(frz.; Ü: Der gemordete Dichter). Erzählungen von Guillaume APOLLINAIRE, entstanden 1901?1915, erschienen 1916. ? Die Titelerzählung geht auf einen Romanentwurf zurück, eine Weltuntergangsvision, die Apollinaire 1910 unter dem Titel Der gemordete und wieder auferstandene Dichter verfaßt hatte; als er 1914 den Erzählungsband ankündigte, schrieb er die Skizze zum Gemordeten Dichter völlig um. In achtzehn äußerst knapp gefaßten Abschnitten wird über Geburt, Leben, Tod und Apotheose des Dichters Croniamantal berichtet. Von einem Vagabunden am Rand einer »von knorrig-krummen Bäumen und von Sträuchern gesäumten Landstraße« gezeugt, verliert Croniamantal die Mutter bei seiner Geburt. Sein Stiefvater, ein unechter Baron, der die schwangere Macarée geheiratet hatte und mit ihr nach Rom zum Papst gepilgert war, erschießt sich bald darauf, als er in Monte Carlo sein ganzes Vermögen verspielt hat. Croniamantal wird daraufhin von einem holländischen Gelehrten in Pflege genommen. Dort genießt der äußerst begabte Junge, der schon früh dichterische Fähigkeiten zeigt, eine Erziehung nach Art der Humanisten des 16. Jh.s. Reiten und Fechten gehören ebenso zu seiner Ausbildung wie Latein, Sternkunde, die Lektüre der antiken Klassiker, Rabelais', der Pléiade-Dichter, Cervantes' und der Ritterromane, Racines, La Fontaines und Goethes. Als sein Pflegevater stirbt, geht Croniamantal nach Paris. Dort befreundet er sich mit einem Bildhauer, »Oiseau du Bénin« (Vogel der Langmütigen) genannt, schreibt freie Verse und Theaterstücke und verliebt sich in Tristouse Ballerinetta. Nach einem romantischen, schmerzlich-seligen Vorspiel wird Tristouse die Geliebte Croniamantals, verläßt ihn aber bald um des dichtenden Gecken Paponat willen. Der unglückliche Croniamantal verfolgt das Paar nach Deutschland, dann weiter nach Böhmen und schließlich nach Marseille, in der Hoffnung, Tristouses Liebe wiedergewinnen zu können.Inzwischen werden, ausgelöst durch die Schmähschriften des deutschen, in Australien lebenden Agrarchemikers Horace Tograth, in aller Welt die Dichter verfolgt, ins Gefängnis geworfen und umgebracht. Croniamantal erreicht Marseille, als Tograth ebenfalls dort eintrifft. Vor dem von Tograth verführten Pöbel bekennt sich Croniamantal zur Dichtkunst und wird gelyncht, während sich Tristouse und Paponat an seinem Tod ergötzen. Die ehemalige Geliebte beerdigt Croniamantals Leichnam, kehrt nach Paris zurück, wo sie von Paponat wegen eines Mannequins verlassen wird, legt Trauer um Croniamantal an und veranlaßt den »Vogel der Langmütigen«, Croniamantal im Wald von Meudon, wo sich die Liebenden zum erstenmal trafen, ein Denkmal zu setzen. Der Bildhauer errichtet dem Dichter »ein tiefsinniges Standbild aus Nichts, wie die Poesie und wie der Ruhm«, er gräbt ein Loch in den Boden, das er sodann auszementieren läßt, »so daß die Hohlform den Umriß von Croniamantal hatte, das Loch voll von seinem Geist war«.Der autobiographische Anteil an dem Werk ist umstritten. Zweifellos haben die Malerin Marie Laurencin und Pablo Picasso bei den Figuren der Tristouse und des »Vogels der Langmütigen« Pate gestanden. »Die Tatsache aber, daß Apollinaire den einen oder anderen Zug von bestimmten ihm vertrauten Personen übernahm, berechtigt nicht zu eindeutigen Identifikationen ... man kann sogar sagen, daß er der Wirklichkeit nur wenig entlieh, denn der Anteil der Erfindung überwiegt bei weitem« (Pascal Pia). So verwirrend die Lebensgeschichte Croniamantals ist, so vielfältig sind die Stilarten, in denen sie erzählt wird. »Im ?Gemordeten Dichter? findet man die verschiedensten Elemente: das Romantische und das Groteske, das Obszöne und das Elegante, das Ernste, das Übermütige und das Humoristische« (P. Noack). Dennoch handelt es sich nicht nur um eine Mischung heterogener Elemente. Ähnlich wie sein Freund Pablo Picasso in der Malerei, nimmt Apollinaire ganz bewußt Stilformen unterschiedlicher Provenienz auf und setzt sie für seine Zwecke ein. Motive der Ritterromane und Elemente der Diktion RABELAIS ' taugen dazu ebenso wie der lyrische Ton deutscher Romantiker sowie Stilformen des Journalismus. Apollinaire macht sich in einem fingierten Gespräch über Theaterfachleute lustig und persifliert dramatische Formen. »Mühe macht es ihm vor allem, das zeigen die längeren Stücke, seine Phantasie zu bändigen, nicht hinter jedem Einfall herzulaufen« (P. Noack). Doch das Vordergründige ist bei Apollinaire stets die Maske des Tiefsinns, des Gefühls, der Aufklärung. Besonders deutlich wird das in den letzten Kapiteln, die die Verfolgung der Dichter (durch einen Deutschen) und die Ermordung Croniamantals behandeln. »Die Landschaft, die [hier] blitzartig erhellt wurde ? damals noch eine Ferne ? haben wir inzwischen kennengelernt. Es ist die gesellschaftliche Verfassung des Imperialismus, in der die Position der Intellektuellen immer schwieriger geworden ist. Die Auslese, die unter ihnen von den Herrschenden vorgenommen wird, hat Formen angenommen, die an Unerbittlichkeit dem Vorgang, den Apollinaire beschreibt, kaum etwas nachgeben« (W. Benjamin).Die übrigen Erzählungen ? sie haben zumeist erlebte oder fingierte Kuriosa zum Gegenstand und sind durchweg nur wenige Zeilen lang ? waren in Zeitschriften vorabgedruckt worden, ehe sie in die Sammlung eingingen. Es sind Feuilletons in der Tradition Guy de MAUPASSANTS. An die Geschichten Edgar Allan POES erinnert die umfangreichere Erzählung Le Roi-Lune (Der Mondkönig): Mit einer Mischung aus Furcht, Abscheu und Faszination wird berichtet von einer Begegnung mit dem bayrischen König Ludwig II., der der Sage nach nicht Selbstmord begangen hat, sondern in Alpengrotten weiter seinen irrsinnigen Lastern frönt. Die den Band abschließende Geschichte, Cas du brigadier masqué, c'est-à-dire le poète ressuscité (Der Fall des verkleideten Korporals oder: Der auferstandene Dichter), hat Apollinaire 1916 hinzugefügt, um der Sammlung einen Rahmen zu geben. Sie faßt noch einmal alle Hauptfiguren zusammen.
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