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fuckup.homeunix.net schrieb am 25.6. 2003 um 22:38:14 Uhr über

Zeitgeist

Liverpool Street, 18:30


An den Auslaeufern der City. Als ob sie die niedrigen, schaebigen, alten Strassenzeilen erdruecken wollten, schieben sich die Buerobloecke des Finanzzentrums in die aermere Nachbarschaft vor. An Details wird die Demarkationslinie zwischen der globalen Stadt und dem ebenso globalen Slum sichtbar. Die CCTV-Dichte laesst schnell nach. Mehr zum Abholen bereitgestellte und aufgeplatzte Muellsaecke verteilen ihren Inhalt ueber die Strasse. Misstrauische Blicke der wenigen Fussgaenger begegnen einander.

Auf der anderen Strassenseite stroemen grauschwarze Businesskohorten aus repraesentativen Portalen, sprechen hastig in winzige Mobiltelefone, hechten in U-Bahneingaenge, draengen sich um den Abendzeitungsstand, verteilen ich auf umliegende Pubs, Strip Clubs und Balti-Restaurants.

Ein Motorrad-Courier beobachtet, im Eingang des Transportunternehmens stehend, ruhig das Fruehabendgewimmel. Das blinkende gelbe Licht ueber der Tuer, das sich auf seinem Helm spiegelt, das Funkgeraet, das er wie eine Waffe in der Hand haelt, das an den Ellbogen gerippte schwarze Leder seines Anzugs, ueberzogen von glaenzendem Feuchtigskeitsfilm, lassen ihn aussehen wie einen Cyborg-Kaempfer in einem fruehen Science Fiction Film.

Busse donnern durch die schmalen Strassen, ihre Bremskloetze kreischen, wenn sie abrupt an den Stationen halten. Abgezaehltes Kleingeld und Wochenkarten bereithaltend draengen sich feuchte, schnaufende Menschen in den Bus und verteilen sich auf freie Plaetze. Im Le Mans Stil durch unmoeglich gewundene Strassenzuege, in einer Stadt ohne Masterplan, wo die Strassen jenen Wegen folgen, welche die Grundstuecksbesitzverhaeltnisse zufaellig uebriggelassen haben.



Clerkenwell, 20:00


Meterhohe Fenster ebenerdiger Bueros und Lager in kommerziellen Gebaeuden sind durch Farbe oder Blenden undurchsichtig gemacht, nur die Schriftzuege der Firmenlogos geben Aufschluss darueber, was hinter diesen meterhohen Scheiben geschieht. Grafik-Designs unterstreichen kaufmaennische Glaubensgrundsaetze wie
Haendlerstolz und Fabrikantenehrgeiz. Dies ist eine kommerzielle Stadt, verkuenden gediegene und gut gesicherte Anwesen, und hier sitzen die Zulieferer der Finanzzentren, die Rechtsberater und Medienconsulter, die Kunsthandwerker und Marketing-Planer. Und egal, was auch immer produziert oder gehandelt wird, die Bueros sind erfuellt vom lautlosen Datentraffic in Corporate-Netzwerken, Windows-Screensaver spiegeln sich in den Scheiben der oberen Stockwerke und einsame Spaetarbeiter starren mit geroeteten Augen auf die weltweit gleichen Desktop-Icons des Software-Monopols.



Old Street Circle, 21:00


Zwischen den Ziegelsteingebaeuden mit ihren kunsthandwerklich verzierten hoelzernen Ladenlokalen erscheinen die wenigen Manifestationen des architektonischen Modernismus als die eigentlichen Anachronismen. Waehrend die alten Gebaeude, ob heruntergekommen oder renoviert, den Anschein von Wuerde verstrahlen, sehen die in die Bombenkrater des zweiten Weltkriegs gesetzten sechziger- siebzigerjahre Kloetze wie gestrandete Luxusliner aus. Ihre Scheiben sind von Luftverschmutzung erblindet, ihre Klimaanlagen blasen Staub und Bakterien in die
Raeume, die Verkleidungen fallen von den Kabelschaechten fuer Strom und Telefon, ihre gesamte innere technische Maschinerie arbeitet wie ein alter Motor am Rande des Zusammenbruchs. Der aeussere und innere Verfall dieser Gebaeude ist Zeichen einer kurzlebigen Idee, der des modernen Staates, der der Planbarkeit und Organisierbarkeit der Gesellschaft, der von Chancengleichheit und materieller Sicherheit fuer alle. Nichts koennte das besser illustrieren, als jugendliche Obdachlose, die in Schlafsaecken zusammengerollt ueber den Gittern kauern, aus denen von unten ein wenig warme Luft stroemt, die Restwaerme des Modernismus.



