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lumina* schrieb am 11.3. 2001 um 17:59:40 Uhr über

Küssen

Alberta empfängt einen Liebhaber

Wenn wir ein klein wenig mehr vom Küssen verstanden hätten, hat Nadan später einmal gesagt, als er ratlos war, weil wir gerade gemerkt hatten, dass rückwirkend küssen nicht geht. Auch dann nicht, wenn man etwas davon versteht. Dann schon gar nicht.
Wenn wir mehr davon verstanden hätten, hätten wir es wahrscheinlich eine Zeitlang gemacht, und dann wären wir in schönster Eintracht auseinandergegangen, statt uns immer wieder dazwischezufahren. Auseinandergehen ist etwas anderes als Danebengehen. Das reinste Idyll dagegen.

Ich fand, er hätte wissen müssen, wie Küssen geht, weil er kurz vor dem Führerschein stand. Wir hätten es im Grunde beide wissen können, weil es, als wir jung waren, einfach jeder wusste und alle kreuz und quer durcheinanderküssten. Es sollte gut gegen den Vietnamkrieg sein, und weil alle gegen den Vietnamkrieg waren, wurde sehr viel geküsst, uns schießlich schien es zu helfen, irgendwann war der Krieg zu Ende, und als er zu Ende war, ließ man es wieder sein. Ich war auch gegen den Vietnamkrieg und hätte nichts gegen Küssen gehabt, aber Nadan küsste nicht, und ich wollte nicht ohne Nadan.
Man konnte leicht in den Verdacht kommen, den Vietcong zu verraten und heimlich ein Imperialist zu sein.
Es war eine schwierige Zeit. Ich ging in Fellini-Filme und merkte, wie mager ich war. Dann waren Stadtmeisterschaften, und alle fuhren vorher ins Trainingslager. Ich war knapp unter der Altersgrenze, aber ich konnte schnell starten. Für Kurzstrecke würde es reichen. Also durfte ich mit. Nadan wurde später Stadtmeister im Zweitausend-Meter-Lauf. Ich hatte etliche Fehlstarts, und danach stolperte ich über die Hürde und verlor dabei auch noch das Staffelholz.
Vorher waren wir eine Woche im Trainingslager. Wir spielten Pingpong, fanden Abkürzungen für den Trimmpfad und beschummelten die Stoppuhr; es gab Vierfruchtmarmelade und Schinkennudeln und jeden Tag Hagebuttentee, an den Abenden gingen wir in die Kneipe im nächsten Ort und tranken Bier, und am nächsten Tag war uns schlecht. Alle küssten, und weil sie ausprobieren wollten, wie Küssen im Dunkeln ist, wenn man nicht sieht, wer nun wen erwischt, sind wir auch einmal nachtgewandert. Es war eine kühle Nacht. Der Mond schien, man konnte genau sehen, wer wen erwischt hatte, und dann sind wir wieder zurückgegangen.
Plötzlich wurde es aber tatsächlich finster, der Mond war weg, die Sterne waren weg, und ich fiel in eine Grube. Sie war etwas tief und vor allem etwas nass. Weil Nadan hinter mir ging, fiel er auch hinein. Danach kam keiner mehr. Ich hatte erst Lust zu schreien, weil Mädchen im Dunkeln schreien, wenn sie in eine Grube fallen, und auch sonst manchmal, aber es hat mich nicht überzeugt, weil ich mir nichts gebrochen oder geprellt hatte, und als Nadan auch in die Grube gefallen kam und sonst weiter keiner nach ihm, waren wir so dicht über- und unter- und aneinander, dass mir schien, als ob wir uns küssen sollten, wo es sich schon einmal so ergab. Manchmal habe ich ein Gespür dafür, wenn etwas geradezu klassisch ist, und nach meinem Gespür war dies hier klassisch, aber wir waren nur nass geworden, rückten voneinander weg, brauchten einen Moment, um aus der Grube zu klettern, und gingen weiter.
Es war der Abend unserer großen Chance. Wir hatten nicht nur diese eine Chance, sondern gleich eine ganze Serie, eine ganze Nachtvoll Chancen, weil wir nach dem Grubenfall und Herausklettern die anderen verloren hatten und danch wunderbarerweise auch noch den Weg nicht mehr fanden, und besser kann es gar nicht mehr kommen.
Wenn ich uns sehe, ist später dann wieder ein Milchmond dabei, und die Sterne sind wiedergekommen. Nadan sieht alles stockfinster. Immerhin haben wir uns irgndwann einmal darauf einigen können, dass wir zuletzt etwa die halbe Nacht auf einer umgefallenen Fichte saßen. Und saßen. Und immer noch weitersaßen. Und sitzen noch. Bis zum jüngsten Tag. Immer auf dieser Fichte.

