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wuming schrieb am 24.7. 2010 um 13:47:10 Uhr über

Müll

Schriftsteller Nick Flynn
»Wenn Menschen nur noch Müll sind«
Nick Flynn hat seinen verschollen geglaubten Vater durch Zufall in einem Obdachlosenasyl in Boston wiedergefunden. Im FR-Interview spricht der US-Schriftsteller über einen persönlichen Schock, die Verrohung seiner Landsleute und die schmutzigen Praktiken der CIA.
Nick Flynn (Bild: geordie wood)



Mr. Flynn, für Ihr neues Buch haben Sie Gedichte über Folter geschrieben. Darf man das Grauen in Lyrik fassen?
Ich wollte verarbeiten, was mir die Folteropfer über ihre Zeit in Abu Ghraib erzählt hatten. Aber auch das, was ich über ihre Peiniger gelesen hatte. Was in den Soldaten vorgegangen sein mag, als man sie zu foltern anwies. Mit Lyrik fiel es mir leichter, mich in beide Seiten hineinzuversetzen, mit ihren Stimmen zu sprechen.

Im Gefängnis Abu Ghraib bei Bagdad haben US-Soldaten irakische Gefangene gefoltert, gedemütigt und dabei fotografiert. Es gibt sogar Mordvorwürfe. Sie wurden von Menschenrechtlern eingeladen, einige Opfer zu interviewen. Warum wollte man gerade Sie dabei haben, einen US-Schriftsteller?

Die Anhörungen hat eine Anwältin in der Türkei organisiert, um Klagen gegen US-Firmen wie Blackwater vorzubereiten, die von den Folterungen profitierten. Die Klagen sind jetzt eingereicht. Als ich damals davon hörte, nahm ich sofort Kontakt zu ihr auf. Ich hatte mich viel mit dem Thema beschäftigt, weil ich nicht fassen konnte, wie die Debatte über Guantánamo und Abu Ghraib hier verlief. Die Anwältin mochte die Idee, Künstler dabei zu haben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Sie lud auch Fotografen ein, Maler, Filmemacher.

Wie verlief denn die Debatte?

Mein Land schien das Ausmaß dessen nicht zu begreifen, worüber wir in dieser Diskussion entschieden. Nämlich, wie viel uns unsere eigenen Werte noch wert sind. Spätestens, als 2004 die Vorgänge in Abu Ghraib bekannt wurden, hätte ich einen Aufschrei in der US-Öffentlichkeit erwartet. Stattdessen wurde Folter immer öfter gerechtfertigt: »Keiner tut das gern, aber uns bleibt nichts übrig, diese Moslems sind irreIch fragte mich, wie es zu diesem Gesinnungswandel kommen konnteund grub mich ins Thema ein, habe recherchiert und sprach mit Fachleuten.



Zur Person
Nick Flynn, Jahrgang 1960, wurde 2004 international bekannt mit seinem autobiografischen Roman »Bullshit Nights«, in dem er die erste Begegnung mit seinem verschollenen Vater beschreibt, den er als Mitarbeiter eines Bostoner Obdachlosen-Asyls auf der Straße auflas.

Das Buch, unter anderem vom PEN-Club ausgezeichnet, erschien in 13 Sprachen und wird derzeit von Regisseur Paul Weitz mit Robert de Niro und Casey Affleck in den Hauptrollen verfilmt.

Flynn wuchs in einer Kleinstadt an der US-Ostküste auf. Seine Mutter nahm sich das Leben, als er 22 Jahre alt war. Flynn studierte Kreatives Schreiben in New York, wo er mit seiner Frau, der Schauspielerin Lily Taylor (»Six Feet Under«) und der gemeinsamen Tochter lebt. So trafen Sie schließlich die Menschen, die auf den berüchtigten Folter-Fotos aus Abu Ghraib zu sehen sind: Männer, die mit schwarzer Kapuze über dem Kopf und Drähten an Händen und Penis auf einer Kiste stehen mussten und mit Elektroschocks gefoltert wurden. Sie trafen Amir, der nackt an einer Hundeleine durch die Flure gezogen wurde. Die Opfer wissen, dass jeder in der Welt diese Fotos kennt. Wie schwer fiel es ihnen, über Abu Ghraib zu sprechen?

