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Schmidt schrieb am 20.3. 2011 um 22:44:09 Uhr über

Bibliothek

Es ist ein Brauch das zu Midsommer junge Mädchen über sieben Zäune klettern und sieben verschiedene Blumen pflücken. Die legen sie als Strauss gebunden unter ihr Kopfkissen und der Mann von dem sie dann träumen wird ihr Ehemann.


Der Flohmarkt hat ein Shampoo ergeben. Einige Parfümtester, wenig angebrochen, aber man weis nie wie alt sie sind und wie oft sie schon tagelang auf Flohmarkttischen in der Sonne gestanden haben kosten etwas weniger als die Hälfte des Ladenpreises. Eine ältere Frau.
Not for sale. Japanische Puppen. Ledergürtel und Schuhe beim Schwarzarbeiter. Shoe for you. Kriegsliteratur. Panzer. Flugzeuge. Erziehungsratgeber. Bücher mit blondgezopften Mädchen auf dem Cover. Alte Bücher. Eine Coladose im Abfall vom Imbiss. Ich höre ein Ehepaar. Was ist das denn für ein Typ. Er: ein Türke oder sowas. Sie: (flüstert fast), ..da weis man ja nie so genau. Zwei gebrauchte Waschmaschinen zu je hundertzwanzig. Eine Schallplatte mit einem ganzen Konzert von Barbra Streisand. Zerkratzt. Ich stehe länger, gehe, komme wieder. Will kaufen. Habe keinen Plattenspieler. Könnte irgendwann einen kaufen. Weis man ja nie wie die heute funktionieren. Trenne mich sehr schwer von der Platte. Gehe. Sowas finde ich bestimmt nochmal, mit weniger Kratzer. Ich liebe diese Frau. Irgendein Film. Sie kommt auf die Straße runtergerannt gegen Ende. Eine Dose steht auf dem Boden neben einem der am Geländer lehnt. Sie ist zu nah als das ich sie einfach wegnehmen könnte. Ich drehe eine Runde von zwanzig Minuten. Die Dose steht noch da. Der Mann ist weg. Mitnehmen.

Falsche Zähne, ein Rohrschneider für Rohre bis zehn Zentimeter Durchmesser, Zangen deren Schneide Macken haben, ein alter Dosenöffner, die Mechanik wackelt etwas, einer dreht ihn lange in den Händen, legt ihn wieder hin, nimmt ihn wieder auf, legt ihn dann wieder hin und geht, ich schaue, er hat ihn so unter den restlichen Küchenkleinkram gelegt das er nicht sichtbar ist. Er will wiederkommen.

Eine Frau zwei Pflanzen ein Türke. Was kostet. Zweifünfzig das Stück. Und wenn ich beide nehme. Fünf. Und letzter Preis. Vierfünfzig. Und allerletzter Preis. Sie: Vierfünfzig. Sie hat nichts begriffen. Vier wäre doch völlig in Ordnung gewesen.

Ich hätte die Sache so begonnen: Eine Pflanze zweifünfzig. Bekomme ich die für zwei wenn ich alle beide nehme. Sie, eventuell empört, Zwei für Zwei, das ist eine Frechheit, ich sofort, nein zwei pro Pflanze, wenn ich alle beide nehme.

Die Preise sind manchmal sehr variabel. Das merkt man wenn man sich mit einer Sache auskennt. Bei gebrauchten Chemiekästen. Die Frau, das soll noch sieben kosten, war ja mal sehr teuer. Ich kuck' rein, außer etwas Natron und Kupfersulfat keine Chemikalien mehr, eine angekokelte Reagenzglasholzklammer, der Spiritusbrenner ohne Docht, natürlich die befleckte Gebrauchsanleitung, ein paar billige Plastikdöschen mit Anhaftungen ehemaligen Inhalts, ein Stück Schlauch, zwei Reagenzgläser, ein an einer Seite gesprungenes kleines Stück Glasrohr, ein durchbohrter Korkstopfen, das wars. Ich entgegne, eigentlich ist das hier Sondermüll, Sie könnten froh sein wenn es jemand umsonst mitnimmt. Sie kuckt. Ich kenn mich da nicht so aus, wenn Sie wollen bekommen Sie es für einen Euro. Ich gehe ohne weiteren Kommentar.