Soho, 23:00


Wochenendhektik zwischen den Neonreklamen von Musicaltheatern, Pizza-, Burger- und Kebap-Imbissen, Sex-Shops und Yuppie-Bars. Schwarz ist die dominante Farbe - Synthetikmaentel reiben sich an Lederjacken, Absaetze italienischer Stiefel klacken am Asphalt, Luftsohlen von Doc Martens saugen schmatzend Feuchtigkeit vom Boden auf, kalter Zigarettenrauch und kondensierter Atem mischt sich ueber den Koepfen mit den Geruechen aus den Frittierkuechen, Dampf steigt von den Espressomaschinen auf. Violetter Lidschatten glaenzt auf, schwarze Schatten sinken tief um muede Augenpaare, Blicke ziehen Bahnen wie abgelenkte Laserpointerstrahlen. Misstrauische Tuersteher mustern die geduldig wartenden Schlangen herausgeputzter Club-Geher. Bettler, Schnorrer, Dealer, Schwarztaxifahrer und Schlepper von Bordellen und Varietés warten strategisch positioniert auf Kundschaft. Muenzen und Scheine wechseln die Besitzer, Betraege werden in digitale Registrierkassen getippt.
Die Verbotspolitik der spaetchristlichen Regierung treibt die Turbinen der Schattenwirtschaft an. Sehnsucht nach Sex, Unterhaltung, Erlebnis steigern den Cash-Flow. Wunschmaschinen an der Arbeit. Touristen und Suburbianer stolpern in die fuer sie bereitgestellten Vergnuegungsfallen.



Leicester Square Station, 23:45


Die U-Bahnstation erscheint wie im Belagerungszustand. Waehrend die Theatergeher und Pub-Trinker bereits wieder am Heimweg sind, in ihre endlosen Reihenhaussiedlungen und monotonen Vororte, wollen andere immer noch ins Zentrum des Vergnuegens. Fussgaengerstau am Eingang. Polizisten versuchen zu intervenieren, vergeblich. Panik, als die Lautsprecherstimme die letzte U-Bahn ankuendigt. Jetzt sind die, die hineinwollen, in der uebermacht. Tickets werden hastig in die Schlitze der Leseautomaten an den Gattern gefummelt, Rolltreppen werden im Laufschritt genommen, letzte Nachzuegler werfen sich gegen die Mauer der bereits dicht an dicht gepresst Stehenden in den Zuegen. Waehrend der Zug durch 100 Jahre alte enge Tunnels rattert, schreien sich Bretrunkene Stimmen Witze zu. Eine junge Frau klammert sich verzweifelt an ihrem Taschenbuch fest und versucht ihr Unbehagen mit einem verstaendnisvollen Laecheln zu kaschieren. Am Ausgang der Endstation wartet eine lange Reihe von Schnorrern. Schnell vorbei. Die Muenzen werden aufgespart fuer den teuren Eintritt in den naechsten Club oder ein KitKat, ein letztes Bier und Zigaretten im 7-11.



Brixton, Fridge Bar, 00:30


Die Gnade des dancefloors vereinigt fuer einige Stunden Rassen und Klassen, verwischt Grenzen und hebt Tabus auf. In der stickigen Luft schwingen die Atome von Joints und ausgeschwitzten Pillen, der Beat pumpt die sexuellen Energien auf, die Koerperzellen lassen sich vom Groove der Basslinien reprogrammieren, neuronale
Feuerwerke prasseln nieder. Wenn der Zustand der Gnade vorueber ist, nehmen die Wahrnehmungen wieder ordentliche Reihenfolgen an. Durchfroren an der Haltestelle des Nachtbusses warten und hoffen, dass auch wirklich einer Faehrt. Fruchtlose Preisverhandlungen mit einem Schwarztaxifahrer. In einer dicken deutschen Limousine faehrt eine Gruppe hochgekokster Mitvierziger vor.



Nachtbus N35, 02:00


Der Bus kurvt durch die oednis der Vorstadt. An den groesseren Kreuzungen ist noch Leben auf den Strassen. Die Neons der geoeffneten Imbisse brennen in den von Zigarettenrauch ueberreizten Augen. Die Kotze am Sitz hinter mir (die ich leider uebersehen habe, denn sonst haette ich mich da nicht hingesetzt) bildet eine geistige Bruecke zu den Besoffenen, die sich vor den Theken der Drittweltfressbuden draengen. Das natuerliche Ende der spaetnaechtlichen Nahrungsaufnahme ist vorhersehbar. Zerfallende einstoeckige Gebaeude suchen mit »Zu Verkaufen«-Schildern vergeblich nach Investoren. Die Mechanismen des Immobilienmarktes reissen ebensoviele Loecher in der Stadtlandschaft auf, wie sie an anderer Stelle schliessen. Die Duesterkeit der Strassen ist Bedrohung und Schutz zugleich. Solange die Nacht anhaelt, koennen sich die Gedanken im Nachhall der Musik im Kopf wiegen und waehrend die aufputschenden koerpereigenen Amphetamine im Blutkreislauf langsam zur Ruhe kommen, erscheinen die Realitaeten und Dringlichkeiten des Tages noch wie von einem anderen Planeten.

