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maw schrieb am 10.9. 2000 um 02:36:16 Uhr über

Geschichten

Du warst noch nie zufrieden. Das Leuchten in deinen Augen ist kalt. Dein Mund ist groß. Und deine Finger machen mir angst.
Er hatte blondes Haar, war sehr feminin, erst siebzehn Jahre war er alt. Sie war ein Jahr älter. Hatte gerade den Führerschein gemacht. Laß französische Romane und kaute Fingernägel. Er spielte Gitarre, probierte es, studierte die Spex, lachte oft undkein Fleisch. Sie war eine gute Schülerin und wollte Tierärztin werden.
Nun gut, manche sagten, daß du ihr Vater gewesen bist. Für mich spielt das keine Rolle. Und die Frage nach der Mutter halte ich für ebenso unwesentlich. Nun gut, manche sagten, daß es die große Liebe war. Eine zu große Liebe. Romantischer Unfug! Ich lache und blättere in einer alten Illustrierten.
Damals am Baggersee. Irgend wer kam auf die Idee, nackt zu baden. Es spielt doch keine Rolle, warum sie miteinander schliefen.
Später sagte die Verkäuferin in der Bäckerei zu der alten Drogistin aus der See-straße, daß es ein Skandal sei. Ich stand daneben und steckte einen Finger in ein frisches Brötchen. Wo die Liebe hinfällt, sagte die Verkäuferin. Niemand kann doch etwas dafür. Wir sind alle so unschuldig.
Verdammt, was war sie hübsch gewesen! Ich stand damals hinter einem Busch und sah ihnen zu. Am nächsten Abend erschoß sich ihre Stiefmutter. So nach und nach rekonstruierte das Dorf den Fall. Den Fall! Fall hat stets den Beigeschmack von Abstieg. Verwahrlosung. Tragik. Leid. Ich glaube, daß sie sich alle hinaufgeschwun-gen haben. Selbst als Blut floß und die Presse sich über das Dorf stürzte. All die un-appetitlichen Details. Wer wollte das schon wissen?
Natürlich bist du ein Ungeheuer gewesen. Ein Monster. Eine Bestie. In der Grund-schule bist du der Streber gewesen. Du hast gelispelt und dein Geruch war säuerlich wie bei einem alten Mann. Böse Zungen sagten Bastard zu dir. In der fünften Klasse warst du ein Mann. Man hatte keine angst vor dir, man ekelte sich.
Sie fuhr den roten Golf ihrer Stiefmutter. Das ganze Dorf liebte sie. Sicher, auf deine Art hast du sie auch geliebt. Späte Vaterliebe, doch ich möchte nicht zynisch werden. Ihn hast du nicht geliebt. Er war ein kleiner Versager, eine dumme Tunte. Ich sehe doch, wie du ihm diese Worte ins Gesicht gespien hast. Seine langen Wimpern, dieser trübe Blick, der volle Mund. Das wolltest du alles nicht wahr haben. Niemand hat gesehen, wie du ihn gezeugt hast. Niemand war dabei, als sie geschrien hat. Niemand ist jetzt hier in diesem kalten Raum ohne Fenster. Keine Blumen, schlechte Mahlzeiten, nicht einmal Radio ist erlaubt.
Als die Franzosen kamen und die Frauen schändeten und die Männer erschlugen, standest du unter der gußeisernen Glocke und betetest. So stand es im Abiturheft deines Jahrganges. Was für ein Unsinn. Du bist der Teufel. Wenn du eine Glocke berührst, zerfällst du zu Asche.
Es klingelt an der Tür und vor mir steht ein schmales Mädchen. Vielleicht drei-zehn. Sie sieht müde aus. Sie sagt, daß sie angst habe. Auf der Straße ist es still. Ich weiß, daß sie alle da sind. Sich versteckt haben. Die Mörder, die Halunkenbande, die Banditen. Schmeißfliegen. Ich ziehe schnell das Mädchen in mein Haus hinein und sperre die Tür ab. Ich kontrolliere, ob alle Fenster verschlossen sind. Von draußen dringt rotes Licht herein. Der Strom ist ausgefallen. Ich setze mich auf das Sofa und weine. Bin nicht in der Lage, Zuversicht zu verbreiten. Ich bin fertig. Ich bin alle. Ich weiß, daß alles zu spät ist. Das schmale Mädchen schaut mich fragend an. Ich ver-suche zu lächeln.