Der Flohmarkt beginnt mich zu langweilen. Ich habe die Wahl, sechs Kilometer zurücklaufen oder weiter Richtung Biebrich. Ich laufe ein Stück Richtung Biebrich, denke an die seit langer Zeit nicht mehr inspizierten Kippenstellen, denke an den längeren Rückweg, drehe um, laufe wieder zurück, wende, sage, muß ja nicht bis Biebrich sein, kuck mir erstmal nur die Abfallkörbe im Real an. Ich schaue nicht immer sehr weit nach vorne beim Laufen in der Nähe von mülligen Bodenstreifen. So stehe ich plötzlich vor einem küssenden Paar das sich zwischen zwei Autos heftig umarmt. Ich mache einen Bogen. Irgendwie kommt mir in den Sinn zu sagen, soll ich's Ihren beiden Ehepartnern erzählen oder für mich behalten. Ich laufe sehr langsam sämliche Einkaufswagenstellplätze und Mülltonnen ab. Ein angebrochener Schokoladenosterhase, eine Tüte alter Weihnachtsplätzchen, vier Pfanddosen, es weht mir ein ganz eindeutiger Duft in die Nase. Nur kurz. Ich schaue mich um. Im Umkreis von mindestens hundert Metern keine Person. Das noch immer küssende Päärchen steht etwa hundertfünfzig Meter weit. Nur wenige geparkte Wagen. Keine Personen darin. Manchmal steht an Feiertagen ein alter PKW in irgendeinem hinteren Winkel der Einkaufsmärkte mit zwei drei Jugendlichen drin und es qualmt raus. Ich mache in diesem Fall ebenfalls einen Bogen und wende mich während des Verschwindens noch zwei drei Abfallbehältern zu. Die müssen nicht gleich die gleiche Panik bekommen wie ich sie hatte. Überall verkappte Ermittler. Der schreibt jetzt bestimmt unsere Autonummer auf. Ja, hätte ich können.
Ich finde zwei leere Pfandkisten. Die stehen mitten auf dem Parkplatz rum. Da die morgen weg sind schleppe ich sie in ein fünfhundert Meter entferntes Gebüsch. Dabei mache ich den weitesten Bogen um das jetzt seit mehr als dreissig Minuten noch immer umschlungene Päärchen. Ich verschwinde beim Verstecken der Kästen ganz aus dem Blickfeld für fünf Minuten. Ich laufe zurück. Das Päärchen ist weg.

Ich laufe Richtung Biebrich. Dort ist die nächste Abgabestelle. Unter dem Zaun des Bundeskriminalsamts eine Plastikflasche, falscher Alarm, schmeiss ich wieder hin. In einer Sackgasse nahe des Einkaufzentrums steht ein Wohnwagen. Einer hockt im Campingstuhl. Hundert Meter davon weg auf dem Boden, eine flache rote Schachtel mit großen transparenten Drehblättchen. Zwanzig Meter weiter, ein Kleintransporter, davor zwei dunkel- und schlechtangezogene Typen. Zwei Meter neben der fast vollen Schachtel Blättchen eine halbe Zigarette deren erste Hälfte Tabak nicht abgebrochen wurde sondern vorne herausgebröselt. Das erkennt man daran, das das vordere Papier noch vorhanden und zugedreht ist. So fällt kein weiterer Tabak heraus.


