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zeit schrieb am 26.10. 2001 um 20:44:46 Uhr über

Zeit




D E U T S C H L A N D R A D I O B E R L I N

Tacheles - Das Streitgespräch am Freitagabend

Ein Gespräch mit Angela Merkle

Auszüge aus dem Interview:

FRAGE:
Beim Bundesparteitag in Dresden soll unter anderem Ihr Konzept derNeuen Sozialen
Marktwirtschaftbeschlossen werden. Selbst die Kurzfassung ist 32 Seiten lang, enthält
221 Maßnahmen - ich habe nachgezählt - aus fünf Politikfeldern. Das ganze liest sich ein
bisschen wie ein gut sortiertes Sammelsurium von verschiedenen Reformvorschlägen,
die auf dem Markt sind. Warum haben Sie eigentlich gleich so einen
bedeutungsschwangeren Titel wieNeue Soziale Marktwirtschaftfür das was es ist, eine
Art Wahlprogramm, gewählt, denn mit so einem Titel geht man ja dochsozusagen
an die Grundfeste unserer Gesellschaft.

MERKEL:
Ich habe diesen Titel deshalb gewählt, weil ich der Meinung bin, dass man im 21.
Jahrhundert über die Frage, was bedeutet soziale Marktwirtschaft heute, erneut
nachdenken muss, denn unsere Wirtschaftsordnungoder auch gesellschaftliche
Ordnung - schafft nicht das, was die soziale Marktwirtschaft in ihren
Gründungszeiten geschafft hat, nämlich allen Menschen einen Arbeitsplatz zur
Verfügung zu stellen. Das war in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik
normal. Sie schafft nicht - was damals in den Jahren des Anfangs in der
Bundesrepublik Deutschland auch normal war - nämlich keine Neuverschuldung auf
der Bundesebene zu haben. Auch die Frage nachWohlstand für alleist so nicht
mehr zu beantworten, sondern in der Gesellschaft von heute geht es um
‚Teilhabemöglichkeiten für alle’. Es ist eine Gesellschaft, die sehr viel stärker vom
Wissen abhängt, eine Gesellschaft, die altert, und trotzdem wird unser Wohlstand
davon abhängen, ob wir genügend Erneuerungskräfte haben in dieser Gesellschaft.
Daher lohnt sich, aus meiner Sicht, ein grundsätzliches Nachdenken, wie in der Zeit
der Globalisierungin der auch nationalstaatliches wirtschaftliches Handeln
überhaupt nicht mehr dominiert - die Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft
erhalten werden können, nämlich: auf der Ordnung von Freiheit und Wettbewerb
etwas zu erwirtschaften, was dann auch wieder über soziale Verteilung möglich
macht, dass alle Menschen ein vernünftigen Leben führen.

Gerade das haben natürlich Tony Blair und Gerhard Schröder in ihrem berühmten
Dritten Wegauch so benannt, teilweise sogar mit denselben Worten!

Tony Blair und Gerhard Schröder haben mit demDritten Wegletztlich viele
Grundgedanken adaptiert, die die Christdemokraten und die CDU insbesondere mit
der Sozialen Marktwirtschaft gegangen sind. Sie hatten nicht das Urheberrecht an
der Sozialen Marktwirtschaft und haben die Anpassung an die Realität dann mit
diesem Dritten Weg benannt. Ich glaube, wir brauchen keinen Dritten Weg. Die
eigentliche Frage ist heute für mich, wie kann ich es schaffen, die Starken im
eigenen Land zu behalten, hier eine Wirtschaftsordnung mit den Starken zu
organisieren, die letztlich Teilhabe für alle in der Gesellschaft ermöglicht - unter völlig
veränderten Bedingungen der Wertschöpfung. Diese Frage wird dann in vielen
kleinen Teilen sicherlich beantwortet, aber ich finde schon, dass es da um eine sehr
grundsätzliche Frage geht: Wie soll die Gesellschaft in einer globalen Welt
aussehen, in der wir leben wollen? Was sind die Wertegrundlagen dieser
Gesellschaft? Können wir unser Wirtschaftsmodell, unser Gesellschaftsmodell
erhalten, oder ist Globalisierung die Gleichmacherei aller Länder und nur der
Wettlauf um den niedrigsten Steuersatz? Und das soll es nicht sein!

