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Yadgar schrieb am 4.1. 2006 um 13:43:11 Uhr über

1991

1991 war das Jahr, in dem ich eine Unmenge Reisepläne machte und wieder verwarf... zwei davon versuchte ich in die Tat umzusetzen, scheiterte aber recht bald dabei.

Am Anfang des Jahres war mir klar: diesen Sommer nach Marokko, möglichst mit Interrail! Also flugs einen von diesen schicken spätalternativen »Reise Know-How«-Führern gekauft... ich kam leider nur bis zur Seite 20, als plötzlich der Golfkrieg ausbrach und man sich als Europäer besser erstmal nicht in arabischen Ländern herumtrieb.

Ein paar Wochen später fiel mir in einem Fahrradladen eine Broschüre von biss e. V., einem alternativen Berliner Reiseveranstalter in die Hände, der dort für seine organisierten Radtouren durch Zentralasien warb, Biken auf der Seidenstraße, von Duschanbe nach Samarkand... das war dann Reisetraum Nr. 2.

Ob es klappen würde, stand erstmal völlig in den Sternen, da ich kurz darauf meinen Job als Fahrradkurier los war und erst mal vor der Frage stand, wo denn das Geld herkommen sollte (1700 Mark sollte der Trip kosten).

Dann war da noch eine andere Idee, nämlich in den Semesterferien volle drei Monate lang auf den Spuren der Alternativbewegung durch Mitteleuropa kurbeln, von Köln erstmal nach Frankfurt, zur Sulzhof-Kommune nach Oberhessen, weiter nach Hamburg (Hafenstraße!), Kopenhagen (Christiania!), ein kleines Stück durch Südschweden, mit der Fähre von Trelleborg nach Rügen, Rostock (das war noch vor den Fascho-Krawallen in Lichtenhagen), natürlich Berlin (Kreuzberger Nächte sind lang...), Dresden, Natur pur im Riesengebirge, weiter nach Prag, über den Oberpfälzer Wald nach Wackersdorf, München, Zürich, Freiburg und dann den Rhein hinunter zurück nach Köln.

Da ich das alles nicht alleine machen wollte, schaltete ich eine Anzeige im Kölner »Marktplatz« (der damals noch nicht wie heute zu einer Proll-Postille verkommen war, die sich hauptsächlich mit Bordellwerbung finanziert), in der ich einen Reisepartner für besagte Tour suchte. Ende Februar meldete sich dann tatsächlich jemand in meinem Alter, ich besuchte ihn in St. Augustin bei Bonn und war mehr als angenehm überrascht: ein langmähniger Bilderbuch-Hippie mit riesiger Krautrockplattensammlung (und außerdem ein leibhaftiger Freiherr, letzteres war aber eher ein Kuriosum für mich).

Leider wurde es dann nichts mit ihm als Reisegefährten, da er wiederum ein paar Wochen später dringend 800 Mark bezahlen musste (keine Ahnung, wozu... beim Kiffen erwischt worden?)...

Zwischenzeitlich stellte ich mir noch andere Möglichkeiten für den Sommer vor, etwa eine Fahrradtour durch Noch-Jugoslawien nach Albanien oder eine Wanderung entlang des Pyrenäen-Hauptkammes (die Karte vom Mont Canigou hatte ich fast schon gekauft)...

Nach diversen Gelegenheitsjobs hatte ich dann endlich das Geld für die Zentralasien-Tour zusammen, traf mich mit jenem Freund in der Kölner Mensa, mit dem zusammen ich mich bei biss e. V. anmelden wollte... da eröffnete er mir, dass er
leider nicht mitkommen könnte, da er sich zu Hause in Augsburg um seine bettlägerige 91jährige Großmutter kümmern müsste...

Für mich brach die Welt zusammen, ich konnte mir gar nicht vorstellen, ohne mei liebs Schipfle nach Tadschikistan bzw. Usbekistan zu fahren, also liess ich es bleiben... und ein halbes Jahr später brach in Tadschikistan der Bürgerkrieg aus! Rückblickend erscheint mir diese Entscheidung als die größte Dummheit meines Lebens...

Also wieder neu umdisponieren... meine Mutter (!) machte mir den Vorschlag, doch ein »Tramper-Monatsticket« der Bundesbahn für 300 Mark zu kaufen und mich im gerade erst wiedervereinigten Deutschland umzusehen, das wäre dann auf eine verkleinerte Version der Mitteleuropa-Radtour per Bahn hinausgelaufen.

