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Silke Liria Blumbach schrieb am 28.7. 2006 um 16:16:31 Uhr über

November

Dariusz in Mai und November
Da vorne ging er. Dariusz. Sie sah ihn nur von hinten, aber es war Dariusz, ohne Zweifel. Ihn hätte sie jederzeit unter Tausenden wieder erkannt, den kleinen Jungen von vor über einem Jahrzehnt, der im Gegensatz zu all ihren anderen Freunden nicht gerne Fußball gespielt hatte, oder Jahrzehnte später einen Dariusz mit Glatze und Falten und vielleicht einem Vollbart. Dariusz war einmalig, hatte sie gedacht, obwohl eigentlich jeder Mensch einmalig war, aber Dariusz war eben noch einmaliger, unverwechselbar, sofort zu erkennen. Sie kannte seinen Gang, seine wogende Silhouette am Ende der Straße, wenn er davonging und sie ihm nachblickte, oder am Anfang der Straße, wenn er ihr entgegenkam, lang erwartet oder als Überraschung, als Glücksfall. Die Straßen, die sie gemeinsam begangen hatten, langsamer als alle anderen Passanten, ohne einander zu berühren und fast ohne einander anzusehen, und die Orte, auf denen er plötzlich vor ihr aufgetaucht war wie ein Vogel aus heiterem Himmel, hatten sich im Laufe der Zeit zu einem Glücksnetz verwoben. Dort entlang zu gehen, wo sie mit Dariusz gewesen war, sich dabei an ihn zu erinnern, das brachte Glück, besonders vor Klausuren und Prüfungen.
Ja, das da vorne war Dariusz, Dariusz zwischen Straßenlaternen und Weihnachtsbeleuchtung. Je dunkler es wird, desto kälter wird es, dachte Daniela. In Danzig war es um diese Zeit bestimmt noch kälter. Doch, es konnte nur Dariusz sein. Leider. Nie hatte sie sich vorgestellt, dass Dariusz eines Tages auch Unglück bringen könne. Dass sie sich eines Tages wünschen sollte, sie hätte ihn lieber nicht gesehen. Zumindest nicht mit dieser Frau im Arm.
Sie war blond, das erkannte Daniela von hinten. Blonde Strähnen verschwanden unter Dariusz’ Arm und kamen ein Stück später wieder zum Vorschein. Bestimmt war sie schön. Alle blonden Frauen, die sie kannte, waren schön. Diese Frau hier, die mit Dariusz so leicht durch die Straße schwebte, war bestimmt schöner als Daniela.
Ach, Dariusz. Irgendwann hatte es so kommen müssen ... Ein Bekannter nach dem anderen hatte eine Freundin gefunden, mancher sogar seine Liebe fürs Leben; doch Dariusz hatte sie sich merkwürdigerweise nicht an der Seite einer anderen Frau vorstellen können. Nicht ihn. Er war ihr Dariusz, der ihre Maler, ihre Dichterinnen, ihre Musik liebte. Mit niemandem konnte sie reden wie mit ihm. Wie konnte er nur wie alle anderen sein und ihr ... weggeschnappt werden? Zwar war er schon immer beliebt bei den Frauen gewesen, aber Dariusz mit einer Frau im Arm in der Stadt, gar in einer von Danielas Glücksstraßen ...
Dariusz war nicht ihr Dariusz. Vielleicht war er es nie gewesen, vielleicht nur damals in den hellen Minuten im Mai.
31. Mai. Das Datum war leicht zu merken. Es war der Geburtstag ihrer Lieblingscousine, weshalb Daniela an jenem Abend auch zum Marktplatz mit den Telefonzellen gegangen war, um ihr zu gratulieren, anstatt nach dem Sport sofort mit dem Bus nach Hause zu fahren. Als sie aus der Telefonzelle trat, sah sie ihn.
Dariusz aus Gdańsk, der zu ihr nach Deutschland gekommen war, natürlich nicht nur zu ihr. Den sie mochte. Dariusz, der Pole, der ihr „Dzień dobry“ undDo widzenia“ beigebracht hatte und „Jestem Daniela-Ich bin Daniela“. Die Wörter „kochać“ undmiłość“ kannte sie damals noch nicht; diese Wörter sollte sie auch nicht von Dariusz lernen, sondern im Wörterbuch nachschlagen und auch nur denken, niemals aussprechen.
Der Mai war Danielas liebste Zeit im Jahr. Jetzt waren die Tage schon so lang, dass sich ihre Augen nicht mehr ins Dunkel bohren mussten, und so warm, dass die Luft ihr Mantel war. Dabei war es nicht einmal Sommer: der Sommer, drei ganze Monate und noch ein paar Tage lang, lag einladend noch vor ihr. „Du kannst den Pudding nicht haben und essen“, hatte man ihr als Kind vergeblich versucht beizubringen. Doch um diese Zeit des Jahres konnte sie den Sommer gleichzeitig vor sich haben und genießen.