Wer zu den Gesprächen kam, hatte sich persönlich so entschieden. Keiner zwang sie, sie wollten die Sache selbst öffentlich machen. Aber jeder von ihnen geht anders mit dem Trauma um. Amir zum Beispiel wirkte sehr »westlich«. Er hatte kein bisschen von dem, wie man sich Islamisten vorstellt. Er scherzte viel, plauderte, lachte, war verspielt. Nur wenn er davon erzählte, was sie mit ihm gemacht hatten, sah ich seine Hände unheimlich zittern. Vier Jahre in Abu Ghraib hatten auch bei ihm schwere Schäden angerichtet.

Und doch wirkte er gefasster?

Ja. Wir sprachen auch mit einem Soldaten aus der Armee von Saddam Hussein, der auch in Abu Ghraib eingesessen hatte. Obwohl er selbst üble Kriegsverbrechen verübt hatte, wirkte er viel traumatisierter von Abu Ghraib als Amir. Sein Wille war total gebrochen. Seine Fähigkeit, über die Folter zu reden, war von Grund auf erschüttert.

Wie erklären Sie sich das?

Ich schätze, der Soldat hatte in Abu Ghraib die ganze Zeit das Gefühl, was ihm angetan wurde, sei irgendwie gerechtfertigt. Amir dagegen war vor seiner Festnahme ein simpler Geschäftsmann und wartete auf eine Lieferung Klimaanlagen aus Iran. Jemand, mit dem er Streit gehabt hatte, hatte ihn denunziert. So kam er auf eine Listewarum genau, wissen wir bis heute nicht. Eines Tages holte ihn die CIA ab.

... und steckte ihn in ein Gefängnis, wo die Insassen geprügelt, vergewaltigt und gequält wurden, um »Geständnisse« zu erzwingen. Wie überstand er das?

Er wusste die ganze Zeit, dass er nichts falsch gemacht hatte. Für Amir blieben immer die Amerikaner die Wahnsinnigen. Der Ex-Soldat wurde tatsächlich gebrochen. Amir sagte uns: »Ich erkenne mich auf diesen Fotos selbst nicht wieder

Wie geht es Amir heute?

Er führt, wie alle Ex-Gefangenen aus Abu Ghraib und Guantánamo, ein Nomadenleben. Sie müssen immer in Bewegung bleiben. Sobald du einmal im Gefängnis warst, landest du in einer Datenbankund bei der nächsten Gelegenheit liefern sie dich wieder ein. Und wenn du einmal im Knast bist, dauert es auch bei Unschuldigen Monate, wieder rauszukommen. Also mussten alle Ex-Insassen früher oder später nach Jordanien oder Syrien auswandern. Echt ein Jammer. Amir war ein so gewinnender Typich hätte ihn am liebsten zu meiner Lese-Reise durch die USA eingeladen. Damit die Amerikaner die Vorstellung überwinden, »diese Iraker« seien alle wütende Fundamentalisten.

u Ghraib (Bild: rtr)



Haben Sie die Folteropfer gefragt, ob sie etwas verbrochen hatten?

Natürlich. Wir konnten freilich nur schwer einschätzen, wie es zur jeweiligen Verhaftung kam. Fakt ist aber, dass es laut Rotem Kreuz fast keine Anklagen gegen die Gefangenen in Guantánamo und Abu Ghraib gab. Viele Amerikaner sagten: Wenn man sie festgenommen hat, haben sie auch etwas getan. Aber das stimmt nicht. Mindestens 70 Prozent haben kein anderes Verbrechen begangen als das, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Es gab nie das vorgeschobene Szenario der »tickenden Zeitbombe«, wenn die USA in Kuba und im Irak folterten.

