Interview mit Jan Phillip Reemtsma über seine Gefühle im Verfahren, über Trauma
und Ohnmacht, Religion und Tod
Die Zeit, vom 25.Jan.2001, Nr.5, S.12 ff
DZ: Wenn man sich Ihre Berichte über die Todesangst während der Entführung
vergegenwärtigt und nun den laufenden Prozess gegen Ihren Entführer Thomas
Drach verfolgt, erscheint die Munterkeit und Komik dieser Veranstaltung reichlich
absurd. Geht es Ihnen ähnlich?
JPR: Ja, in mehrfacher Hinsicht. Naturgemäß sind die Perspektiven von Täter und
Opfer unterschiedlich. Sie erzählen unterschiedliche Geschichten. Hinzu kommt
hier: Die beiden Haupttäter Koszics und Drach wollen ja jeweils die eigene Rolle
verkleinern und die des anderen vergrößern. So kommt es zwischen ihnen zu
einem merkwürdigen Wettstreit, der von sich aus schon komisch wirkt. Außerdem
scheint der bereits verurteilte Zeuge K. es dem Angeklagten D. sehr übel zu
nehmen, in die Entführung hineingezogen worden, dann gescheitert zu sein und
nun mit einer hohen Haftstrafe dazusitzen. Und K. will aller Welt deutlich machen,
dass - wäre er der Haupttäter gewesen, der er nicht sei - die Sache geklappt
hätte. Also versucht er nun, seinen Komplizen als Dilettanten hinzustellen.
Koszics befremdliches Pathos des Berufsverbrechers - der seine Sache im Prinzip
gut macht, wenn ihm nicht ein Dilettant hineinpfuscht - führt direkt in die
Komödie. Ich als derjenige, mit dessen Leben damals gespielt wurde, kann das
nur aushalten, wenn ich die Erinnerung in mir klein halte. Täte ich das nicht,
könnte ich das alles kaum ertragen. Ich muss mir die Sache selbst von außen
ansehen, so, als könnte ich mich auch darüber amüsieren.
DZ: Amüsieren Sie sich denn tatsächlich?
JPR: Ich bin verblüfft. Die Komik der Verhandlung entgeht mir nicht, doch sie wird
gebremst durch all meine anderen Empfindungen. Das führt letztendlich zu einer
emotionellen Kompromissbildung, meinem Erstaunen.
DZ: Die Komik in diesem Prozess liegt auch in der Banalität des Bösen.
JPR: Das Wort kommt aus einem anderen Zusammenhang, aber man kann
vielleicht so viel sagen: Die innere Geschichte dieses Verbrechens, die ich in dem
Buch »Im Keller« aufgeschrieben habe als derjenige, der es selbst erlebt hat, ist
eine Geschichte von Schmerzen und Leid und Angst und Schrecken. Für diese
extremen Emotionen sucht der, der die Geschichte erzählt, ein ähnlich extremes
Äquivalent - in der Person des Täters. Er neigt also in der Fantasie dazu, den
Täter zu dämonisieren, ihn größer zu machen, auch interessanter. Und wenn dann
reihenweise banale Menschen auftreten, die selber die Dimension ihrer Tat nicht
begreifen, dann entsteht jener Effekt, der das böse banal werden lässt, obwohl es
das nie ist. Ein dämonischer Täter wird gesucht und nicht gefunden. Das ist eine
Wahrnehmung, mit der Opfer von Verbrechen oft konfrontiert werden. Das, was
die eigene Geschichte sucht, findet sie im Gerichtssaal nicht.
DZ: Damit müssen auch Sie jetzt leben.
JPR: Das gehört zu meiner privaten Entmythologisierung, zu Wiederaneignung
von Realität.
DZ: In Ihrem Buch haben Sie von einer gefühlsmäßigen Nähe zum Täter, von dem
Sie damals nur die Stimmen kannten, geschrieben. Können Sie das heute noch
nachvollziehen?
JPR: Nein, natürlich nicht. Diese Regung entsprang einer Extremsituation, und
gerade weil sie ebenso befremdlich ist wie typisch für solche Situationen, war es
mir wichtig, sie später im Buch zu rekonstruieren. Damit man sie nicht
pathologisiert. Wenn das eigene Leben von der Willkür anderer abhängig ist,
sucht man nach Signalen, die das Überleben wahrscheinlich machen. Und es
gehört dazu, sich als jemand zu erkennen zu geben, den man doch besser nicht
umbringt. In einem so starken Machtgefälle ist das Suchen nach Sympathie eine
normale Überlebensstrategie. Nur ist es wichtig, später - falls man überlebt hat -
diese Regung wieder aus der Seele zu entfernen.