Einer von der Presse, ich glaube mich zu erinnern, daß es der lächerlichste von allen war, ein aufgeschwemmter Alkoholiker und Moralist, entdeckte als erster das Loch am Baggersee.
Die Wolken hingen tief. Der Bürgermeister erhängte sich im Stall. Als ob die Welt untergehen würde.
Du bist zur Arbeit gefahren. Dein Grinsen am Abend in der Dorfkneipe war so süf-fisant wie immer. Der alte Kroppa schlug dir das Bierglas ins Gesicht. Am nächsten Tag gab es die Photos zu sehen. Überall auf der ersten Seite. Sie schickten die Wis-senschaftler, Experten hierher. Schließlich die Armee. Alles wurde hermetisch abge-riegelt. Die Wolken hingen tief in diesen Tagen.
"Kann es jemand sehen?
Kann irgend jemand dieses Licht sehen?"
Blind war sie gewesen, die Mutter. Blind war sie gewesen wie alle Mütter auf die-ser Erde. Ihren Schoß geöffnet. Fruchtbar, furchtbar. Natürlich Vergeltung. Natürlich Rache. Auslöschen. Vernichten. Zerstören.
Der Tag kam als es keine Wolken mehr gab und keinen Himmel. Das Dröhnen der gußeisernen Glocke. Blut. Erde. Die Armee einmarschiert. Den Moralisten hatten sie im Lebebronner Wald aufgeknüpft.
Ich kann mich noch gut darin erinnern, wie die beiden vor einer Eisdiele standen. Zärtlich aneinander angelehnt. Unscheinbar, verhuscht. Diese jungen Gesichter.
Das Wasser am See sei nicht gut, munkelte man. Des Nachts roch es seltsam und der Wind nahm den säuerlichen Geruch mit in das Dorf, so daß das Vieh unruhig wurde. Geht dort nicht schwimmen, sagte man den Kindern. Haltet euch von dort fern. Irgend etwas stimmt nicht mit dem See.
Das schmale Mädchen streichelt meine Hand. Draußen ist es glühend rot. Es ist sehr heiß. Ich schwitze.
Du hast immer gewußt, wen du in die Welt gesetzt hast. Du hast es immer ge-wußt, du verdammter Lügner, du Heuchler, du! Ich habe kein Mitleid mit dir. Nicht einmal Verachtung kann ich für dich empfinden. Du bist mir nur noch gleichgültig.
Manche sagten, daß es ihn nie gegeben hätte. Doch ich wußte, daß konnte nicht stimmen. Ich vertraute der alten Drogisten aus der Seestraße. Hatte sie nicht als er-ste diesen säuerlichen Geruch bemerkt, der jede Nacht vom See zum Dorf hinüber-strömte? Hatte sie nicht immer die Kinder mit einem Blick angesehen, der nicht gutes verhieß? Sie wußte es. Sie wußte alles. Am Tag bevor die Wolken verschwanden schwamm ihr Kopf im See, blass und herrisch. Stolz. Sie hatte bis zuletzt gekämpft.
Das schmale Mädchen möchte von mir wissen, warum es draußen so rot und heiß ist. Ich schüttele nur den Kopf. Sie nimmt meine Hand, doch ich bringe kein Wort hervor.
Du bist nie zufrieden gewesen. Du hast das Loch gegraben. Du hast alles gese-hen, alles gewußt, doch es hat dir nicht ausgereicht. Du mußtest alles zerstören. Die Wolken, das Dorf, uns, die Kinder, die alte Drogistin und den Moralisten. Nichts war dir heilig, dir nicht. Ich hatte keine Angst vor dir und ich werde nie welche haben. Ich drücke die Hand des schmalen Mädchens so fest ich kann.
Ich weiß nicht, ob es etwas genützt hätte, wenn ich mit der Mutter gesprochen hätte. Aber ich wußte nicht einmal, wer sie war, geschweige denn wo sie war, und ob sie überhaupt noch am Leben war. Gar nichts wußte ich, gar nichts. Ich war ein Ver-sager, ein Schwächling. Doch jetzt würde ich kämpfen. Ich würde mich nicht so ein-fach holen lassen.
Es ist sehr still.
»Denkst du, daß wir füreinander bestimmt sind
»Ich glaube nicht an solche Sachen
»Sag mal, hast du auch gerade dieses Lachen gehört
»Welches Lachen? Komm' wieder her
Der alte Kroppa sagte immer, daß nirgends auf der Welt die Wolken so tief stün-den wie über unserem Dorf. Nirgends auf der Welt.
Es klopft an meine Tür. Das schmale Mädchen springt auf. Sie kommen, um mich zu holen.




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