Deutschland hat jetzt zugesagt, zwei Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. Auch dort wurde gefoltert, auch gegen die beiden Häftlinge wurde nie Anklage erhoben. Aber vielen Deutschen wäre es lieber, sie gingen zurück in ihre Heimat oder in die USA, die sie ja gefangen hielten.

Selbst wenn die USA sie aufnähmen: Ich kann verstehen, dass die Folteropfer nicht ins Land ihrer Peiniger wollen. Sie kennen Amerika nicht. Die Sprache, die da gesprochen wird, ist die, in der sie jahrelang angebrüllt und gedemütigt wurden. Das Schlimme ist, dass sie auch nicht zurück in ihre Heimat können. Dort leben sie in ständiger Angst vor dem Zirkel aus Vergeltung und Rache zwischen den Volksgruppen, zwischen früheren Staatstreuen und Oppositionellen. Überall kursieren Gerüchte über Terroristen; im Irak befragen die Behörden jeden auf gut Glück, ob er jemanden kennt, der sich unter Saddam schuldig machte. Da ist jemand, der mal in einem US-Knast war, schnell verdächtig.

Verfolgen Ihre Landsleute, wie Europa sich bei der Aufnahme der Guantánamo-Opfer verhält?

Kaum. Hier teilt der Streit über »Gitmo« – so nennen viele das Lager nach seinem Kürzel GTMO – das Land in zwei Lager: Viele sind enttäuscht, dass Präsident Obama sein Wahlversprechen gebrochen hat, er werde Gitmo binnen eines Jahres auflösen. Noch mehr Amerikaner haben Angst vor den angeblichen Gefahrenoder wollen anderen Angst davor machen.

Sie sind unter den Enttäuschten?

Ja, denn Gitmo ist ein Symbol für ein größeres Problem: Obama hat beim Thema Folter de facto die Politik der Bush-Regierung unterstützt. Es ist wahrscheinlich, dass die Methoden von Guantánamo jetzt einfach woanders angewendet werden. Nur kennen wir die Orte noch nicht.

Mr. Flynn, Ihren Durchbruch feierten Sie mit »Bullshit Nights«. Das Buch erzählt davon, wie Sie im Obdachlosenheim Ihrer Heimatstadt Boston plötzlich ihrem verschollen geglaubten Vater gegenüber standen. Wie hat Sie das Zusammensein mit Obdachlosen verändert?

Diese Zeit prägt mich bis heute. Ich erlebte diese Parallelwelt, die Amerika verbissen verdrängt. Das kam alles näher an mich heran, als ich wollte. Als Vorstand mussten wir zum Beispiel Hausverbote aussprechen, wenn jemand aggressiv war oder im Heim klaute. Im Winter konnte das ein Todesurteil sein. Ich lebe jetzt in New York, wo ich mich echt wohl fühle. Aber der Gedanke, dass du nur zur Seite gefegt wirst, wenn du auf der Straße zusammenbrichst, bedrückt mich.

Aber ist das nicht typisch für alle Millionen-Metropolen?



Neues Buch
In seinem neuen Buch »Das Ticken ist die Bombe« (Arche Literatur Verlag 2010) mischt Flynn Gedichte und Gedankenfetzen, die sich um die Folterfotos von Abu Ghraib drehen, aber auch um seine Versagens-Ängste als werdender Vater und Erinnerungen an seine alkoholvernebelte Jugend. Aber in unseren Städten war es nicht immer so. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Umgang mit Obdachlosen vor 30, 40 Jahren ganz anders war. Als ich Kind war, stieg niemand ungerührt über Obdachlose hinweg, die auf dem Bordstein lagen. Aber als ich 1984 begann, mit Obdachlosen zu arbeiten, war das etwa die Zeit, als Obdachlosigkeit zum Massenphänomen wurde. Wegen Ronald Reagans Wirtschaftspolitik mit starker Umverteilung von unten nach oben, mit Kürzungen von Sozialhilfe und Deregulierung der Wirtschaft. Die Wirtschaft kam in Schwung, aber gleichzeitig waren da über Nacht Massen von Obdachlosen auf den Straßen. Das hätten wir als Nation noch zehn Jahre vorher nicht akzeptiert. Damals setzte die Wende ein: Wir akzeptierten das Inakzeptable.

