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Hans Ulrich schrieb am 6.10. 2001 um 20:59:17 Uhr über

Psychomechanik

»Kaum hatte er ausgeredet, als in der Ecke des Zimmers auf einmal ein sehr starker Knall sich hören ließ. Alle fuhren aufDie
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter in Goethes gleichnamiger Novelle von 1795 beziehen neuen Stoff durch diesen
Vorfall, der von einem massiven Schreibtisch herrührte, dessen Platte plötzlich von einem Riss völlig gespalten wurde. Die
Gesellschaft rätselt nach den Gründen, man misst Temperatur und Luftfeuchtigkeit, um schließlich zu erfahren, dass zur selben
Zeit ein benachbartes Haus niedergebrannt sei, in dem sich ein Schreibtisch befand, der mit dem anderen "zu einer Zeit aus
einem Holze mit der größten Sorgfalt von einem Meister verfertigt". Dass der eine Schreibtisch verbrannte, so die Mutmaßung,
erlitt auch sein »Zwillingsbruder«. Obwohl keine kausale Verbindung zwischen diesen gleichzeitigen und voneinander entfernten
Ereignissen möglich ist, scheint es dennoch eine geheime »Sympathie« zu geben. Ernst Jünger notiert in seinem Tagebuch am 24.
6. 1944: "Oberst von Tempelhof erzählte vom Tode des Generals Marcks, daß dessen Bruder, ein Oberstleutnant, sich nach
der Todesstunde erkundigte, da am Sterbetage um elf Uhr sein Bild von der Wand gefallen war. In der Tat wurde der General
um ein Viertel vor Elf getroffen und starb auf den Glockenschlag."

Da das historische wie das naturwissenschaftliche Denken für Erklärungen Zeit braucht, weil es Prozesse beobachtet - erst
passiert dies, und dann, auf Grundlage dessen, jenes -, wird es vom Phänomen synchroner Verknüpfungen völlig überfordert.
Die Lösung, die Goethe anbietet, verwandelt daher die Synchronie in eine Geschichte (der Herkunft). Das enorme Interesse an
Gleichzeitigkeiten ist wohl deshalb so konstant, weil sie unerklärlich sind und die Frage nach dem geheimen Zusammenhang der
Dinge stellen. Hans Ulrich Gumbrecht ist der Neugier Goethes und Jüngers gefolgt, um nach den »Gemeinsamkeiten« zwischen
Ereignissen zu fragen, die zunächst nichts gemein haben als die Zugehörigkeit zu einem Jahr: 1926. Was haben der Federico
García Lorca, Walter Benjamin, Ludwig Wittgenstein, Bertolt Brecht, Thomas Mann, John Maynard Keynes, B. Traven,
Walter Gropius und Gustav Stresemann gemeinsam? Außer, dass sie alle im Jahr 1926 gelebt und Zeugnisse hinterlassen
haben?

Sie äußern sich alle zum Ingenieur, mehr oder minder beiläufig, mehr oder minder unterschiedlich: Benjamins Einbahnstraße ist
der »Ingenieurin« Asja Lacis gewidmet, seiner Geliebten. Liebe und Ingenieurskunst, was für eine seltsame Verkettung! Aber
Asja Lacis erweist sich zugleich als Anhängerin der Pawlowschen Psychomechanik der bedingten Reflexe und findet sich so auf
der Seite einer von Benjamin in der Sowjetunion konstatierten »Bagatellisierung des Liebes- und Sexuallebens« zur Mechanik.
Traven beschreibt die Beziehung des modernen Seemanns zu seinem Schiff als die des »Ingenieurs« zu einer "schwimmenden
Maschine», Gropius feiert die «neue Werkgesinnung" einer maschinellen Neugestaltung der Welt, Wittgenstein predigt einen
universalen »Funktionalismus«; von hier ist es ein Schritt zur »Sozialtechnik«, welche die gesamte Gesellschaft zweckgerecht
formt und verbessert; und von dort nur ein kleiner Step zu Brechts Stück Mann ist Mann, in dem »Gefühlstechniker« einen
Mann in »Stücke zerlegen« und dann für beliebige Zwecke wieder »zusammensetzen«.

Die ganze Welt, das ganze Jahr 1926 scheint einer Ideologie der totalen Planbarkeit aller materiellen, sozialen und psychischen
Prozesse anzuhängen. Aber auch die Kosten dieser Linke wie Rechte, Europäer wie Amerikaner, leidenschaftliche Dichter wie
kühle Funktionäre faszinierenden Sozial- und Psychotechnik werden bereits 1926 bilanziert: Asja Lacis muss nach einem
»Nervenzusammenbruch im Sanatorium behandelt« werden. Und Benjamin, der zwei Monate bei ihr in Moskau verbringt, kann
hier nur das Scheitern der Liebe im Zeitalter der Ingenieure konstatieren.