Ist da noch ein Unterschied erkennbar zu einer ‚vernünftigen’ sozialdemokratischen –
also zu einer reformierten sozialdemokratischen - Politik heute?

Ich glaube, dass das gesamte Denken bei der Christlich Demokratischen Union aus
einem anderen Menschenverständnis erwächst - und zwar aus einem individuellen,
das die unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen nicht versucht
zu nivellieren, sondern herauszubilden und diese Unterschiedlichkeit auch zu
pflegen. Daraus kommt ein anderer Stellenwert der Familie - in der Wertebildung
erfolgt - der kleinen Einheiten - also der Kommunen, der Lebensgemeinschaften, der
ehrenamtlichen Tätigkeit, der Vereine - und ein anderes Verhältnis zur Tradition. Und
daraus baut sich dann entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip schrittweise ein
Gesellschaftsmodell auf. Und Sie können an vielen kleinen Vorschlägen, wie zum
Beispiel die Sozialdemokraten private Rentenvorsorge organisieren und wie wir es
machen würden, immer wieder erkennen, dass das sozialdemokratische Denken - so
begegnet es mir jedenfallsimmer stärker auf Gruppen ausgerichtet ist, auf
Umverteilung ausgerichtet ist und weniger stolz ist auf die ureigensten Fähigkeiten
und Unterschiedlichkeiten jedes einzelnen Menschen.

Frau Merkel, die Anschläge vom 11. September, die jetzt die Diskussion und unser aller
Nachdenken stark prägen, sind vom Bundeskanzler als Anschlag auf unsere Zivilisation
bezeichnet wordeneine Charakterisierung, glaube ich, die den meisten einleuchtet und
der die meisten zustimmen werden. Sie sind in einem Land groß geworden, in dem die
individuelle Freiheit vom Staat stark beschnitten war. Haben Sie das Gefühl, dass Sie,
aus Ihrer Erfahrung heraus, das, was da jetzt passiert ist und unsere Reaktion darauf,
die Notwendigkeit die Freiheit zu verteidigen, noch in einer etwas anderen Weise
wahrnehmen, als Sie das bei den meisten gelernten Altbundesbürgern feststellen?

Ich habe manchmal den Eindruck gehabt, dass Freiheit etwas sehr
Selbstverständliches ist in der alten Bundesrepublik. Und wenn man mit etwas
aufwächst, was man immer hat, kann man es ja auch nicht so schätzen. Und
insofern finde ich, das Heilsame an diesem schrecklichen 11. September ist, dass wir
uns miteinander wieder überlegen müssen, dass das Selbstverständliche gar nicht
so selbstverständlich ist und auch der Verteidigung bedarf! Und das führt zu einem
Nachdenken über die Grundlagen unserer Gesellschaft - was ich gut finde! – und
auch über die Grundlagen menschlichen Lebens, über die Grundlagen dessen, was
wir als unsere Zivilisation beschreiben. Auch da gibt es ja zum Teil ein hohes Maß an
Selbstverständlichkeit, Beliebigkeit und Unwissen. Wer zum Beispiel einen Dialog der
Religionen haben möchte und führen möchte, muss ja über seine eigene erst einmal
bescheid wissen! Die Sprachlosigkeit auf dem Gebiet und bei der Frage, was sind
eigentlich unsere Traditionen, was macht die aus, was sind das für Einflüsse - die
kennzeichnet dann auch den Eindruck, den vielleicht manch einer außerhalb Europas
oder der westlichen Welt hat, dass wir sehr beliebig geworden sind, dass wir sehr
oberflächlich geworden sind! Und das Nachdenken darüber findet jetzt statt. Aus
der Situation der Unfreiheit in der früheren DDR haben wir sehr viel mehr über die
Formen der Freiheit, über das Wünschbare der Freiheit nachgedacht. Wenn man
dann in ihr lebt, wird es eben so selbstverständlich, dass man weniger darüber
nachdenkt. Das ist vielleicht der Unterschied. Und deshalb würde ich für mich immer
sagen, mir ist die Freiheit soviel wert, dass ich sie auch in einer wehrhaften
Demokratie gerne verteidige!