DZ: Und nun sitzt Drach als Angeklagter vor Ihnen, seiner Macht und seiner Maske
entkleidet.....
JPR: ..... und wenn ich mich an damals erinnere, ekelt es mich. Und ich habe ihn
sehr genau wiedererkannt - seine Mischung aus Selbstgefälligkeit und
Selbstmitleid, sein Lamento, dass an den Problemen, die er sich selber
aufgeladen hat, alle anderen Schuld sind. So hat er auch nach den gescheiterten
Geldübergaben gesprochen. Persönlich gekränkt war er, wenn er wieder etwas
verpfuscht hatte. Narzissmus und Empathielosigkeit, das habe ich im Keller auch
so erlebt. Ich habe ihn damals ganz gut kennen gelernt während unserer paar
Wortwechsel.
DZ: Sind Sie enttäuscht von ihm?
JPR: Bestimmte Seiten treten hervor, die ich damals nur ahnte und mir lieber
nicht vorstellte. Etwa Drachs Infertilität, die sich in seinem Waffenfetischismus
zeigt. Er läuft im Haus mit einer Pistole herum, geht zu den Geldübergaben mit
einer Kalaschnikow, weil er Sorge hat die Polizei könnte auf ihn schießen. Eine
Sorge, die er durch Herumtragen von Waffen zu entgehen hoffte. Die
Leichtfertigkeit neben der Bösartigkeit, denn es hätte viel passieren können, das
mich das Leben gekostet hätte, auch wenn die Täter es nicht gewollt hätten.
Dabei die Selbstgerechtigkeit eines Verbrechers, der sich noch als strafmindernd
anrechnen lassen möchte, dass er nicht getötet hat.
DZ: Besteht zwischen Ihnen und dem Angeklagten Drach noch eine Vertrautheit
im Gerichtssaal?
JPR: Überhaupt nicht. Welch abwegige Vorstellung!
DZ: Würden Sie mit Ihren Entführern heute gerne ein Gespräch führen?
JPR: Ich wüsste nicht, worüber. Ich habe viel zu viel Zeit meines Lebens damit
zubringen müssen, mit diesen Menschen Gespräche zu führen und mir über ihre
Beschaffenheit Gedanken zu machen.
DZ: In vielen Ländern der Welt müssen Menschen, die zu Opfern von Verbrechen
wurden, selber damit fertig werden - womöglich sogar damit, dass der Täter zu
guter Letzt triumphiert. Sie leben in einem Rechtsstaat, und Ihre Entführer
werden vor Gericht gestellt. Hilft Ihnen das dabei, das Geschehene zu
verarbeiten?
JPR: Selbst fertig werden muss ich damit trotzdem. Auch die Tatsache, dass der
Haupttäter jetzt vor Gericht steht, macht die Anforderungen nicht geringer. Eine
Gerichtsverhandlung ist ja keine Psychotherapie. Sie kann allenfalls verhindern,
das die Sache noch schlimmer wird. Das entscheidende bei der Rechtssprechung
ist ja die Feststellung: Hier ist Unrecht geschehen und nicht jemandem ein
Unglück wiederfahren. Und dem Opfer wird gleichsam offiziell bescheinigt: Der da
ist schuld. Die Gefühle von Scham und Schuld, die Du als Opfer hast, sind
unberechtigt. Wenn das verweigert wird, wird die Sache erheblich verschlimmert.
DZ: Wozu führt das dann?
JPR: Die Erfahrung geht in Serie. In der Fachterminologie gibt es dafür den Begriff
der sequentiellen Traumatisierung. Das Traum wird zur Lebensregel. Man kann
aus den eigenen Empfindungen nicht mehr aussteigen und ist auf das Trauma
fixiert. Dass dies nicht geschieht, dazu kann dieser Prozess beitragen.