Im Buch ziehen Sie deshalb eine Parallele zwischen der Behandlung von Obdachlosen in den USA und der Folter in Guantánamo und Abu Ghraib.

In den 80ern stieg ich plötzlich jeden Morgen auf dem Heimweg über Körper hinweg, und manchmal sah ich, wie Kinder über dieselben Körper stiegen. Ich hörte sie ihre Mütter fragen, »Warum schläft der Mann auf dem GehwegZwanzig Jahre später waren einige dieser Kinder unter den Freiwilligen, die in den Irak gingen. Vielleicht ist es nicht so schwer, Leute, die mit der Vorstellung aufgewachsen sind, dass gewisse Menschen bloß Müll sind, dazu zu bringen, jemand anderen zu misshandeln.

Durch Ihre originelle persönliche Geschichte wurde Ihr Debüt »Bullshit Nights« ein Weltbestseller und wird nun von Hollywood verfilmt. Der Oscargewinner Robert de Niro wird Ihren Vater spielen, Sie werden vom Oscar-Nominierten Casey Affleck gespielt. Ist Ihr Vater stolz?

Er registriert es, wenn ich ihm davon erzähle, aber seine Erinnerungen sind so löchrig, dass er es wohl wieder vergisst. Er ist jetzt in einem Hospiz, sein Leben neigt sich dem Ende zu. Mental übernimmt die Demenz, er hat viele Gebrechen. Dass de Niro ihn spielt, ist für ihn okay, aber er denkt, er hätte sich am besten einfach selbst gespielt.

Als Sie mit Regisseur Paul Weitz für die Verfilmung als Obdachlose verkleidet in Bostons Szene recherchierten, wurden Sie fast von einer Bande Jugendlicher verprügelt.

Wir hatten Lumpen an und sprachen mit Obdachlosen, als uns diese Clique anbrüllte: »Killt die obdachlosen Schwuchteln!«, und Paul rief, »Nein! Ich bin nicht obdachlos, ich bin der Regisseur von «American Pie»!« Das ist natürlich genau das, was ein Obdachloser sagen würde. (lacht) Mein Vater hat früher immer erzählt, dass er ein berühmter Romanautor sei und wie viele Patente er inne habe. Aber auch davon, dass er in der Zeit, als er im Bundesgefängnis einsaß, gefoltert worden sei.

Nach den Recherchen für Ihr neues Buch können Sie Letzteres nicht mehr ganz ausschließen.

Historiker fanden heraus, dass einige der Praktiken aus Guantánamo und Abu Ghraib seit 50 Jahren von der CIA entwickelt werden. Etliches, was dort angeblich von dummen, fiesen Einzeltätern ausgeheckt worden sein soll, wurde jahrelang verfeinert und ausprobiert. In Vietnam, in Brasilien. Und eben auf den Krankenstationen einiger Bundesgefängnisse. Zwei der Hauptorte dieser illegalen Tests waren angeblich in Lexington, Kentucky, und in Marion, Illinois. In beiden hat mein Vater eingesessen. Was ich jahrelang für sinnloses Alkoholgestammel hielt, weil es so unvorstellbar war, lag nun plötzlich im Bereich des Möglichen. Allein, dass es nicht als völlig abwegig erscheint, war wie ein Schock. Es wirft ein ganz anderes Licht darauf, wie schief sein Leben ging.

Interview: Steven Geyer


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