Diesen Vorschlag nahm ich an, am 15. August ging es los... wie gehabt zuerst nach Frankfurt, wo ich schnell Kontakt zu Autonomen im Bockenheimer »Exzess« bekam, einer davon ein wunderhübscher blonder Sumpfzigeuner (wenn auch mit strohtrockenen Pferdehaaren), leider stockhetero... als ich mich auf dem Weg zur Jugendherberge verspätete und nicht mehr hineingelassen wurde, durfte ich bei ihm, Thomas hieß er, übernachten... leider wurde ich auf dem Rückweg nach Bockenheim von zwei jungen Türkprolls (Mitglieder der stadtbekannten »Bomber Boys«-Gang, wie ich hinterher auf der Polizeiwache erfuhr) überfallen und ausgeraubt - hatte zwar vernünftigerweise nur Reiseschecks dabei, leider befand sich in der Brusttasche, die sie mir kurzerhand vom Hals rissen, auch mein Bahnticket.
Damit war für mich die Reise, kaum dass die begonnen hatte, schon wieder zu Ende (und in meiner sturen Alles-oder-nichts-Mentalität wäre ich natürlich nie auf die Idee gekommen, einfach ein neues Ticket zu kaufen und den Trip etwas kürzer zu gestalten, 800 Mark hätte ich immer noch zur Verfügung gehabt...).

Nun, erstmal zu Thomas in seine Gärtnerwohnung im Palmengarten... auch er besaß es eine riesige Krautrocksammlung, bei ihm hörte ich zum ersten Mal die lange LP-Fassung von Novalis' »Banished Bridge«, außerdem die Alternativ-Folkrocker »Fliegenpilz«, ich erinnere mich an ein Lied, das etwa so begann: »Eines Morgens verbrennt das letzte Benzin/Und wir tanzen um ein Feuer...«... dann war es Zeit, schlafen zu gehen, Thomas nahm noch einen tiefen Zug aus der Wasserpfeife...

Am anderen Morgen dann ziemlich ernüchtert zwecks Anzeige zur Polizeiwache, anschließend zu American Express, um den Diebstahl zu melden... und beim Warten auf der Wache hörte ich aus dem Radio die Nachricht vom Putsch gegen Gorbatschow, der die Auflösung der Sowjetunion einleitete.

Schließlich und endlich trudelte ich tief enttäusc ht bei Verwandten in der Limburger Gegend ein, die mich dann nach Hause fuhren... es hatte alles sichtlich nicht sein sollen.

Die Reiseschecks wurden mir anstandslos erstattet, und so wagte ich zwei Wochen später einen neuen Reiseversuch: per Bahn zu mei liebs Schipfle nach Augsburg, dort drei oder vier Tage bleiben, dann mit dem mitgenommenen Fahrrad weiter nach Stuttgart, wo ich meinen CSD-Bekannten Ralf (mit dem ich mich zwei Monate zuvor in Worringen im Schlamm vergnügt hatte) treffen wollte... er hatte mir seinerzeit von einer ähnlichen Sumpfstelle in seiner Gegend erzählt, da war ich natürlich Feuer und Flamme!

Bei Schipf war es wirklich nett, er führte mich durch die Bibliothek seines Vaters, eines Professors für mittelalterliche Geschichte... allerdings, die Geschichte mit -36°C und trotzdem ohne lange Unterhosen zur Schule geradelt, das glaube ich ihm bis auf den heutigen Tag nicht!

Die Abfahrt Richtung Stuttgart verlief bis Heidenheim problemlos, leider fand ich in der dortigen Jugendherberge kaum Schlaf (wahrscheinlich lag es an der ungewohnten Anstrengung), folglich machte ich am anderen Morgen nach gerade mal 20 Kilometern schon wieder schlapp und stieg in Böhmenkirch in einen Bus um, der mich über die Schwäbische Alb brachte, dann fuhr ich ein Stück, bis ich in Böblingen endgültig die Nase voll hatte und die restlichen 40 km mit dem Zug nach Stuttgart fuhr.

Ich traf Ralf wie vereinbart in der Innenstadt, leider war sein afghanischer Briefträger-Kollege verhindert, so zogen wir alleine durch die Szene, bis wir nach diversen Lederbars und Discos auf die Idee kamen, in einem Park auf einer Bank zu übernachten... was allerdings an der Kälte scheiterte, so dass Ralf wider Willen dann doch mit mir zum Haus seiner Eltern nach Vaihingen (die von alledem nichts wissen durften) fuhren, wo er eine kleine Kellerbude bewohnte.

Am nächsten Tag nahm er mich zu einem Bärentreffen nach Herrenberg im Schwarzwald mit, aber irgendwie war mir klar geworden, dass er in seiner schwäbisch-bedächtigen Art nicht so recht zu mir passte, da funkte es einfach nicht, wir blieben eine Nacht, ich fuhr zurück in die Stuttgarter JH , um mich erstmal gründlich auszuschlafen...

Nachdem ich halbwegs wiederhergestellt war, wollte ich mit dem Fahrrad zu einer Rundreise durch die Schweizer Alpen aufbrechen, Wallis, Hinterrheintal, Engadin und über die Lechtaler Alpen zurück nach Augsburg... aber ich kam erst gar nicht aus Stuttgart heraus, die 18-Gang-Kettenschaltung meines Möchtegern-Mountainbikes streikte mit einem Mal total... und natürlich dachte ich nicht im Traum daran, die nächste Fahrradwerkstatt anzufahren, sondern hatte von den ganzen missglückten Reiseversuchen endgültig die Schnauze voll und setzte mich in den nächsten Zug nach Köln. Die übrig gebliebenen 600 Mark verflipperte ich in den folgenden Wochen im »Souterrain«...



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