Vergeltung, auch so etwas wie Vergeltung in sublimierter Form, kann ein Prozess
jedoch nicht sein. Es gibt noch einen anderen Aspekt, der mich hierbei
beschäftigt: Ich war erstaunt, dass bei der Anklageerhebung gegen Drach, anders
als im Fall von W.K., das Stichwort der Sicherungsverwahrung nicht ins Spiel
gebracht wurde, und sei es nur als prüfende Eventualität.
DZ: Sicherheitsverwahrung bedeutet lebenslanges Wegschließen .....
JPR: .... nicht notwendigerweise lebenslang. Es geht bei der
Sicherungsverwahrung um eine Maßnahme zum Schutz der Öffentlichkeit jenseits
von Strafe. Der Paragraf 66 im Strafgesetzbuch, der diese Maßnahme vorsieht, ist
im Grunde für die Karrieren wie die von Drach erfunden worden. Drach hat selbst
freimütig eingeräumt, nach seinem Schulabgang alles vermieden zu haben, was
irgendwie mit Legalität zu tun hat. Er hat sich also bemüht, eine erfolgreiche
Verbrecherlaufbahn einzuschlagen, und die Schwere seiner Straftaten ist mit dem
Alter gewachsen. Wie ich aus den Akten weiß, hat Drach bei seinem vorletzten
Gefängnisaufenthalt bereit von einer Entführung schwadroniert. Er hat davon
gesprochen, dass er jemanden entführen wolle, um weitere Straftaten
vorzufinanzieren. Das alles, meine ich hätte für Sicherheitsverwahrung
gesprochen. Denn: Selbst wenn Drach die Höchststrafe bekäme und ihm die
Untersuchungshaft in Argentinien eins zu eins angerechnet würde, hätte er immer
noch einen Erlös von zwei Millionen Mark pro Haftjahr. Und selbst wenn sein
Mittäter mehr erhalten hätte, als er zugibt, hätte sich dann das Verbrechen
gelohnt.
DZ: Hat sich durch die Entführung Ihre Einstellung zu Geld verändert?
JPR: Nein, hat es nicht.
DZ: Was machen Sie mit dem Geld, wenn Sie es zurückbekommen sollten?
JPR: Ein Teil dieses Geldes soll Hinterbliebenen von Polizisten, die in Ausübung
ihres Dienstes getötet wurden , zugute kommen, ein anderer Teil der
Schuldnerberatung des Diakonischen Werkes.
DZ: Sie haben damals im Keller von den Entführern die Bibel als Lektüre
angefordert und nicht bekommen.
JPR: Ich wollte sie als dickes Buch. Und die Täter hätten nicht in eine
Buchhandlung gehen müssen, um eine zu beschaffen. Sie hätten eine aus der
Dorfkirche stehlen können.
DZ: Im Neuen Testament wird Reichtum oft mit Unfreiheit gleichgesetzt. Ein
Beispiel ist der reiche Jüngling, der Jesus nachfolgen will, aber es nicht kann, weil
Jesus von den Jüngern fordert, sich vom Reichtum loszureißen. Wie verstehen Sie
diese Bilder?
JPR: Da hat Jesus sich verhalten wie ein Sektenführer.
DZ: Das stimmt nicht . Er hat nicht gesagt: Gib mir Dein Geld! Er hat gesagt: Gib es
weg!
JPR: Geld kann auch Unabhängigkeit bedeuten, die sich mit dem Anspruch auf
Gefolgschaft nicht verträgt. Zitieren Sie besser Jean-Paul, der sinngemäß sagt:
»Es sind mehr Karrieren durch Reichtum als durch Armut zerstört worden.« Er
meinte intellektuell. Mir hat das Geld ermöglicht, viele Dinge zu tun, die ich gerne
getan habe und die vielleicht auch anderen nützlich gewesen sind. Ich kann mir
einen Beruf leisten, der mich Geld kostet, anstatt mir welches einzubringen. Mich
hat das Geld nicht daran gehindert, mich mit den Themen zu beschäftigen, die
mich interessieren, und einige der Bücher zu schreiben, die ich schreiben wollte.
DZ: Aber Sie sind jetzt auch dauernd von Menschen umgeben, die auf Sie
aufpassen müssen. Stört das nicht?
JPR: (schweigt):........
DZ: Und Sie hatten ein furchtbares Erlebnis - Ihres Geldes wegen.
JPR: Das ist richtig.
DZ: Haben Sie das Geld manchmal verflucht?
