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wuming schrieb am 7.5. 2010 um 23:57:49 Uhr über

Theater

Theatertreffen 2010
Man könnte kotzen vor Glück
Von Wolfgang Höbel


Fotostrecke: 4 Bilder

Klaus Lefebvre
Hier wird gekeift, gestohlen und gemordet, vor Verliebtsein fast durchgedreht. Das Berliner Theatertreffen zeigt die zehn wichtigsten Inszenierungen des Jahres. Die Grundstimmung ist dabei eindeutig: Die kapitalistische Weltordnung mag aus den Fugen sein - wir aber leben noch!

Toll, dass es noch Revolutionen gibt in der Kunst - und dann sind sie ausgerechnet auf dem Berliner Theatertreffen zu bestaunen! Zwar gibt es jedes Jahr Streit um die in Berlin präsentierten zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen des Theaterjahres - aber im Verdacht, umstürzlerischen Umtrieben Vorschub zu leisten, stand die Auswahl eigentlich nie. Im Jahr 2010 allerdings haben nun sieben weise Jurorinnen und Juroren als einen von zehn Kandidaten den Theatermacher Nicolas Stemann nach Berlin eingeladen, der in seinem Beitrag zum diesjährigen Theatertreffen ernst macht mit einer grundlegenden Umwälzung der Bühnenkunst: Er befreit Zuschauer und Schauspieler vom bösen, oft würgenden Beweis- und Leistungsdruck im Theater.



ANZEIGE»Die Kontrakte des Kaufmanns«, eine Koproduktion des Kölner Schauspiels mit dem Hamburger Thalia Theater, ist ein turbulenter Abend, bei dem Stemann selber mit auf der Bühne steht und als Musiker in die Tasten haut. Der während dieser Aufführung vorgetragene Text von Elfriede Jelinek über die Pleiten diverser Firmen und Banken enthält eine Moral. Die ist sehr verkalauert und nicht besonders originell. Stemanns eigene Offenbarung aber findet sich im Programmheft. Sie lautet: »Die meisten Theaterleute, die ich kenne, egal ob Regisseure, Autoren oder Schauspieler, sind von Angst beherrscht. Das ist verständlich, aber nicht gutErgo ruft der Regisseur ein angstreduziertes Theater aus, das auch die Zuschauer aus furchteinflößenden Zwängen herausführen will, sieht er sie doch geplagt von diversen Ängsten, etwa von denen, »mal wieder nichts zu verstehen, gelangweilt oder mit Obst beworfen zu werden«. Und so fordert Stemann von der Bühne herab das Publikum auf, mitten in seiner Vierstundenshow ruhig öfter mal aufzustehen und den Zuschauerraum zu verlassen, einen Kaffee oder ein Bier zu trinken und dann bitteschön wiederzukommen, wann und wie es beliebt. Und zumindest in dieser Aufführung scheint der Traum von einem intelligenten, komischen, zum Flanieren einladenden Theater der permanenten Freiwilligkeit in Erfüllung zu gehen: laut Stemann ein Sieg gegen »die Grundverkrampftheit, die allzuoft im Theater herrscht«.

Fürchtet Euch nicht! Vermutlich ist dies die einende frohe Botschaft dieses Theatertreffen-Jahrgangs 2010. Die kapitalistische Weltordnung ist aus den Fugen, unsere Theaterhäuser mögen bedroht sein durch sparwütige Politiker, doch lasst uns tapfer und froh und munter anspielen gegen diese Bedrohungen: Bloß keine panische Verkrampfung, das ist eine Grundstimmung der Theatergegenwart: Hurra, wir leben noch! Wobei jede der zehn bemerkenswerten Aufführungen das ein bisschen anders, aber fast immer großartig formuliert.

Geldmenschen außer Tritt

Fürchtet euch nicht vor kommenden Explosionen, verzagt nicht vor den Wirtschaftsschrecknissen dieser Welt, das ist die Lektion, die zum Beispiel Anna Viebrock und Christoph Marthaler den Theaterzuschauer lehren. Ihre Aufführung »Riesenbutzbach« spielt unter Karriere- und Geldmenschen, die merkwürdig außer Tritt geraten sind, einer zum Beispiel kriegt plötzlich seinen Tresor nicht mehr auf, eine Tragödie! Ort der Handlung ist ein verlotterter Riesengaragenbau, er nennt sich »Institut für Gärungsgewerbe«. Das ist natürlich eine holzhammerdeutliche Metapher fürs Theater selbst, in dem die Gärungsprozesse, die unguten Dämpfe und Verpuffungen der Gesellschaft gefälligst erschnüffelt, nachvollzogen und vorweggenommen werden sollen. Und im besten Fall zieht es auch noch kluge Schlüsse aus dieser Arbeit. »Oh welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben. Nur hier ist Leben!«, lässt Marthaler seine Verlierermenschen singen.

Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass viele Theatermacher lustvoll durchatmen, seit die scheinbare Allmacht der Kapitalmärkte zerbröckelt ist. Das kann an einer Art natürlicher Feindschaft zwischen dem modernen, zumindest in seinem Selbstverständnis höheren Zielen geweihten Künstlermenschen einerseits und dem materialistischen Gewinnmaximierer des Kapitalsektors andererseits liegen. Hinzu kommt: Der Bankencrash findet gerade im Theater einen bestens geölten Resonanzboden, weil auf unseren Bühnen seit Jahrzehnten kaum etwas so hingebungsvoll gepflegt wird wie die Kunst der Weltuntergangsbeschwörung. In einem wachen Regisseursgehirn schlägt die Uhr immer Endzeit. Das hat den Vorzug, dass die Theatermacher mitunter sogar praktische Handreichungen zum Umgang mit der Krise bereithalten: »In Zeiten wie diesen sollten Männer auf ihre Fingernägel achten«, verkündet eine Mitspielerin in »Riesenbutzbach«.

Verteufelt oft geht es um Armut und ein aus dem Ökonomischen ins Moralische führendes Elend in dieser Auswahl zum Theatertreffen 2010, das merkt fast jeder. Vielleicht nicht ganz so augenfällig ist, wie stark in diesen zehn Aufführungen die Lust am Spiel und am Weitermachen die Menschen antreibt. Und ihnen den Aufbruch ermöglicht aus dem Schmodder von Verfall und Depression.

Kostümiert wie für eine Weltraumpatrouille

In »Diebe« von Andreas Kriegenburg (Regie) und Dea Loher (Text) wird gekeift, gestohlen und gemordet, dass es eine Art hat, die Figuren verkümmern oft in quälender Sehnsucht und Gier. Und doch herrscht eine glühende, verwirrende Heiterkeit unter den Überlebenden, die in Kriegenburgs Bühnenbild auf den Wasserradschaufeln des Lebens hops genommen werden.

In »Kleiner Mann, was nunvon Luk Perceval (Regie) nach Hans Fallada (Text) wird das superputzige kleinbürgerliche Vorzeigepaar aus dem berühmten Roman sehr derb durch die Mangel der Weltwirtschaftskrise gedreht. Und daraus entsteht ein ziemlich herzzerreißender Gesang auf zwei Menschen, die ihre Liebe und ihre Würde retten wollen in düsterer Zeit.

In »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen« von Karin Beier (Regie) sowie Ettore Scola und Ruggero Maccari (Text) prügeln und sabbern als Hartz-IV-Lumpenproletariat verkleidete Schauspieler hinter einer Container-Glasscheibe dem bürgerlichen Publikum so scheußliche Klischees vor, als hätten sich Guido Westerwelle und Roland Koch diese Aufführung ausgedacht. In Wahrheit aber ist dieses Breitwand-Stummtheater nicht bloß eine schlaue Reflexion über die Politik und die Mittel des Theaters, sondern auch ein frohgemuter Appell an den Zuschauer, die eigenen Vorstellungen über die Bildungsfernen und Hilfsempfänger dieser Erde zu überprüfen - womöglich sind manche Proletarier ja wirklich so stumpf, wie RTL2 sie der TV-Nation täglich vorführt.

Es gibt einen Mangel an Empathie, eine unleugbare distanzierte Kühle nicht nur in diesen Aufführungen, sondern im Gegenwartstheater überhaupt. Manche begreifen diesen Empathiemangel als Herzlosigkeit (der allzu abgefeimten Regisseure) und manche als Verweigerung edler Schauspielkunst. In Wahrheit liegt in dieser Coolness eine Stärke vieler Theaterarbeiten. Denn das Sentimentale und die Melodramatik beherrschen ohnehin aufs Grauenvollste den medialen Alltag der zivilisierten Welt, in dem Castingshowhelden immerzu weinen müssen und sogar von jungen Literatinnen ernsthaft eingefordert wird, dass sie authentisch Drogen einwerfen, schmutzigen Sex haben und ihren Magen entleeren. Da kommt dem Theater wie von selbst die Aufgabe zu, seinem Publikum eine Welt und einen Denkraum jenseits der romantischen Glotzerei aufzutun.

So tut es Johan Simons, wenn er »Kasimir und Karoline« unter einer Leuchtreklame, die zynisch »Enjoy« fordert, als eiskalten Showdown zwischen Bonzen und Rinnsteinganoven anrichtet. Und so macht es Stephan Kimmig, der Dennis Kellys »Liebe und Geld« in ein Passionsspiel verwandelt, in dem das Leiden und die Leidenschaften der Protagonisten dem Zuschauer immerzu fremd und fern bleiben. Am traurigsten und sich selber ekelhaft sind die Mitspieler dieses surrealistischen Reigens gerade in den Augenblicken der maximalen Erfüllung. »Ich bin so verliebt, dass ich kotzen könnte«, ächzt die weibliche Heldin anlässlich ihrer Hochzeit.

