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ffen Bündnis fordert ein Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen!
Donnerstag, 13.August 2009 von Redaktion
Aus Bund & Land, Aus dem Bundesbüro
Am heutigen Donnerstag hat ein Bündnis aus Politik, Wissenschaft und Erwerbsloseninitiativen einen Aufruf zur Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen vorgestellt, der von über hundert namhaften Personen und Organisationen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen unterzeichnet wurde.
Der Aufruf wurde verfasst von Tacheles e.V. (Wuppertal), Prof. Dr. jur. Helga Spindler (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Franz Segbers (Universität Marburg), Prof. Dr. Claus Offe (Hertie School of Governance), Prof. Dr. Stephan Lessenich (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Markus Kurth MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Katja Kipping MdB (DIE LINKE), Jürgen Habich (Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen – Gegen Einkommensarmut und Ausgrenzung e.V.), Franziska Drohsel (Bundesvorsit-zende der Jusos), Prof. Dr. Klaus Dörre (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und der AG Sanktionen der Berliner Kampagne gegen Hartz IV.
Im Jahr 2008 waren 789.000 Erwerbslose von Sanktionen betroffen, mit denen ihr Existenzminimum gekürzt oder sogar gestrichen wurde. In vielen Fällen war dies willkürlich und rechtswidrig. Die Initiator/innen des Aufrufes halten angesichts der hohen Zahl erfolgreicher Widersprüche (41,7 %) und Klagen (65,3 %) und der katastrophalen Personalsituation in den Jobcentern wie auch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise einen sofortigen Stopp der gegenwärtigen Sanktionspraxis und ein Überdenken der Sanktionsregelungen für dringend notwendig.
Der Zustand, dass Tausenden das zum Leben Notwendigste gestrichen wird, ist nicht hinnehmbar. Das hat die Beteiligten im Bündnis zusammengeführt – allen politischen Unterschieden zum Trotz. Beim Thema Sanktionen reichen die Haltungen der Bündnismitglieder von der Vorstellung, dass Geldkürzungen zur Verhaltenslenkung bei Erwerbslosen in gewissem Maße legitim seien, keineswegs jedoch im gegenwärtigen Umfang, bis zur Forderung nach einer generellen Abschaffung von Sanktionen, nicht zuletzt aus grundrechtlichen Erwägungen. Was die Bündnismitglieder eint, ist die Überzeugung, dass angesichts der gegenwärtigen Zustände in den JobCentern der Vollzug von Sanktionen sofort gestoppt werden muss.
Anlässlich der Pressekonferenz erläuterten einige Bündnismitglieder, warum sie für ein Sanktionsmoratorium eintreten. Markus Kurth sagte: „Die Sanktionen im SGB II sind derzeit nicht zielführend, sondern werden von den Betroffenen als Schikane erlebt. Deshalb müssen sie jetzt ausgesetzt werden. Verwerflich sind nicht Fehler, sondern das Festhalten an einem offensichtlichen Fehler der Hartz-IV-Gesetzgebung.“ Katja Kipping führte aus: „Ein sofortiges Sanktionsmoratorium sehe ich als einen ersten Schritt in die richtige Richtung an – nämlich in die Richtung einer grundrechts-konformen Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme. Ich setze mich für die sofortige Abschaffung des Sanktionsparagrafen 31 ein.“ Franziska Drohsel erläuterte: „Arbeitslosigkeit hat vielfältige Ursachen und kann nicht durch Druck und Repression beseitigt werden. Sanktionen sind kein akzeptables Mittel. Sie verschlimmern lediglich die Situation für die Betroffenen.“ Frank Jäger vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. berichtete aus der Beratungspraxis: „Sanktionen brechen über Erwerbslose herein wie eine Katastrophe.“ Jürgen Habich meinte: „Mit dem Instrument der Sanktionen schaffen die Behörden keinen einzigen Arbeitsplatz, sondern schüren die Angst und die Hilflosigkeit der Leistungsberechtigten und stehen deshalb einer Vermittlung in Arbeit eher entgegen.“ Der Soziologe Klaus Dörre stellte fest: „Ein Sanktionsmoratorium ist ein erster, im Grunde überfälliger Schritt, um die Härten des neuen Arbeitsmarktregimes zu mildern.“ Helga Spindler führte aus: „Warum engagiere ich mich als Sozialjuristin für ein Moratorium bei Sanktionen, mit denen ich lange Zeit leben konnte? Die überstürzte Umorganisation der Arbeitsverwaltung hat ein bis heute nicht bewältigtes Chaos ausgelöst, während die Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitslosen Schritt für Schritt abgebaut worden sind.“ Franz Segbers, Theologe und Pfarrer, erörterte: „Aus ethischer Sicht geht das Recht des Menschen auf Leben jeder Pflicht zu einer Gegenleistung voraus. Leistungskürzungen, durch die eine Grundsicherung unter die Schwelle des Existenzminimums gedrückt wird, verstoßen gegen die Menschenwürde.“ Der Soziologe Stephan Lessenich stellte fest: „Ein Sanktionsmoratorium wäre ein erster Schritt hin zu einem Sozialstaat, der seinen Namen verdienen würde, indem er seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht mit Misstrauen und Zwang, sondern vielmehr mit Vertrauen und Unterstützung begegnet.“
Zu den Erstunterzeichner/innen des Aufrufs gehören die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. Heidi Merk und ihre Amtsvorgängerin Barbara Stolterfoht, der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, die Bundesvorsitzende der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschland Birgit Zenker, der Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland Johano Strasser, die Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz Susanne Kahl-Passoth, der Bundesvorsitzende der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen Dieter Hummel, die Malerin ANTOINETTE, der Musiker Sebastian Krumbiegel (DIE PRINZEN), das Bundesjugendwerk der AWO e.V., die Soziologin Gisela Notz, der Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer, der Journalist Günter Wallraff sowie bekannte Politiker/innen aus vier Parteien.
