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michelle schrieb am 15.12. 2001 um 16:40:45 Uhr über

Weihnachtstrauma

Ich hasse Weihnachten!“
Worte aus dem Mund eines Mannes, der die aufwendige Weihnachtsdekoration im überfüllten Kaufhaus nicht beachtete, keinen Blick auf die Engel und Christbaumkugeln warf, sondern nur ganz rasch seine Einkäufe erledigte. Vorbei an Gemüse- und Fruchtständen, schnell zur Kasse hin, wo er, im Stillen die vielen Menschen verfluchend, an einer langen Schlange anstand, sein Geld aufs verkleckerte und schmierige Förderband legte und ohne Wechselgeld und Quittung fluchtartig ins Freie stürmte.

Ich hasse Weihnachten!“
Worte, die gerade in der Adventszeit höchst fehl am Platze wirken. Doch für ihn, einen Enddreissiger ohne Familie, Frau oder Freunde, widerspiegelten diese Worte seine gesamte Lebenseinstellung, sein Fühlen, Denken und Handeln.
Er war ein grosser Mann, furchteinflössend, mit harten Augen, die ihm manchmal, wenn er sein Spiegelbild betrachtete, selbst Angst machten. Er war ein Geschäftsmann, kein besonders guter zwar, aber er hatte auch keine hohen Ansprüche; an sich selbst schon gar nicht.
Daher kam es wohl auch, dass Weihnachten, das Fest der Liebe, Zorn in ihm auslöste, weil sein eigenes Leben gerade so ohne Liebe war, weil er Weihnachten alleine verbringen musste.
Er machte niemandem einen Vorwurf, er sehnte sich auch nicht nach Liebe, doch an Weihnachten wurde ihm jährlich seine armselige Existenz mit einer entsetzlichen Klarheit vor Augen geführt, und das machte es ihm schwer, machte es ihm von Jahr zu Jahr schwerer, den heiligen Abend als etwas Heiliges zu betrachten, und schürte in ihm eine unbändige Wut.

Als er in seiner Wohnung ankam, er nannte es nur seine Wohnung, es war kein Zuhause, war alles dunkel und kalt. Er hatte vergessen, die Fenster zu schliessen, und es war kalt, im Dezember, so dass es ihn fror.
Weil es in seiner Wohnung genau so kalt war wie draussen, machte er die Fenster zu, drehte die Heizung hoch, stellte die Einkaufstüte in die Küche und ging nach draussen, in die Stadt, unter Menschen.
Er wanderte durch die Strassen, durch kleine Gassen und Strässchen, schaute in schön dekorierte Schaufenster, die alle um die Gunst des Betrachters wetteiferten. Er ging weiter, und als er unter einem Torbogen mit in Stein gehauenen Ornamenten hindurchging und in eine weitere kleine, dunkle Gasse einbiegen wollte, hörte er, ganz schwach und zart noch, eine solch wunderbare, wundervolle Melodie, dass er mitten in seiner Bewegung innehielt, aus Angst, durch den kleinsten von ihm verursachten Lärm diese reine Tonfolge zum Abbruch zu bringen. So stand er an eine kalte, nasse Mauer gelehnt in der dunklen Gasse und lauschte der Musik. Es war keine bekannte Melodie, er hatte so was noch nie gehört, noch nie gefühlt, auch hielt er normalerweise nicht viel von Musik, Gesäusel, wie er es oftmals nannte. Doch diese kleine, zarte Melodie rührte ihn. Möchte sie doch nie enden, noch lange nicht.
Sein Wunsch blieb ihm verwehrt. Der letzte Ton verklang, das Fenster der Wohnung, aus der diese wunderbaren Töne gedrungen waren, wurde zugeschlagen; der Mann wandte sich ab und ging in seine kalte Wohnung, trauriger als zuvor.