Es gibt Momente, in denen das Leben plötzlich anhält, weil es sich verschluckt hat. Es verschluckt sich, hält an und hält die Luft an, es hält eine ganze Weile die Luft an und weiß nicht, wie es weitergeht, und schließlich atmet es aus, und bis es wieder den Rhythmus findet, könnte man denken, dass es vergessen hat, wie es sich atmet, aber dann atmet es wieder durch und geht weiter. Aber es hat einen Moment lang angehalten, und etwas bleibt verschluckt und in den angehaltenen Augenblick eingesperrt, es bleibt zurück und kann nciht mehr aus dem Moment heraus und mit dem Leben mit, wenn es durchatmet und dann weitergeht.
Ich sehe Nadan im Mondlicht sitzen, und Nadan sieht nichts in der Dunkelheit.
Das Verschluckte und Eingesperrte wird natürlich nicht älter. Es bleibt da sitzen, kurz vor der Altersgrenze, kurz vor dem Führerschein, und klüger wird es so auch nicht.
Das, was weitergeht, wird allerdings unweigerlich klüger: und etwas, was ich seit dem Abend weiß, ist, dass man nicht lange schweigend herumsitzen darf, wenn man küssen möchte; entweder man küsst beherzt einfach gleich drauflos, auch wenn es einem komisch vorkommt, oder man macht etwas anderes, aber schweigend herumsitzen sollte man möglichst nicht. Sobald man anfängt, eine längere Weile schweigend herumzusitzen, verliert man unweigerlich an Entschlusskraft, die man zum Küssen braucht, und das gesamte Kussvorhaben erscheint einem nicht mehr unumgänglich und unvermeidlich, nicht einmal passend, sondern zunächst unpassend und zweifelhaft, später anrüchig und schließlich leicht unappetitlich. Man mag nicht mehr, selbst wenn man vorher sicher war, dass man mögen würde. Bei schweigendem Herumsitzen fängt man nämlich an zu denken. Und dabei fällt einem auf, dass man eigentlich nciht versteht, warum man jemandem, den man gern mag, weil er Nadan ist und Nadans Stimme hat, Nadans leisen Dialekt und Nadans kluge Augen, warum bloß man so jemandem, den man tatsächlich besonders gern mag, mit der Zunge in den Mund fahren soll, wo die eigene Zunge und der andere Mund voller Spucke sind, und dasss Spucke unappetitlich ist, weiß ja jeder, aber mit fünfzehn Jahren weiß man es womöglich besser und genauer und unerbittlicher als jeder.
Küssen kam mir beim Herumsitzen und Darüber-Nachdenken allmählich zudringlich und pervers vor.
Je mehr man schweigend nebeneinander herumsitzt und denkt, um so weniger mag man.
Es ist so. Man mag einfach nicht mehr. Es kommt vom Denken. Man wird allmählich sogar ein bisschen aufgebracht gegen den anderen, nur weil er da ist. Es ist lästig, dass er da ist. Wenn man lange in nassen Schuhen im Wald auf einer umgefallenen Fichte sitzt, fängt man außerdem an zu frieren, man hat kalte Füße und Hände und eine rote Nasenspitze, die Nadan aber nicht gesehen haben kann, weil er sagt, die Szene war ohne Mond und stockfinster, und ich habe sie nicht gesehen, weil ich den Waldboden mit dem Milchmondschimmer darauf betrachten und langsam darüber nachdenken musste, wie ich auch nur halbwegs mit Anmut aus dieser nächtlichen Schweigesitzung herauskommen könnte, ohne am Ende noch küssen zu müssen.
Schweigen kann sehr verschieden sein, und wir haben seit diesem Erstschweigen auf der ungefallenen Fichte viele Folgeschweigen ausprobiert, mit- und gegeneinander, erschöpfte, explosive; manche Schweigen pochen an die Stirn und lassen Nadans Augen verschwimmen; Blödigkeitsschweigen gibt es und endlose Telefonschweigen, von denen einem die Seele gerinnt; aber dieses Urschweigen mit Milchmond auf der umgefallenen Fichte war anders als all die späteren Sorten, die wir ungefähr so gelernt und uns übersetzt und benutzt haben, wie ein Taubstummensprach. In jeder danbengeganben Geschichte gibt es ein geheimes Schweige-Glossar, und wenn eine Geschichte so wir unsere danebengeht, bis zum Jüngsten Tag, ist das Schweige-Glossar riesg, geradezu enzyklopädisch, aber das Urschweigen gehörte noch nicht in dieses Schweige-Glossar hinein; es war ganz ohne Bedeutung, nur klumpig, und ich brachte dringend eine Zauberformel, um elegant aus der Sache herauszufinden, aber mir fiel lange keine ein, weil das Leben angehalten hatte.
