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Sylvia schrieb am 9.11. 2006 um 13:16:56 Uhr über

Turnschuh

Wenn ein Turnschuh ein Joggingschuh ist, hat er besondere Eigenschaften. Er ist mit sehr viel technischen Besonderheiten ausgestattet, wie Dämpfungskeilen, besonderen Stabilisierungsbändern und vielem mehr, um dem Träger das Gefühl zu geben, besonders gut zu laufen.
Damit das auch andere Läufer sehen, ist das Design sehr auffällig. Außen ist der Schuh mit vielen Streifen und Schwüngen versehen, damit ein dynamischer Eindruck entsteht. Manchmal sind sogar Lüftungsschlitze angebracht, die dem Kühlergrill eines Sportwagens ähneln.

Die Sohle ist immer mit einem komplizierten Profil versehen, das selten weniger als zwei Farben hat, obwohl die Farben für das Laufen selbst keine Bedeutung haben. Die Noppen des Profils sind von der Seite immer deutlich sichtbar, und der federnde Teil zwischen dem Gummi und dem Fuß ist meist in verschiedenfarbige Abschnitte unterteilt, die meist mit schrägen Furchen durchzogen sind. Die Sohle läuft zu den Zehenspitzen hin schmal zu und hebt sich in einem leichten Bogen vom Boden ab, so dass direkt von vorne das Profil sichtbar wird.
Die Farbgebung und die deutliche Präsentation des Profils geben den meisten Joggingschuhen ein aggressives Aussehen. Optisch soll klar sein, dass der Schuh auf jeden Fall über den Untergrund siegt, also niemals ausrutscht oder die Haftung verliert. Dabei soll der Schuh dem Untergrund ruhig seinen »Stempel« aufdrücken. Erde und Matsch sollen sich der Form des Profils anpassen, nicht umgekehrt.

Ganz klar, zerbrechliche, kleine Dinge, die zufällig an eine Stelle geraten, and der ein solcher Joggingschuh im Begriff ist, seinen Eindruck zu hinterlassen, werden gewissermaßen fair behandelt. Auch sie müssen sich dem Druck von 50 Kilopascal oder mehr unterwerfen. Dies ist jedoch häufig mit ihrer Zerstörung verbunden. Je gröber das Profil, desto geringer ist die Fläche, auf die die Kraft wirkt und um so größer ist die zerstörerische Wirkung. Dies ist besonders bei sogenannten Trailschuhen so. Das tiefe Profil dieser auf Matsch und unebenes Gelände getrimmten Schuhe hat mit seinen oft scharfen Kanten auch noch eine schneidende Wirkung.

Laub und Äste werden in mehrere Stücke zerbrochen und Pflanzen abgeknickt und von ihren Wurzeln gerissen. Kleine Tiere haben an dieser Stelle nur eine geringe Überlebenschance. Die Chitinpanzer von Insekten zerbrechen an den Kanten des Profils und die Häuser von Schnecken werden zerquetscht, weil sie keinen Platz finden in den Furchen der Sohle. Kommen Nacktschnecken unter ein eher flaches Profil, werden sie unweigerlich flachgedrückt, bis der Druck in ihrem Inneren so groß ist, dass ihre Eingeweide durch die aufplatzende Haut herausgeschleudert werden und oft eine Spur auf dem Boden zeichnen, die unter dem Laufschuh herausreicht. Unter einem Profil eines Trailschuhs jedoch können sie der Wirkung der einzelnen Stollen nicht widerstehen, und werden durchbohrt oder ganz in Stücke geschnitten. Die herausquellenden Innereien werden dann noch tiefer ins Erdreich gedrückt und verbinden sich damit zu einer braunen gallertartigen Masse, die nicht selten in den Furchen des Profils zurückbleibt. Das Leben dieser armseligen Wesen endet jedoch in Sekundenbruchteilen.

Nach einer Joggingtour durch Wald und Wiese lässt sich beim Anblick einer Turnschuhsohle selten sagen, was darunter alles zerstört und zerquetscht wurde.