JPR: Sehen Sie: Jemand, der vermögend ist und Ihnen auf diese Frage mit ja
antwortet, würde auf eine besonders lächerliche Weise lügen. Denn es steht ihm
ja frei, sich von heute auf morgen von dem Geld zu befreien. Natürlich gibt es
schwierige und belastende Situationen am Geld, aber diese als Fazit sozusagen
unter den Strich zu schreiben, ist absolut lächerlich und unanständig denen
gegenüber, die weniger haben.
DZ: Sind Sie durch die Entführung von irgendetwas freier geworden?
JPR: Ich habe die Fähigkeit verloren, mich über bestimmte Dinge aufzuregen. Ich
habe auch vor öffentlichen Auftritten und Lesungen kein Lampenfieber mehr. Was
schlecht ist.
DZ: Können Sie die Entführung in Ihrem Lebenszusammenhang sinnvoll deuten?
Oder ist sie nur Trauma geblieben?
JPR: So was hat keinen Sinn.
DZ: Es gibt Menschen, die mit einem Schicksalsschlag fertig werden, indem sie
ihm einen Sinn verleihen.
JPR: Wenn so jemand jetzt hier säße, dann würde ich ihn fragen: Was meinen Sie
mit Sinn? Wenn einer nach einem Unfall behindert ist, und er erfindet dann ein
Gerät das die Behinderung kompensiert oder lindert, und auch anderen hilft
dieses Gerät, dann hat er seiner Behinderung doch keinen Sinn gegeben.
Allenfalls hat er aus dem Malheur das Beste gemacht. Ich habe viele Briefe
gekriegt von Leuten, die mein Buch gelesen haben und schreiben: »Ich habe
etwas erlebt, das sich mit ihren Erlebnissen trifft, in einer bestimmten Situation.«
Manchem hat das Buch in irgendeiner Weise geholfen. So gesehen habe ich etwas
Nützliches aus meinem Erlebnis gemacht. Aber es wäre eine völlig verdrehte
Perspektive zu sagen: Ich habe dem einen Sinn gegeben.
DZ: Wie stark beherrscht die Erinnerung an die Entführung Sie noch immer?
JPR: Die Erinnerung ist natürlich immer noch da. Man kann es auch so
beschreiben: Wenn Sie sich ein großes Möbel kaufen und es sich ins Zimmer
stellen, dann SEHEN Sie es jeden Tag in den Wochen und Monaten nach der
Anschaffung. Und irgendwann gehört es zur Einrichtung, und Sie gucken nicht
mehr hin. Nur manchmal, und dann denken Sie: Was ist das für ein schöner
Schrank, oder: Hätte ich ihn bloß nie gekauft. Sie müssen nur immer wissen, dass
er da ist, weil Sie sonst dagegen rennen.
DZ: Hat sich Ihre Einstellung zum Tod verändert?
JPR: Auf einer Tagung wurde ich von einem Mann angesprochen, der aus einem
osteuropäischen Land kam. Er war dort früher als Dissident zum Tode verurteilt
und dann in die Psychiatrie versteckt worden. Später war er freigekauft worden.
Der hatte mein Buch gelesen und sprach mich darauf an, wie es sich denn so
lebt - danach. Wir versuchten gemeinsam eine Formulierung für das Leben
danach zu finden. Er erzählte, dass er sich oft völlig fremd fühle, als habe er mit
anderen Menschen nichts mehr zu tun. Ich sagte: Das kenne ich auch. Was mag
das sein, das uns von ihnen trennt? Ich schlug vor: Die wissen alle nicht, das sie
sterben müssen. Er sagte: Ich glaube, das stimmt. Also: Nicht meine Einstellung
zum Tod hat sich verändert, sondern die Art des Wissens um den Tod. Jeder weiß,
dass er sterben muss, und jeder weiß es irgendwie auch nicht. Besser: Jeder
weiß, dass er muß, und keiner glaubt es. Es sei denn, man hat durch Erlebnisse
wie eine schwere Krankheit und vor allem solche, wo das eigene Leben abhängig
war von der Willkür eines anderen, das Wissen, dass das Leben von einem
Augenblick auf den anderen zu Ende sein kann.
DZ: Wie wirkt sich dieses Wissen auf Ihr Leben aus?