Riesige hintergrundbeleuchtete Reklametafeln verweisen auf das Naeherruecken der City. Mindestens jedes zweite Billboard wirbt fuer eine Firma aus dem Telekommunikations- oder Computerbereich. Spaetdadaistische typographische Rafinesse, Fluorfarben und ueberlebensgrosse Supermodells sprechen eine einheitliche neue Weltsprache: Die von Computerspielen und Konsolen, Service-Providern, Satellitenfernsehstationen, Hardware- und Softwaregiganten. Die Zeichensysteme der Desktops und die Bediensymbole der Kommunikationsapparate
haben sich, zunaechst unmerklich, nun aber immer offensichtlicher, auf die materielle Realitaet der Stadt uebertragen. Der von innen beleuchtete Poller am Kreisverkehr wird zum Back-Button des Web-Browsers, die vorbeiziehenden Schilder mit Stadtteilnahmen addieren sich zu einer History-Liste bereits aufgesuchter Web-Sites und die Infotafeln der Bus- und U-bahnstationen funktionieren als die Hyperlinks der innerstaedtischen Navigation. Auch das Erscheinungsbild der Menschen zeigt sich immer besser in die Hyperaesthetik der digitalen und materiellen Navigationssysteme integriert. Parkajacken mit grossen aufgenaehten Leuchtstreifen, die frueher nur
Strassenarbeiter, Polizisten im Notrufeinsatz und Rettungsleute trugen, wurden seit einiger Zeit zum Standardequipment professioneller ueberlebender im Kreativsektor. Wer sich optisch in die Verkehrsstroeme integriert und dabei Zeichenform annimmt, wird auch selbst besser vorankommen.



London Bridge, 04:00


Waehrend sich der Bus langsam meiner Wohngegend naehert, verschmelzen die Eindruecke der letzten 24 Stunden zu einem beaengstigenden Wachtraum. Der Motorrad-Courier im Lederdress ist ein merkurischer Bote. Er geht durch einen ovalen Gang zwischen zwei U-Bahnplattformen, dessen Waende mit dunkelblauen und grauen Stahlplatten gepflastert sind, die von ueberdimensionalen Schrauben und Muttern an der Wand gehalten werden. Ueberwachungskameras bestreichen jeden Winkel dieser Gaenge, doch der Bote erscheint nicht am Monitor, weil sein gerippter Lederdress perfekte Tarnung bietet. Er traegt einen Aktenkoffer aus Aluminium in dem sich magneto-optische Disks befinden. Auf den Disketten sind Formeln, Statistiken und Messergebnisse gespeichert: Die Ursachen des Boersencrashs in Suedostasien, die Analysen der Schweissausbrueche von Maklern in London, Frankfurt und Paris, und die wahren Formeln zur uebersetzung von sexueller Wunschenergie in industrielle
Software. Der Bote tritt aus dem Eingang der U-Bahnstation. Die willentliche architektonische Brutalitaet der neu-renovierten Station findet nun aeusseren Widerhall in der aus Backsteinziegeln gebauten Eisenbahnbruecke aus dem 19. Jahrhundert. Die Vermischung und ueberlagerung der architektonischen Stile des 19. und des 21.Jahrhunderts verweist auf die nun langsam daemmernde Erkenntnis: Das 20. Jahrhundert ist bereits vorueber, bevor es offiziell beendet wurde. Wir leben nun in der Zukunft und in der Vergangenheit zugleich. Im magischen Dreieck aus Hardware, Software und Wetware wurden die historischen Anstrengungen und Erfolge des
20.Jahrhunderts ausgeloescht. Der Traum von sozialer Demokratie ist zerstaeubt in abstrakte und fetischisierte Informationsstroeme. Der Restkoerper der Menschen kopuliert mit den Maschinen der Wunschoekonomie, fest und unzertrennbar an sie angeschlossen. Waehrend die Jugend diese Erkenntnis laengst intuitiv vollzogen hat und mit Drogen, Rave, Piercing, Fetish-Sex und fliessendem Geschlechterwechsel die Aufloesung des Subjekts feiert, als wuerde Focault in der Grundschule gelehrt werden, baut die aeltere Mittelschicht Schutzzaeune um Schutzzaeune, um den Traum vom buergerlichen Leben als Individuum in der Wohlstandsgesellschaft noch eine Zeitlang leben zu koennen.

In meinem Traum geht der Bote ueber die London Bridge. Der Wasserstand der Themse ist wegen der Flut am Hoechststand. Mit einer weitausholenden Bewegung wirft er den Koffer in den Fluss. Die Wasseroberflaeche ist im Fruehmorgenlicht wie fluessiger Stahl. Langsam schwimmt der Koffer davon und mit ihm entschwindet, auf ploetzliche und unerklaerliche Weise, das 20. Jahrhundert.

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Verlag Heinz Heise, Hannover


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