Haben Sie das Gefühl, dass just diese Freiheit in einem Maße eingeschränkt wird, durch
die Ereignisse und die Reaktionen darauf, die bedenklich stimmen? Sie haben in einer
Rede im September nach den Anschlägen vor der Frankfurter Börse gesagt: ’Der
Terrorismus hätte dann gesiegt, wenn wir uns unsere Agenda und unsere Lebensweise
von ihnen diktieren lassen’. Sehen Sie Spuren davon sich jetzt gerade in die politische
Landschaft einnisten?

Wir müssen sicherlich jede Maßnahme bedenken und abklopfen, was der Sicherheit
dient und was die Freiheit beschneidet. Ich sehe bis jetzt keine
freiheitsbedrohlichen Unterfangen. Sicherlich ist eine Phase, in der man sich auch
gegen Angreifer schützen muss, eine Phase, in der man auch Beschränkungen auf
sich nehmen muss! Das gehört dazu! Und die Idee, die offene Gesellschaft hätte
keine Feinde und es würde mit dem Kalten Krieg das Gegeneinander auf der Welt
aufhören - diese Idee hat sich eben als eine Illusion entpuppt! Bei der Frage, wie
weit wird nun von jedem, jedes Profil aufgenommen und dann eben auch in
fälschlicher Weise vielleicht verwendet - da muss man sicherlich noch mal
nachdenken. Deshalb bin ich zum Beispiel auch bei den Vorschlägen des
Bundesfinanzministers der Meinung, wenn es jetzt um steuer- und
überweisungstechnische Dinge geht, und alle Kontobewegungen, dass man die
Daten möglichst weit entfernt von denen, die sie dann vielleicht auch für andere
Zwecke benutzen könnten, speichert und sammelt.
Auf der anderen Seite sage ich Ihnen: Die Meinung, man könnte mit einer Unsumme
an Daten nun unentwegt alle Menschen überprüfen, die ist auch bar jeder Realität,
weil sie gar nicht so viel Kraft und Zeit und Aufmerksamkeit haben werden, um alle
Menschen zu überprüfen! Also die unendliche Menge von Daten ist dann für Täter
auch wieder genauso ungefährlich wie gar keine Daten zu haben. Dazwischen gibt
es kritische Mengen, wo man bestimmte Gruppe überprüfen kann, und da muss man
abwägen.

Was kann in so einem Rahmen in zu schaffendes ‚Bundesamt für Sicherheit’, wie sie es
vorgeschlagen habe, leisten? Dieser Vorschlag ist ja auch vom brandenburgischen
Innenminister Schönbohm, seines Zeichens CDU-Mitglied, zurückgewiesen worden -
genau mit dem Vorbehalt, dass da eine unendliche Menge von Daten gesammelt wird,
die zum einen nicht ausgewertet werden können, zum anderen aber die
Missbrauchsgefahr entsprechend groß ist.


Also wir haben ja nun hinreichend viele Ämter in der Bundesrepublik Deutschland,
die sowieso viele Daten sammeln. Durch das Bundesamt für Sicherheit wird kein
einziges Faktum mehr erhoben. Die Frage ist nur, wie koordiniere ich all diese Daten
und Fakten? Gibt es einheitliche Kriterien, nach denen sie erhoben und wieder
verworfen werden? Und wie kooperiere ich als Bundesrepublik Deutschland mit
anderen Ländern, die sich auch mit Terrorbekämpfung beschäftigen? Und
erwiesenermaßen haben Landesminister die Tendenz, das, was sie im föderalen
Gebilde nun selbst verwalten, für sich zu behalten, und deshalb ist die Abneigung
gegen bestimmte neue Bundesstrukturen sowieso schon gegeben. Mir geht es
lediglich darum, dass nach einheitlichen Kriterien in Deutschland Daten erfasst und
gesammelt werden. Die können auch gut auf den Datenbanken der einzelnen
Behörden liegen bleiben. Wichtig wäre, dass man weiß, was man zur Verfügung hat,
dass man das vernünftig vernetzen kann, dass das an einer Stelle angebunden ist
und dem internationalen Austausch - wann notwendig - auch zur Verfügung steht.