Den vollständigen Aufruf, die Liste der Erstunterzeichner/innen, Stellungnahmen der einzelnen Bündnismitglieder und Kontaktmöglichkeiten finden Sie unter: www.sanktionsmoratorium.de
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Ver.di publik und die Konsequenzen des konsequenten Ultra-Pluralismus
Was »Solidarität im neuen Format« bei der Gewerkschaft ver.di heutzutage heißt, konnte man in ihrer Mitgliederzeitschrift ver.di publik vom August 2002 gleich in mehreren Artikeln nachlesen. So verkündet uns ein Auszubildender, dessen Eltern aus Laos nach Deutschland aus(oder ein?)gewandert sind und der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, dass man die Zuwanderung von Ausländern begrenzen müsse, bis »wir das Problem der Arbeitslosigkeit im eigenen Land gelöst haben« – und die Gewerkschaftsmitglieder bzw. imaginierte sonstige Leser, die in der Mehrheit vielleicht das Gleiche denken, können erleichtert durchatmen. Wenn schon die ehemaligen Ausländer so denken... Auf Seite drei erzählt Isolde Kunkel-Weber, die als Mitglied des ver.di-Bundesvorstands in der Hartz-Kommission saß, dass sie dort eine »gemeinsame Wertehaltung« entwickelt hätten – was wir gerade ihr gerne glauben wollen, zugleich aber doch ein etwas fataler Ausdruck des diesbezüglichen Zustandes der Gewerkschaften ist. Und dann gibt es da noch – Höhepunkt der Solidarität im neuen Format – auf Seite 12 die Reportage: »Die Jagd der Doris Kühn«, in der man im Stil des TV-Sozialdokumentationsjournalismus »informiert« wird über die Arbeit der Leiterin des Prüfdienstes des Sozialamts Berlin-Reinickendorf. Gemeinsam mit Kühn darf der Leser verschiedene Sozialhilfeempfänger besuchen – wie Frau Werner, die »nicht doof« ist und bei der wir im Badezimmerschrank nach »Indizien« wie Rasierzeug, Männerparfüm etc. schnüffeln dürfen, wie Herrn Wörns, der verdächtigerweise tagsüber selten zu Hause ist, wie Herrn Meinhard, der »alles hat, was der moderne Mensch so braucht« (außer eben einem Job, dafür aber ein verschimmeltes Badezimmer) und dem wir auch nach mehrmaligem Probeliegen eine neue Matratze beim besten Willen nicht zugestehen wollen; all die »Schlitzohren«, die »den Berliner Steuerzahler einige Millionen im Jahr« kosten. All das geschieht im Auftrag ihres mutigen CDU-Sozialstadtrats, für den sie penibel Statistiken führt, wieviel – absolut und in Prozent – in jedem Fall durch ihr Eingreifen eingespart wurde. Für die alleinerziehende Frau Gabriels mit dem völlig verwahrlosten Kinderzimmer hat sie nicht nur keine Hilfen, sie wirft ihr auch noch Verletzung der Aufsichtspflicht vor, weil die Kleinen die Tapete abgerissen hätten.