JPR: Es nützt nichts, es ist zu nichts gut, man kann damit nichts anfangen. Es ist
einfach nur da.
DZ: Haben Sie jetzt Angst vor den Menschen, nachdem Ihnen Menschen etwas
angetan haben?
JPR: Nein. Dass es sich um eine zum Teil sehr unfreundliche Spezies handelt, war
mir auch vorher nicht unbekannt.
DZ: Jedes Menschenleben beginnt und endet mit der Erfahrung der absoluten
Ohnmacht. Ist die von Ihnen während der Entführung erlebte Ohnmacht nicht
deshalb für Sie so schwer zu ertragen, weil es Sie auf der Höhe Ihrer
biographischen Macht erwischt hat?
JPR: Das ist vielleicht nicht ganz falsch. Ich glaube, dass ein menschliches Wesen
nicht so etwas wie ein Urvertrauen hat, wenn es auf die Welt kommt, sondern
eher ein Urmisstrauen. Biographien, die nicht völlig katastrophisch verlaufen,
erlauben, dass dieses Urmisstrauen unter der Decke bleibt. Es wird durch solche
Erlebnisse wie meines gleichsam reaktiviert. Doch die Zustände der absoluten
Hilflosigkeit gehören eben an den Anfang und an das Ende des Lebens und nicht in
die Mitte. Aber der Unterschied ist: Nicht jede Form von Hilflosigkeit ist
Bedrohung durch einen anderen - und das ist ein großer Unterschied.
DZ: Hat Ihnen das, was Sie im Keller erlebten, und das was Sie zurzeit im Prozess
erleben, auch eine religiöse Dimension aufgedrängt?
JPR: Überhaupt nicht. Ich habe festgestellt, das ich wirklich nicht religiös bin. Ich
habe Briefe bekommen, die diese religiöse Dimension anmahnten. Ich habe sie
als eine unglaubliche Zumutung empfunden! Abgesehen davon, dass ich keine
Adresse habe, an die ich irgendeinen Dank richten könnte: Hätte ich sie, wäre es
dieselbe Adresse, bei der ich mich zu beschweren hätte. Ich bin nicht religiös, und
da habe ich es gemerkt. Als Kind war ich mal religiös, aber das hat sich dann
gelegt. Bertrand Russell ist vor allem daran schuld gewesen. Er hat ein
wunderbares Argument gefunden: Diese Christen behaupten immer, sagte er, die
Welt sei schrecklich und schlecht. Also muss es irgendeine Kompensation geben,
durch irgendetwas Besseres. Würden Sie, wendet Russell sich an das
Lesepublikum, wenn Sie eine Kiste Apfelsinen kaufen und feststellen müssten,
dass die erste Lage verfault ist, sagen: Ah, dann wird die zweite Lage aus
Gründen der Kompensation umso besser sein? Das hat mir eingeleuchtet.
DZ: Aber die Religion liefert Bilder. Wenn man Sie an Ihrem Tisch im Gericht sitzen
sieht, könnte einem der Psalm einfallen: »Du bereitest mir einen Tisch im
Angesicht meiner Feinde und schenkst mir voll ein.«
JPR: Sie haben merkwürdige Assoziationen. Die Religionen sind doch im
Wesentlichen dazu da, mit dem Sterblichkeitsproblem der Menschen fertig zu
werden. Um es mit Freud zu sagen: Das Unbewusste hält sich für unsterblich. Der
Sterblichkeitsgedanke ist in der Tiefenstruktur der Menschen nicht verankert. Und
so kommt es zu jenem ewigen Widerspruch zwischen diesem Wissen und der
emotionellen Weigerung, diesem Wissen den nötigen Platz einzuräumen. Und
genau damit sollen die Religionen klarkommen. Die Ägypter präparieren ihre
Leichen, um sie unsterblich zu machen. Die Christen erfinden die unsterbliche
Seele. Überall, wo Religionen poetisch intensiv werden, in ihren besten Texten,
gelingt es ihnen, die existenziellen Situationen von Tod und Angst zu erfassen.
Aber das können nichtreligiöse literarische Werke genauso gut und besser.
DZ: Genugtuung ist auch ein existentielles Gefühl.
JPR: Aber ich empfinde vor Gericht keine Genugtuung. Ich sitze da. Und da sitzt
der Angeklagte. Und ich denke mir: Okay, wenigstens das.
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