Man könnte kotzen vor Glück. Zwanghaft fröhlich, als habe man ihnen eine Überdosis »Enjoy«-Pillen verabreicht, benehmen sich die Akteure von »Life and Times - Episode 1«. Sie stammen zur Hälfte aus den USA und zur Hälfte aus dem Ensemble des Wiener Burgtheaters, sie sind kostümiert wie für eine Weltraumpatrouille, und sie laden ein zu einem lässig choreografierten Trip über die Fremdheit am eigenen Leben und die Austauschbarkeit biografischer Versatzstücke. Lustig und manchmal auch ein bisschen nervtötend bereiten die Regisseure Kelly Copper und Pavol Liska, Betreiber des so genannten »Nature Theater of Oklahoma«, die banalsten Erinnerungssätze einer jungen Frau auf; dass der zeitgenössische Mensch seiner Erfahrung enteignet sei, sagt ja heute nicht bloß Giorgio Agamben, das weiß jedes Konsolenkind.

Großes, herrliches, sinnliches Gewusel



ANZEIGE»Wenn ich etwas ganz anderes sein könnte, als ich sein muss. Ein anderer Mensch«, sagt eine der Figuren in Roland Schimmelpfennigs »Der goldene Drache«. Das klingt wie ein Kommentar zum »Life and Times«-Spektakel von Copper und Liska, obwohl Schimmelpfennigs Stück in der scheinbar ganz anderen Sphäre einer deutschen Chinarestaurantküche spielt. Natürlich gehört die Offenlegung solcher heimlicher Korrespondenzen und Überschneidungen zu den stärksten Reizen einer Festivalauswahl, die für kurze Zeit zusammenbringt, was nie ganz zueinander passen kann.

Viktor Bodos Inszenierung von Peter Handkes »Stunde da wir nichts voneinander wussten« und »Der Goldene Drache« von Schimmelpfennig (Text und Regie) verbindet nicht allein, dass sie Schnitzeljagden sind, in denen sich zweimal fragmentarische Erinnerungen und Mini-Tragödien zu einem großen, herrlichen, sinnlichen Gewusel fügen. Beide Aufführungen spielen auch in einer gründlich zerstückten Welt und schmieden atomisierte Wahrnehmungpartikel zu einem funkelnden Ganzen zusammen, beide erzählen von der Lust an der Verwandlung und vom Jahrmarktszauber, der ein Urgrund aller Theaterkunst ist. In der schönsten Szene der Schimmelpfennigschen Chinesen-Küchenoper entdecken die Mitspieler im Zahn eines stets wegen seiner schmerzenden Backe jammernden Jungen dessen vollständige, eigentlich weit weg in China vermutete Familie, die mit dem Sprössling zu reden wünscht: ein großartiger Märchenmoment.

Warum geht man ins Theater? Weil man auf Wunder hofft. Ob sich der wirre Zustand der Welt in der Umtriebigkeit einer Großstadt spiegelt, in der Garküche oder im Gärungsinstitut, ist dabei nicht allzu wichtig. Dass er sich überhaupt spiegelt auf berührende, komische, akrobatische, poetische Weise, das ist das Ziel. Der Theatervisionär Nicolas Stemann jedenfalls wünscht sich eine neue »Wachheit und Schnelligkeit« von einem zukünftigen Theater, in dem es weder dem Zuschauer noch den Theatermachern erlaubt sein soll, zurückzufallen in den gewohnten Trott. »Es soll gar nicht der Anschein entstehen, dass es sowas wie Sicherheit überhaupt geben kann«, sagt Stemann. »Ich sehne mich nach einem Theater jenseits der AngstWenn seine Sehnsucht in Erfüllung geht, dann könnte sogar die bekannt kunststrenge, von einer unerbittlichen Jury zusammengestellte Leistungsschau des Berliner Theatertreffens noch mehr zu einem Fest werden, in dem Berührungsscheu, Neuerungsfurcht und Mäkelei keine Rolle mehr spielen. Ein Fest für die vielleicht bedrohte, aber keineswegs unglückliche deutschsprachige Theaterwelt.



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SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Höbel ist derzeit Mitglied der siebenköpfigen Auswahljury für das Berliner Theatertreffen. Der hier abgedruckte Essay erscheint gleichzeitig im offiziellen Katalog des Theatertreffens.

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Das schöne an einer aus den Fugen geratenen, kapitalistischen Weltordnung ist ja, dass sie immer noch einer selbstverliebten Kulturelite ein angenehmes Leben von Subventionen ermöglicht. mehr...

heute, 21:35 Uhr von semipermeabel:
Die Weltwirtschaftskrise in den 20er Jahren lässt grüssen! mehr...



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