Auf den letztgenannten Artikel, aus dem diese Zitate stammen, reagierte am dritten Oktober Helga Spindler, Sozialrechtlerin und Professorin am Studiengang Soziale Arbeit an der Universität Essen, mit einem Leserbrief an ver.di publik. Zur Kommunikation im alten Format gehört bei ver.di publik, dass Helga Spindler weder eine Eingangsbestätigung noch eine weitere Reaktion bekommen hat. Da der Leserbrief auch nicht abgedruckt wurde, dokumentieren wir ihn hier:
Sehr geehrte Redaktion von ver.di publik,
über das Internet bin ich auf den oben genannten Bericht aufmerksam geworden. Ich habe nichts gegen realistische Reportagen aus der sozialen Wirklichkeit, aber wenn sich in den Ansichten und Praktiken eines Gewerkschaftsmitglieds wie Frau Kühn widerspiegeln sollte, wie man sich in der Gewerkschaft »Solidarität im neuen Format« vorstellt, dann wird mir Angst und Bange. Frau Kühn arbeitet zwar beim Sozialamt, aber von der Zielsetzung des Sozialgesetzbuchs, des Sozialhilferechts oder auch der Kinder- und Jugendhilfe scheint sie noch nie etwas gehört zu haben.
Sie fahndet nach Sozialbetrügern – auch das muss sein. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich jemanden bei der unangemeldeten Schwarzarbeit überführe oder ob ich selbst unangemeldet in Wohnungen und Privatsphären eindringe und manisch nach »Zweit«kissen, »Zweit«zahnbürsten und Herren-T-Shirts auf der Wäscheleine suche, obwohl es offenbar kaum stichhaltige Anhaltspunkte für eine eheähnliche Gemeinschaft gibt, ob ich Menschen in verschimmelten Wohnungen als »Schlitzohren« bezeichne und einer überforderten alleinerziehenden Mutter »Verletzung der Aufsichtspflicht« vorwerfe. Und diese Menschen sind beim überfallartigen Eindringen in ihre Wohnungen auch noch zottelig, verlottert, tragen schlabbernde Kleidung, haben nicht aufgeräumt und sind gefährlich, weil sie nichts mehr zu verlieren haben – da schimmert das Zerrbild des Untermenschen durch.
Frau Kühn ärgert sich über das Anspruchsdenken dieser Menschen und ist selbst voller Tatendrang. Vielleicht könnte man eine Lösung finden, die allen gerecht wird. Angesichts der Tatsache, dass Berlin zwar viele Sozialhilfeempfänger hat, aber noch mehr überzählige Angestellte im öffentlichen Dienst beschäftigt, und dass auch die Gewerkschaft neue Mitglieder braucht, schlage ich daher folgende Gesamtlösung vor:
Frau Kühn wird entlassen und von der Personal-Service Agentur für eine Entlohnung in Höhe ihres Arbeitslosengeldes als Haushälterin bei ihrem verehrten Sozialstadtrat angestellt, mit dem sie dann noch enger und eigenverantwortlich zusammenarbeiten kann. Sie bezieht die Wohnung von Herrn Meinhard, übernimmt die Matratze und repariert das schimmelige Badezimmer auf eigene Kosten mit Acryllack. Ehrenamtlich betätigt sie sich in der Schwangerenkonfliktberatung und erläutert schwangeren bedürftigen Frauen anhand ihres reichen Erfahrungsschatzes, wie lange diese mit der evtl. Aufzucht der Kinder ihrem ehemaligen Arbeitgeber auf der Tasche liegen würden und führt eine Statistik, wie viel – absolut und in Prozent – das ungeborene Kind den Bezirk gekostet hätte, wenn ...
Von den eingesparten Geldern könnte man überlegen, Frau Gabriels anzubieten, dass Frau Werner (die ja »sauber« ist) sie als regulär bezahlte Teilzeitarbeitskraft einige Monate als Familienhelferin unterstützt. Es reicht auch noch, um einmalig der ältesten Tochter von Frau Gabriels ein anständiges Jugendbett und den notwendigen Kleiderschrank zu verschaffen und den Umzug von Herrn Meinhards Familie in eine passende Wohnung mit trockenem Badezimmer und neuem Kinderbett zu übernehmen. In den Folgemonaten könnte man aus dem eingesparten Geld Herrn Meinhard entsprechend seiner Qualifikation zusätzlich und befristet im öffentlichen Dienst beschäftigen. Er und Frau Werner wären darüber so erfreut, dass sie bei ver.di eintreten, und bei einem Treffen für Neumitglieder würde Herr Meinhard seine wunderschöne CD-Sammlung aus besseren Tagen zur Verfügung stellen. Und wenn sie nicht gestorben sind ...
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Helga Spindler
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