Dann atmete es aus.
Es musste den Rhythmus erst finden.
Dann fiel mir eine Formel ein, die vielleicht noch nicht ganz die gewünschte Zauberkraft hatte, aber doch schon höchst elegant war: »Lieben Sie BrahmsEs war der Titel eines Buches, das ich gerade gelesen hatte, und sowohl das Buch wie auch ganz besonders der Titel waren mir äußerst gelungen erschienen, aber nachdem ich ihn zur Probe ein paarmal stumm vor mich hingedacht hatte, klang er nicht mehr so elegant, eher geschwollen, und passte dem Stil nach nicht so recht in den Wald. Außerdem würde sich Nadan wundern, wenn ich ihn plötzlich siezte.
Ich versuchte also, ihn ins Du zu übersetzen, aber dadurch wurde er eher noch schlimmer: Liebst du Brahms? Das quietscht und hat keinen Schwung, und außerdem hätte ich die Zauberformel vorsichtshalber lieber ohne Liebe gehabt, weil Nadan von Liebe vielleicht auf Küssen kommen könnte, und das war unbedingt zu vermeiden. Salopp und souverän hätte ich natürlich sagen können: Magst du Brahms? Es wäre stilistisch vielleicht geganen. Nur ist Brahms nicht wie Hinz und Kunz oder Himbeereis, man kann über Brahms nicht sagen, mag ich oder mag ich nicht, Brahms ist groß und tot und längst über jegliches Mögen erhaben, man kann darüber streiten, ob er zu schnell gespiel werden darf oder nicht oder ob man die Hälfte der Instrumente weglassen kann oder noch welche dazutun müsste, aber man beleidigt Brahms und blamiert sich, wenn man ihn mit Mögen oder Nichtmögen verbindet.
Wir hatten mittlerweile schon so lange schweigend herumgesessen, dass der nächste Satz nun von Gewicht sein würde. Er würde senkrecht und scharf in dieses kalte, klumpige Schweigen fallen, es zerteilen und hindurchfallen und unten auf dem Boden aufkommen mit einem Schlag oder Knall, und danach würden wir erlöst sein vom Herumsitzen und vom Küssenmüssen, das Leben würde weitergehen, wir würden den Weg schon irgendwie wiederfinden, und beim Gehen würden die Füße und Hände warum und nachher im Bett auch die Nasenspitzen. Deswegen war der Zaubersatz wichtig, während Nadans Verhältnis zu Brahms mich nicht so sehr interessierte, aber weil der Satz wichtig und gewissermaßen historisch war, beschloss ich, dass Brahms seiner Größe und seines Totseins halber ruhig darin vorkommen dürfte.
Seit ich sprechen kann, leide ich unter stilistischen Sorgen, und nachts im Wald eine Zauberformel gegens Küssen mit Nadan finden zu müssen, ist gewissermaßen die stilistische Sorge schlechthin. Ich wurde davon sehr müde.
Irgendwann kam mir, weil das Leben weitergehen würde und ich ins Bett und nur noch schlafen wollte, eine Eingebung, in der die Größe von Brahms sich mit meiner eigenen Souveränität auf milchmondhaft ideale Weise salopp und graziös zusammenfand. Ich hätte weinen mögen vor Schönheit und Eleganz und Gelingen und Müdigkeit und kalten Füßen, und Nadan hat später gesagt, er hätte meine Stimme sonderbar schlucken hören und es beunruhigend ung bizarr gefunden, dass wir im Wald herumsitzen und so lange nichts sagen, bis man gar nicht mehr weiß, was man sagen könnte, und dann sage ich mit verschluckter Stimme: Wie findest du eigentlich Brahms?
Damit hatte er nicht gerechnet. Tatsächlich tat der Satz ganz genau, was er sollte: Er fiel senkrecht mitten ins Schweigen hinein, einmal durch und bis ganz unten runter und schlug mit einem unangenehmen Geräusch unten auf. Es schepperte.
Nadan sagte: Die Stones mag ich lieber.
Danach sind wir gegangen. Bis ich im Schlafsaal war, wurde es langsam hell, und ich hatte noch anderthalb Stunden Zeit, mich zu schämen.

Birgit Vanderbeke




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