Angela Merkel: Angela Dorothea Merkel wurde als Tochter eines Pfarrers und einer
Lehrerin am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren. Wenige Wochen nach ihrer Geburt
übernahm ihr Vater, der sich der brandenburgischen Kirche verpflichtet fühlte, eine
Pfarrei in Quitzow (bis 1957). M. wuchs mit ihren beiden jüngeren Geschwistern in
Templin/Brandenburg auf. Nach dem Abitur (1973) in Templin studierte M. an der
Universität Leipzig Physik und machte 1978 das Diplomexamen. 1986 promovierte
sie. Berufstätig wurde M. 1978 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut
für Physikalische Chemie an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften. Sie
arbeitete dort bis 1990 vornehmlich auf dem Gebiet der Quantenchemie. Politisch
engagierte sich M. Ende 1989 beim Demokratischen Aufbruch (DA), der wie viele
andere Gruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche entstand. Nach der
Volkskammerwahl am 18. März 1990 und der Bildung der letzten
DDR-Koalitionsregierung unter Führung von Lothar de Maizière (4/1990) übernahm
M. die Funktion der Stellvertreterin des Regierungssprechers. Im Aug. 1990
wechselte M. zur CDU (Ost) über. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl
am 2. Dez. 1990 setzt sich M. mit 48,5 % der Erststimmen überraschend deutlich
gegen zwei Bewerber aus dem Westen durch. Bei der Bildung des 4.
Koalitionskabinetts von Bundeskanzler Helmut Kohl im Jan. 1991 wurde das
bisherige Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in drei Ressorts aufgeteilt
und M. zur Bundesministerin für Frauen und Jugend ernannt. Auf dem CDU-Parteitag
in Dresden im Dez. 91 wird M. zur ersten stellv. Parteivorsitzenden der Bundes-CDU
gewählt. Nach dem Rücktritt von Günther Krause wurde sie im Juni 1993 mit 135 von
159 abgegebenen Stimmen zur Landesvorsitzenden der CDU
Mecklenburg-Vorpommern gewählt (zuletzt bestätigt 11/1999). Nach der
Bundestagswahl vom 16. Okt. 1994, bei der die CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition
unter Helmut Kohl knapp im Amt bestätigt wurde, übernahm M. am 17. Nov. von
Klaus Töpfer, der seinerseits Bauminister wurde, das Ministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die bürgerlich-liberale Regierung unter Kanzler
Kohl wurde bei der Bundestagswahl vom 27. Sept. 1998 abgewählt. Die auf Platz 1
der CDU-Landesliste von Mecklenburg-Vorpommern gesetzte und wiederum in den
Bundestag gewählte M. brachte man beim personellen Neuanfang an der
CDU-Spitze nach Kohls Rücktritt vom Parteivorsitz für verschiedene Posten ins
Gespräch. Der mit großer Mehrheit bestätigte Unions-Fraktionschef und designierte
CDU-Parteichef Wolfgang Schäuble schlug M. am 22. Okt. 1998 als Nachfolgerin des
glücklosen Peter Hintze für das Amt der CDU-Generalsekretärin vor. Auf dem
CDU-Parteitag am 7. Nov. 1998 wurde sie gewählt. Als die CDU-Spendenaffäre um
schwarze Konten und illegale Geldtransfers ab Nov 1999 wochenlang mit immer
neuen Enthüllungen die Schlagzeilen dominierte und das politische Tagesgeschäft in
den Hintergrund geriet, drängte M. von Anfang an auf eine schonungslose
Aufklärung der Spendenaffäre und des Finanzgebarens des Altbundeskanzlers. Am
18. Jan. 2000 stellten sich das CDU-Präsidium und der Vorstand nach einer
dramatischen Sitzung ausdrücklich hinter den Parteivorsitzenden Schäuble und
distanzierten sich klar vom CDU-Ehrenvorsitzenden Kohl. Am 16. Febr. 2000 erklärte
der durch die Annahme einer 100.000-Mark-Spende vom Waffenhändler Schreiber
schwer bedrängte Schäuble seinen Rücktritt vom CDU/CSU-Fraktionsvorsitz und
kündigte an, auch für eine neue Amtszeit als CDU-Bundesvorsitzender nicht mehr
zur Verfügung zu stehen. Umgehend galt M. als Top-Favoritin für die
Schäuble-Nachfolge im Bundesvorsitz der Union. Die Weichen für einen Neuanfang
der CDU wurden inhaltlich und personell auf dem dreitägigen Parteitag in Essen
(9.-11.4.2000) gestellt. Die ohne Gegenkandidat angetretene designierte neue
CDU-Vorsitzende M. erhielt bei ihrer Wahl (10.4.2000) 95,94 Stimmen und übernahm
damit als erste Frau den Vorsitz der CDU.



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