Ich lasse beides liegen, so große Joints drehe ich nicht, gehe an den beiden Typen vorbei Richtung Fitnessstudio. Dessen Eingangstür liegt auch zwanzig, dreissig Meter von den beiden Herumstehenden entfernt nur in der anderen Richtung, also vierzig, fünfzig Meter von den Blättchen und dem Tabak entfernt. Ich betrachte den Boden. Schon allein wegen möglicher Hundescheisse. In Höhe der Typen kucke ich ausführlich in eine Mülltonne. Das macht mich harmloser. Jedenfalls, dort vor dem Eingang zum Fitnessstudio liegt, ich traue meinen Augen kaum, eine Kippe, scheinbar mit Inhalt, deren Ende noch gute drei Zentimeter hat. Ein wahrhaftig seltener Fund. Die Typen sehen das ich mich bücke. Erstmal halte ich das Ding nur versteckt in der Hand, ich hüte mich davor meine Hand gleich in Richtung Nase zu führen. Es stehen nämlich oft Typen in der Nähe von Stellen wo ich bestimmte Kippen finde. Erst gehe ich um die Ecke. Noch eine Mülltonne. Ich tue auch manchmal so als ob ich gleich nach dem Aufheben etwas in eine Tonne werfe. Das ist nicht der Fall. Noch habe ich die Sache in der Hand. Eine Gruppe Jugendlicher, vier, fünf laufen galernd an mir vorbei. Auf den gerade vergangenen fünfzig Metern konnte man alles was man zum Kiffen braucht finden.

Nachdem die Schüler vorbei sind halte ich die Hand an die Nase. Ein starker gutbekannter Geruch. Einer von der Sorte die bis zwei Bussitze weiter hinten riechbar ist wenn Du nur eine einzige Kippe in Tempo gewickelt in der hinteren Hosentasche hast. Es ist Wind und sogar während des Laufens weht mir ab und zu kurz der Geruch in die Nase. Aus der hinteren Hosentasche. Ich laufe viele altbekannte Stellen ab. Nicht viel. Drei Kippen jeweils an einer Sitzbank aus Stein in einem Schulgelände. Fast ohne Inhaltsstoffe. Eine Kippe am Sozialwohnungsbau, aus einem der vielen Fenster des Hochhauses geworfen. Vor einigen Jahren lagen auf einem kleinen Rasenstück unterhalb des Hochhauses dort jeden Tag mehrere gut gefüllte Stummel. Wahrscheinlich hat es einen Umzug gegeben.
Die Wand wurde neu gestrichen, alle Büsche bis fast zum Boden gekürzt. Die Kinder können kein Verstecken mehr spielen. Mehrere Dosen. Eine Wasserflasche. Vier Halbliterbierflaschen im Schulgelände. Ich werde langsam müde. Bis zum Rhein, einmal durch die Stadt, dann fahre ich vielleicht mit dem Bus zurück. Zwei Stellen muß ich noch sehen. An der einen Stelle steht ein Mann mit Koffer und spricht in ein Handy. An der anderen Stelle ist nichts, gar nichts, alles sauber. Der Brunnen an dem ich mir die Unterarme kühlte hat noch kein Wasser. Ich will schon zurücklaufen, durch den Schlosspark zu einer der Bushaltestellen, durch die Nansenstraße und dann gleich rechts, da sehe ich am Ende der Gasse nahe dem Brunnen ein Stück eines kleinen grünen Wagens. Ich gehe näher um das Nummernschild zu lesen. Es ist tatsächlich ihr Wagen. Sie hat ihr Auto noch. Sicher sitzt sie am Rheinufer und isst ein Eis. Bei dem Wetter. Ich schaue mir das Innere des Wagens an um etwas Persönliches von ihr zu entdecken. Etwas das mir bestätigen würde, sie ist es tatsächlich. Nichts außer einer angebrochenen Wasserflasche. Kein einziger anderer Gegenstand, das Auto ist innen wie außen so sauber wie fast neu. Ich könnte warten. Ich warte nicht. Ich gehe. Kurz habe ich den Eindruck ich habe nun Übung im Gehen.

Der Bus kommt unpünktlich. Zu spät für den Anschluss in Schierstein der nur jede Stunde fährt. Also laufe ich langsam wieder nach Schierstein zurück. Sie fährt noch mit dem Auto aus bei schönem Wetter und isst Eis.
Nicht mal zu so viel hat meine Freundschaft gereicht, das ich an der Uferpromenenade entlanglief um ihr wie zufällig zu begegnen.
Dem Busfahrer führe ich meine ungestempelte Karte an der Nase vorbei, er nickt fast unmerklich.
Im Abfallkorb an der Ausstiegshaltestelle liegen vier kleine Stück Kuchen und zwei mit Wurst belegte Brötchen lose in einem Pappkarton. Ich nehme alles mit.

Heute abend gibt es Linsensuppe.

22:30 Sonntag, den 20. März 2011
















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