Ereignet sich solch ein Drama jedoch auf asphaltierter Strecke, kleben die sterblichen Überreste allerlei Kleinlebewesen jedoch oft nur mit Straßenstaub bedeckt zwischen den Noppen und Stollen des Turnschuhs. Die Sohle liest sich dann, wenn der schweißdampfende Schuh vom Fuß gezogen ist, wie ein Register der Vernichtung. Und auf ironische Weise reflektiert die Vielfalt und Menge der zu Tode gekommenen Kreaturen die sportliche Leistung der Läuferin oder des Läufers.

Selbstverständlich beeinträchtigen solche Ereignisse bei einem modernen Laufschuh die Einsatzfähigkeit des Schuhs und damit das Lauferlebnis in keiner Weise. In den seltensten Fällen wird das Dahinscheiden von Flora und Fauna oberhalb der Gummi- und Kunststoffschichten überhaupt bemerkt. Lediglich das Kracken von Hausschnecken und der Sekundenbruchteile andaurende und doch so sinnlose Widerstand des Gehäuses werden durch leichte Vibrationen im Schuh wahrgenommen, jedoch kaum als Störung denn eher als Abwechslung vom monotonen Abrollvorgang beim Joggen. Von Nacktschnecken ist in seltenen Fällen ein leichtes Plopp durch die Sohle spürbar, wenn die gummiartige Haut nachgibt und damit das Ende der Kreatur verkündet.

Heutige Laufschuhe bringen die Läuferin und den Läufer aber auch bei größeren Hindernissen wohl kaum in Schwierigkeiten, wie sich einfach mit verschiedenen Dingen überprüfen lässt. Gerade Trailprofile werden mühelos mit kleinen Äpfeln, Gemüse, Bananen und auch Nüssen fertig, ohne eine gefährliche Situation heraufzubeschwören.

Selbst rohe Kartoffeln zerbrechen unter gröberen Profilen einfach und ebnen unter der geballten Macht aus Gummi den Weg für ungetrübte Sportfreude.

An Feldrainen und Wiesenrändern kommt es denn auch durchaus vor, dass Feld- oder Wühlmäuse zu einem ungünstigen Zeitpunkt ihre Deckung verlassen. Die LäuferIn spürt in diesem Fall lediglich einen besonders weichen Untergrund. Das Profil hält sicher und erlaubt kein Verrutschen. Ein Entkommen jedoch auch nicht. Die Stollen graben sich sicher im Fell der Maus ein und die sich senkende Sohle nimmt den ganzen Himmel über ihr ein. Augenblicklich wird ihr durch den blitzschnell schrumpfenden Platz die Luft aus den Lungen gedrückt und die Rippen knicken unter den Stollen. Nur einen Wimpernschlag später bricht das Genick und das Leiden ist vorbei. Das Profil gräbt sich nun tief in den Körper bis kein Raum mehr übrig ist und sich der glitschige Inhalt auf der Sohle verteilt. Zurück bleibt eine leere Hülle ausgepresst durch das Gewicht eines sportlichen, schwitzenden Körpers. Die Hauptarbeit jedoch, unter Beweis gestellt durch den Abdruck des Profils, wurde geleistet vom nimmermüden Laufschuh.

Ein schneller Tod, kein Vergleich zum Spiel einer Katze. Der Laufschuh erobert sich damit die führende Rolle im Tier und Pflanzenreich von Feld, Wald, Wiese und Fußweg. Er setzt der Nahrungskette ein zynisches und gewaltsames Ende und seine Profilstollen wirken wie Zähne eines immer offenen, hungrigen Mundes. Nicht dass man Joggingschuhen eine eingebaute Bosheit unterstellen könnte, es sind ja schließlich nur Dinge, aber für die opportunistische Vernichtung von kleinen »Hindernissen« bringen sie alle Voraussetzungen mit. Die Aggressivste Lebensform dieses Planeten, der Mensch, hat sich also einen Stellvertreter für den Boden unter seinen Füßen geschaffen, der ihn schützt und lästige Aufgaben von ihm fernhält.

Die designerische Leistung, die sich in Leder, Kunstfaser und geschäumtem Gummi spiegelt, die letztlich ein offenes Register für die Möglichkeiten des Werkzeugs »Turnschuh« darstellen soll, erhält durch diese Überlegungen eine ganz besondere Ausstrahlung.




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