>Info zum Stichwort DATENMÜLL | >diskutieren | >Permalink 
elfboi schrieb am 20.12. 2002 um 04:44:56 Uhr über

DATENMÜLL

Johann Wolfgang von Goethe

Die Leiden des jungen Werther. (1774)

[Erstes Buch]

20

"Am 10. Mai.

21 Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele 22 eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die 23 ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein, und 24 freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für 25 solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so 26 glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von 27 ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter

[Seite 8]

1 leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen 2 Strich, und bin nie ein größerer Mahler gewesen als 3 in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Thal um 4 mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche 5 der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, 6 und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum 7 stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden 8 Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige 9 Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich 10 das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die 11 unzähligen unergründlichen Gestalten der Würmchen, 12 der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und 13 fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach 14 seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der 15 uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; 16 mein Freund! wenn's dann um meine Augen dämmert, 17 und die Welt um mich her und der Himmel ganz in 18 meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; 19 dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du 20 das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das 21 einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es 22 würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist 23 der Spiegel des unendlichen Gottes! — Mein Freund24 Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter 25 der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

[...]

8

Am 22. Mai.

9 Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, 10 ist manchen schon so vorgekommen und auch mit mir 11 zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkung 12 ansehe, in welcher die thätigen und forschenden 13 Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn 14 ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich 15 die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die 16 wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz 17 zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über 18 gewisse Puncte des Nachforschens nur eine träumende 19 Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen 20 denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und 21 lichten Aussichten bemahlt — Das alles, Wilhelm, 22 macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, 23 und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und 24 dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger 25 Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen 26 und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.

[Seite 15]

1 Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, 2 darin sind alle hochgelahrten Schul- und Hofmeister 3 einig; daß aber auch Erwachsene gleich Kindern auf 4 diesem Erdboden herumtaumeln, und wie jene nicht 5 wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, eben 6 so wenig nach wahren Zwecken handeln, eben so durch 7 Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden: 8 das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man 9 kann es mit Händen greifen.

10 Ich gestehe dir gern, denn ich weiß, was du mir 11 hierauf sagen möchtest, daß diejenigen die Glücklichsten 12 sind, die gleich den Kindern in den Tag hinein leben, 13 ihre Puppen herumschleppen, aus- und anziehen, und 14 mit großem Respect um die Schublade umherschleichen, 15 wo Mama das Zuckerbrot hinein geschlossen hat, und 16 wenn sie das gewünschte endlich erhaschen, es mit 17 vollen Backen verzehren und rufen: Mehr! — Das 18 sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist's wohl, die 19 ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren 20 Leidenschaften prächtige Titel geben, und sie dem 21 Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen 22 Heil und Wohlfahrt anschreiben. — Wohl dem, der 23 so sein kann! Wer aber in seiner Demuth erkennt, wo 24 das alles hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder 25 Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese 26 zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen dann doch auch 27 der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, 28 und alle gleich interessirt sind, das Licht dieser Sonne

[Seite 16]

1 noch eine Minute länger zu sehn; — ja der ist still, 2 und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist 3 auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so 4 eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das 5 süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker 6 verlassen kann, wann er will.

7

Am 26. Mai.

8 Du kennst von Alters her meine Art, mich anzubauen, 9 mir irgend an einem vertraulichen Ort ein 10 Hüttchen aufzuschlagen, und da mit aller Einschränkung 11 zu herbergen. Auch hier hab' ich wieder ein 12 Plätzchen angetroffen, das mich angezogen hat.

13 Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein 14 Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem 15 Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf 16 dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man 17 auf Einmal das ganze Thal. Eine gute Wirthin, die 18 gefällig und munter in ihrem Alter ist, schenkt Wein, 19 Bier, Kaffee; und was über alles geht, sind zwei 20 Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen den kleinen 21 Platz vor der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, 22 Scheuern und Höfen eingeschlossen ist. So 23 vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht ein Plätzchen 24 gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus

[Seite 17]