Ich hasse Weihnachten“, sagte die junge Frau leise zu sich selbst, strich mit dem Bogen über die Saiten ihrer Geige und entlockte ihnen einen leisen Ton, „ich hasse Weihnachten.“
Auch sie hatte Grund, meinte sie jedenfalls, diese Worte, fast schon als Gebet, dauernd vor sich hinzusprechen. Sie lebte allein, war Sekretärin, eine Arbeit, die ihr normalerweise Spass gemacht hätte, doch an Weihnachten verlor alles seinen Reiz. Auch das Geigespielen. Und das war das einzig wirklich Wichtige in ihrem Leben. Sie und die Geige. Die Geige und sie.
Eine vollkommene Symbiose zweier Individuen. Seltsam, eine Geige als Individuum zu bezeichnen doch für sie war es das. Ein Gegenstand mit Gefühlen, zwar nur durch sie zum Sprechen gebracht, aber dennoch eigenständig, zwingend und fordernd. Vor ihrer Geige konnte sie nichts verstecken, konnte sie sich nicht verstecken, war ihrer Gnade oder Ungnade hilflos ausgeliefert, was die Geige gerade deshalb zum Wertvollsten ihres Lebens machte.
Doch wenn Weihnachten war, konnte auch die Geige nicht helfen, war sie hilflos gegen die fröhlichen Leute, gegen Mandarinen und Lebkuchen, gegen Christbaumschmuck und goldene Engel. Sie konnte der Weihnachtsmaschinerie nicht entgehen, selbst in ihrem Lieblingsladen, einer Bücherei, war sie gegen Dekoration mit Lametta und den Duft von Tannen und in Orangen gedrehte Nelken nicht gefeit. Sie konnte nicht ausweichen, nicht entkommen. Daher blieb sie so oft wie möglich zu Hause, ging auch nicht mehr ans wöchentliche Treffen des Orchesters, in dem sie mitspielte, da dort immer mehr nur Weihnachtslieder geprobt wurden, im Hinblick auf das alljährliche Gemeindefest. Ihr Hass auf Weihnachten vergällte ihr sogar das Geigenspiel. Nur zu einem Lied konnte sie sich durchringen, nein, sie musste es spielen, musste es der Öffentlichkeit preisgeben, und sei die Öffentlichkeit auch nur eine streunende Katze, die auf der Suche nach Futter unter ihrem geöffneten Fenster vorbeispazierte, sie musste das Lied einfach spielen.
Und so spielte sie. Als der letzte Ton verklungen war, machte sie das Fenster zu, löschte das Licht und legte sich schlafen. Leer war sie, einfach nur leer.

Am Abend des nächsten Tages, nach getaner Arbeit, sass der Mann in seiner Wohnung, die obwohl nun schön warm und geheizt, genau so kalt wirkte wie alle Abende zuvor. Er dachte nach. Der Gedanke an die süsse Melodie hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, eingenistet, wollte ihn nicht mehr freigeben, so dass er, vollkommen gefesselt von diesem einen Gedanken, genötigt war, seinen Mantel anzuziehen und die warme Behaglichkeit seiner Wohnung gegen die Winterkälte, die draussen vorherrschte, einzutauschen, auf der Suche nach der Melodie, sie wenigstens einmal noch zu hören, um vielleicht dann Ruhe vor dem fiebrigen Durcheinander in seinem Kopf zu finden.
Er fand sie, jeden Tag erneut, und mit jedem Male wurde er ruhiger. Jeden Abend stand er um die gleiche Zeit unter dem Torbogen, an die kalte Mauer gelehnt, und lauschte der Musik, genoss es, der Geige zuzuhören, die jeden Abend spielte, nur dieses eine Lied, und danach mit jedem Male glücklicher nach Hause zu gehen und in Gedanken der Vorfreude auf den nächsten Abend ruhig einzuschlafen.
So ging das den ganzen Dezember hindurch, und es wurde Weihnachten.
Zuerst dachte er daran, sich eine Menge an Alkohol zu beschaffen und sich zu betrinken. Aber seine Füsse fanden wie fast selbstverständlich den Weg zum offenen Fenster und er freute sich darauf, wie jeden Abend der schönen Musik zu lauschen. Doch sie spielte nicht. So lange er auch sehnsuchtsvoll wartete, sie spielte nicht. Nicht einen Ton hörte man von der Wohnung, deren Fenster nichtsdestotrotz offen stand. Und als er sich nach zehn Minuten, er war kein geduldiger Mensch, enttäuscht abwenden wollte, auf der Suche nach einer Kneipe, hörte er plötzlich doch etwas, das ihn zum Bleiben bewegte. Nicht die Geige, nein, sondern die leise Stimme der junge Frau, der die Geige gehörte. Sie war es, die ihn zum Bleiben bewegte, ihn einlud zu bleiben zu einem Kaffee, wenn er den gerne trank, um seine steifen, kalten Glieder aufzuwärmen, so lange wie er doch draussen gestanden hatte.
Und so blieb er bei der einsamen Geigerin und beide erlebten wohl ihr schönstes Weihnachten, erlebten zum ersten Mal den Zauber von Weihnachten, und als die Frau erst viel später die Melodie, ihr gemeinsames Lied, spielte, fiel draussen der erste weisse, zauberhafte Schnee.


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