Diese Gemeinsamkeiten der Gleichzeitigkeit nennt Gumbrecht mit Foucault »Dispositiv«. In Einträgen wie »Angestellte«, »Bars«,
»Fließband«, »Stars« oder »Völkerbund« versucht er, »manche der Welten von 1926 heraufzubeschwören«, Welten, in denen
alles mit allem zusammen hängen muss, weil es sich im gleichen Jahr ereignet hat. »Fließband«? Mal sehen, wer den Begriff
benutzt, wer »fordistisch« argumentiert, wer Arbeitsvorgänge zerlegt und als Kette zusammensetzt, wer Filme darüber dreht etc.
Bereits ein einziges »Dispositiv« eröffnet eine Welt, Gumbrecht kommt dem mit zahlreichen Verweisen auf andere Einträge nach.
Das aktuelle Symbol für solch eine synchrone Welt wäre der »Hypertext« eines Archivs, in dem jeder Eintrag mit anderen
Einträgen in nahezu unendlicher Dichte kontextiert werden könnte. Tatsächlich schreibt Gumbrecht: "Philologische
Hypertextausgaben verpflanzen den Leser wieder in die Gleichzeitigkeit längst vergessener diskursiver Umwelten."

1926 ist so ein Hypertext. Man könnte mit dem »Studentenjahrbuch der Universität Stanford«, an der Gumbrecht lehrt,
anfangen. Die zahlreichen Anzeigen für Tankstellen verweisen auf die bedeutende Rolle des Automobils; der Aufbau einer
Boxabteilung wird annonciert, und 1926 findet nicht nur einer der größten Titelkämpfe aller Zeiten statt, das Boxen fesselt
Literaten wie Reporter, spielt eine Rolle in der Ökonomie des Sports wie der Texte Hemingways und Brechts; es finden sich
ein spannender Beweis für Möglichkeiten und Tempo der drahtlosen Bildtelegrafie, Belege für die Nutzung des Telefons im
Alltag oder auch Reflexionen über die Kollektivität amerikanischer und die Individualität französischer Studenten bzw.
Universitäten. Heterogenitäten, die im »Jahrbuch« nur von den Buchdeckeln zusammengehalten werden, erhalten ihren Platz im
Paradigma der Dispositive des Jahres 1926, neben vergleichbaren Bemerkungen Jüngers und Hitlers, Kafkas und Krakauers,
Brechts und Schmitts, Pirandellos und Maeterlincks.

Aber was gehört in ein Dispositiv? Warum gehören etwa Schnaps, Prügeleien, Tanzen und Frauengeschichten, Kabaretts,
Tanzlokale und Revuen, Cocktails, Koks, Whisky und Al Capone ins Dispositiv Bar? Weil Autoren, Journalisten, Boxer und
Verbrecher diese Themen »im gleichen Atemzug nennen«, oder, theoretischer gesprochen, weil der "Diskurs des populären
Geschmacks» bestimmte Dinge «zu einer paradigmatischen Menge äquivalenter Aktivitäten» und «damit zusammenhängender
Situationen in Verbindung" bringt.

Dass solche Äquivalenzen bestehen, bemerkt erst, wer einmal dem paradigmatischen »Atemzug« der Popkultur folgt, statt
immer schon alles vorher zu wissen. Ohne dieses »Surfen« im synchronen Hypertext der Kultur würde es wohl kaum auffallen,
dass Adolf Hitler 1926 den selben Horreur davor artikuliert, als Beamter "in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen
Lebens zwängen zu müssen», wie es Kafkas K. im Schloß erlebt, oder dass Heidegger und Hitchcock die Auflösung «der"
Realität in Beobachterpositionen reflektieren. Derartige überraschende Ähnlichkeiten machen den großen Reiz von Gumbrechts
»Jahr am Rand der Zeit« aus.

Die Frage, warum denn Kafka und Hitler für die Bürokratie nicht viel übrig haben, wird allerdings nicht gestellt. Im zweiten Teil
des Buches, das dem Feld der kulturellen Codes gewidmet ist, wird zwar deutlich, dass der Bürokrat eine wichtige Position im
Gegensatz von Individualität und Kollektivität, aber woher diese Differenz rührt und warum sie 1926 zusammenzubrechen
droht, kann nicht beantwortet werden, weil derartige Problemstellungen auf historische Prozesse verweisen. Und in diesem
Buch über das Jahr 1926 geht es weder um »Sequentialität« noch um »Kausalität«.

Wie Goethe könnte man zur Erklärung der verblüffenden Synchronie auf die Herkunft verweisen, im Falle der Bürokratie etwa
auf die immense Bedeutung der Studien Alfred und Max Webers zur bürokratischen Herrschaft, die bereits in der Romantik
artikulierte Vorbehalte gegen »Formulare« erneuern. Alfred Weber gehörte zur Promotionskommission Kafkas, ergo. . . Aber
Gumbrecht will ja die Ereignisse gar nicht wie Perlen auf eine historische Kette fädeln, sondern ihren Glanz genießen: "Als
,Versuch über historische Gleichzeitigkeit' ist mein Buch eine praktische Antwort auf die Frage, inwieweit es einem Text
gelingen kann, die Illusion der direkten Vergangenheitserfahrung zu erzeugen." Dieser spannende Versuch ist grandios gelungen,
und das Gelingen markiert zugleich die Stärken und Schwächen des Projekts.


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