritten Sitz im Waggon.

Die für die Untersuchung zuständige Polizeikommission hat den Bericht bislang weder bestätigt noch dementiert. »Wir wollen uns nicht an Spekulationen beteiligen oder Teile unserer Informationen veröffentlichen, und andere sollten das auch nicht tun«, heißt es laut BBC in einer knappen Stellungnahme. Die Untersuchungen müssten unter einer sehr hohen Geheimhaltungsstufe fortgeführt werden.

Die Frage nach Sinn und Unsinn der »Shoot-to-kill«-Strategie von Scotland Yard stellt sich jedoch drängender als je zuvor. »Der Bericht zeigt, dass es umgehend eine Diskussion darüber geben muss, ob diese Anweisung weiterhin Bestand haben muss«, sagte Haariet Wistrich, die Anwältin der Familie Menezes. »Und der Fall zeigt auch, auf welch gefährliche Art diese Strategie schief gehen kann

Friederike Freiburg

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spiegel-online am 15.8.2005 :

Erschossener Brasilianer

Tödlicher Verdacht ohne Grund

Die Tötung eines unschuldigen Brasilianers bringt britische Ermittler in Schwierigkeiten: Bislang hatten sie behauptet, Jean Charles de Menezes sei wegen seiner Kleidung und seines Benehmen irrtümlich für einen Bombenleger gehalten worden. Doch die offizielle Version ist fragwürdig.

Erschossener Jean Charles de Menezes: Tot wegen verspäteter Polizei?
REUTERS
Erschossener Jean Charles de Menezes: Tot wegen verspäteter Polizei?
London - Eine tragische, aber irgendwie nachvollziehbare Verkettung von Zufällen, so schien es zunächst: Mit sieben Kopfschüssen war Jean Charles de Menezes am 22. Juli in der Londoner U-Bahn getötet worden, weil Anti-Terror-Fahnder den 27-jährigen Brasilianer für einen Bombenleger gehalten hatten.

Die Ermittler hatten Menezes aus einem Mehrfamilienhaus kommen sehen, in dem sie mehrere Terroristen vermuteten. Man habe zuerst gehofft, der Verdächtige werde die Polizei zu seinen Hintermännern führen, doch an der Londoner Stockwell Station sei der Mann mit dem dunklen Teint plötzlich in die U-Bahn gerannt und habe ein Drehkreuz übersprungen. Unter der dicken Jacke des Mannes hätten die Polizeibeamten einen Sprengsatz vermutet, deswegen sei der mutmaßliche Selbstmordbomber ausgeschaltet worden, so lautete die offizielle Version der Londoner Polizei.

Nach Recherchen der britische Sonntagszeitung »The Observer« hat sich der Vorfall jedoch ganz anders zugetragen: Demzufolge bewegte sich der angeblich so verdächtige Brasilianer keineswegs in panischer Eile durch die U-Bahn und übersprang auch kein Drehkreuz, als wäre er auf der Flucht. Stattdessen habe Menezes ein normales Dauerticket benutzt, um die U-Bahn zu betreten. Augenzeugen hätten ihn vermutlich mit einem der Fahnder verwechselt, die dem jungen Mann zu diesem Zeitpunkt hinterhergelaufen seien.

Britische Polizisten vor Stockwell Station: Doch kein Drehkreuz übersprungen
REUTERS
Britische Polizisten vor Stockwell Station: Doch kein Drehkreuz übersprungen
»In dem Moment, in dem Menezes die Station betrat, war sein Schicksal besiegelt«, schreibt die Zeitung. Mitverantwortlich dafür seien die Beamten, die Menezes von seiner Wohnung bis zur U-Bahn verfolgt hätten. Anscheinend waren die Beschatter unbewaffnet. Als der mutmaßliche Terrorist die U-Bahnstation Stockwell betreten habe, hätten sie erst noch ein bewaffnetes Polizeiteam alarmieren müssen, das den vermeintlichen Attentäter stoppen sollte.

Doch die herbeigerufenen Zivilbeamten stellten Menezes erst auf dem Bahnsteig. Aus Angst vor einer Explosion in der Menschenmenge hätten sie sich für den Todesschuss entschieden - ohne Rücksprache mit ihren Vorgesetzten, denn im Gegensatz zu den Funkgeräte der U-Bahn-Angestellten würden die der Anti-Terror-Fahnder unter der Erde nicht funktionieren, schreibt der »Observer«.

Entgegen ersten Darstellungen trug Menezes nach Informationen der Zeitung keine dicke Jacke, die ihn in der Sommerhitze verdächtig gemacht haben könnte. Stattdessen sei der als »Jim« bekannte Brasilianer mit einer gewöhnlichen »Denim«-Jacke bekleidet gewesen. Es habe weder eine Aufforderung der Beamten an Menezes gegeben, stehen zu bleiben, noch hätten sich die in Zivil gekleideten Fahnder ausreichend zu erkennen gegeben. Stattdessen sei nur gerufen worden: »Auf den BodenAugenzeugen zufolge habe der Brasilianer einen verwirrten Eindruck gemacht, bevor er überwältigt und erschossen worden sei. Menezes war erst zwei Wochen vor seinem Tod von einer Jugendbande angegriffen worden.

Laut »Observer« wird sich die Kommission, die den Tod von »Jim« de Menezes untersucht, bei ihrer Arbeit vor allem auf Zeugenaussagen verlassen müssen: Die zahlreichen Überwachungskameras in den U-Bahn-Stationen hätten so gut wie keine Aufnahmen von der verhängnisvollen Polizei-Aktion geliefert. Trotz des Terroralarms in der britischen Hauptstadt seien die meisten Kameras defekt gewesen.

© SPIEGEL ONLINE 2005



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