Der Marktplatz leuchtete. Aus den Häusern am Rande und dem Brunnen in der Mitte des Platzes schmolz die Abendsonne Glanz und Farben und nur leichte Schatten. Daniela hätte ihre Schuhe ausgezogen und in den Turnbeutel gepackt, wenn er nicht gewesen wäre, Dariusz, der sie gesehen hatte und auf sie zukam.
Dann stand er vor ihr, auch er leuchtend. Sein Kopf verdeckte die Sonne, so dass Daniela nicht zu blinzeln brauchte. Dariusz war keine Schönheit, doch an diesem Abend war er schön, sogar sehr schön. Sie sprachen über diesen Tag, über den nächsten Tag, über das Sommerwetter. Daniela achtete nicht so sehr auf die Worte, die aus Dariusz’ Mund strömten, sondern auf den Mund selbst, auf die Regungen in dem Gesicht, das diesen Mund trug. Hin und wieder warf auch sie einige Sätze in die warme Luft, damit der Fluss der Worte nicht ins Stocken geriet. Es ist etwas zwischen uns, dachte sie, als Dariusz von Streiks und Kriegsrecht in Danzig sprach, von Verfolgungen und von der verschmutzten Ostsee. Du weißt es auch. Bestimmt. Daniela versuchte, es auf ihn hinüber zu strahlen, ihn damit anzustecken und einzuhüllen.
Und tatsächlich schien es Dariusz schwer zu fallen, sich von ihr zu verabschieden. Daniela sah ihm nach, wie er das schwarz gezeichnete Netz durchschritt, das aus den Fugen und Zwischenräumen zwischen den Pflastersteinen geknüpft war und sich über den ganzen Platz spannte, von ihr bis zu Dariusz und noch über beide hinaus. Es war wie ein Netz im Zirkus, das den Fall der Trapeztänzer aufhalten würde, dieses Netz in der Sonne am letzten Abend im Mai.
Mit diesem Netz hatte Daniela versucht, Dariusz zu fangen. Statt dessen hatte sie selbst sich darin verfangen.
Bei der nächsten Begegnung war es anders. Der Zauber war aus Dariusz’ Gesichtszügen, Dariusz’ Stimme, dem Raum zwischen ihm und ihr gewichen; vergeblich suchte Daniela, ihn stumm noch einmal heraufzubeschwören. Der 31. Mai blieb unwiederholbar. Doch was sich jederzeit wieder hervorholen und ausbreiten ließ, war das Bild jenes Maiabends, das Bild des Platzes mit dem Netz um sie und Dariusz.
Sie waren Freunde, sie sahen sich hin und wieder und gingen einige seltene Male miteinander aus. Daniela nannte ihn Darek, erzählte und hörte zu und suchte in seinen hellen Augen ein Wiederaufleuchten jenes Augenblicks im Mai. Darek unter der Sonne und im Wind, Darek in den Straßen ihrer Stadt, fest in ihre Erinnerungen und Tagträume eingemeißelt.
Doch jetzt war endgültig alles anders, jetzt, da es diese blonde Frau auf Dariusz’ Wegen gab. Dariusz war aus dem schwarzen Netz entkommen und hatte Daniela allein darin zurückgelassen, deren Name doch wie der Name seiner Stadt, Danzig, klang. Sogar Dariusz selbst bestand fast zur Hälfte aus Daniela. Sollte das alles denn nur ein Zufall sein? Daniela fühlte sich, als müsste sie aus dunklem, fauligem Ostseeschlamm auftauchen.
Entschlossen drehte sie sich um und eilte die Straße zurück, hängte sich an die Welle von Passanten, die sie von Dariusz wegtrug. Nieselregen verfing sich in ihren Haaren. Plötzlich fiel ihr das Lied über die Vergänglichkeit der Liebe ein, mit dem sie noch wenige Tage zuvor ihre ungarische Freundin getröstet hatte, „A szerelemnek múlnia kell“. Das Lied war frisch wie der Regen und wie die Erkenntnis, dass Dariusz nicht ihr Dariusz war. Dass niemand auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten je ihr Dariusz oder überhaupt ihr Jemand sein konnte. Ihr waren nur ihre Lieder und die Regentropfen in ihren Haaren und Kleidern und das Stückchen Straße unter ihren Füßen, das bei jedem Schritt ein anderes war.
Daniela durchsang Regen und Straße. Sie sang Lieder vom Abschied, von Liebe, von Sommer und Winter, Lieder in allen Sprachen, die sie kannte, auch einige Lieder, die sie selbst erfunden hatte. Schließlich sang sie das einzige polnische Lied, das sie kannte: „Jeszcze Polska nie zgineła“. Polen war immer noch nicht verloren, und sie, Daniela, erst recht nicht.
Sie wollte sich Dariusz aus der Seele singen.



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