1 dem Wirthshause bringen und meinen Stuhl, trinke 2 meinen Kaffee da, und lese meinen Homer. Das erstemal, 3 als ich durch einen Zufall an einem schönen 4 Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen 5 so einsam. Es war alles im Felde; nur ein 6 Knabe von ungefähr vier Jahren saß an der Erde 7 und hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm 8 zwischen seinen Füßen sitzendes Kind mit beiden Armen 9 wider seine Brust, so daß er ihm zu einer Art von 10 Sessel diente, und ungeachtet der Munterkeit, womit 11 er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz 12 ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick: ich setzte mich 13 auf einen Pflug, der gegenüber stand, und zeichnete 14 die brüderliche Stellung mit vielem Ergetzen. Ich 15 fügte den nächsten Zaun, ein Scheunenthor und einige 16 gebrochene Wagenräder bei, alles wie es hinter einander 17 stand, und fand nach Verlauf einer Stunde, 18 daß ich eine wohlgeordnete, sehr interessante Zeichnung 19 verfertigt hatte, ohne das Mindeste von dem Meinen 20 hinzuzuthun. Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, 21 mich künftig allein an die Natur zu halten. Sie 22 allein ist unendlich reich und sie allein bildet den 23 großen Künstler. Man kann zum Vortheile der 24 Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der 25 bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der 26 sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes 27 und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch 28 Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher

[Seite 18]

1 Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht 2 werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man 3 rede was man wolle, das wahre Gefühl von Natur 4 und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sag' 5 du, das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet 6 die geilen Reben usw.. — Guter Freund, soll ich dir ein 7 Gleichniß geben? Es ist damit wie mit der Liebe. 8 Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt 9 alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet 10 alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden 11 Augenblick auszudrücken, daß er sich ganz ihr hingibt. 12 Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem 13 öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: Feiner junger 14 Herr! lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich 15 lieben! Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, 16 und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen. 17 Berechnet euer Vermögen, und was euch von eurer 18 Nothdurft übrig bleibt, davon verwehr' ich euch nicht, 19 ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa 20 zu ihrem Geburts- und Namenstage usw.. — Folgt der 21 Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen, 22 und ich will selbst jedem Fürsten rathen, ihn in ein 23 Collegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am 24 Ende, und wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. 25 O meine Freunde! warum der Strom des Genies so 26 selten ausbricht, so selten in hohen Fluthen herein 27 braus't, und eure staunende Seele erschüttert? — 28 Liebe Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf

[Seite 19]

1 beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, 2 Tulpenbeete und Krautfelder zu Grunde gehen würden, 3 die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der 4 künftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.

[...]

23

Am 16. Junius.

24 Warum ich dir nicht schreibe? — Fragst du das 25 und bist doch auch der Gelehrten einer? Du solltest 26 rathen, daß ich mich wohl befinde, und zwarKurz

[Seite 24]

1 und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein 2 Herz näher angeht. Ich habeich weiß nicht.

3 Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen 4 ist, daß ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe 5 kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt 6 und glücklich, und also kein guter Historienschreiber.

7 Einen Engel! — Pfui! das sagt jeder von der 8 Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht im 9 Stande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum 10 sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn 11 gefangen genommen.

12 So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viele 13 Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele 14 bei dem wahren Leben und der Thätigkeit. —

[...]

[Zweites Buch]

18

Am 12. December.

19 Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in 20 dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen 21 man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. 22 Manchmal ergreift mich's; es ist nicht 23 Angst, nicht Begier — es ist ein inneres unbekanntes 24 Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir 25 die Gurgel zupreßt! Wehe! wehe! und dann schweife 26 ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser 27 menschenfeindlichen Jahrszeit.

[Seite 151]

1 Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich 2 Thauwetter eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß 3 sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim 4 herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts 5 nach Eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches 6 Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluthen 7 in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und 8 Wiesen und Hecken und alles, und das weite Thal 9 hinauf und hinab Eine stürmende See im Sausen 10 des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat 11 und über der schwarzen Wolke ruhte und vor 12 mir hinaus die Fluth in fürchterlich herrlichem 13 Wiederschein rollte und klang: da überfiel mich ein 14 Schauer und wieder ein Sehnen! Ach mit offenen 15 Armen stand ich gegen den Abgrund und athmete 16 hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine 17 Qualen, mein Leiden da hinab zu stürmen! dahin zu 18 brausen wie die Wellen! Oh! — und den Fuß vom 19 Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen 20 zu enden! — Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, 21 ich fühle es! O Wilhelm! wie gern hätte ich mein 22 Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die 23 Wolken zu zerreißen, die Fluthen zu fassen! Ha! und 24 wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese 25 Wonne zu Theil? —

26 Und wie ich wehmüthig hinab sah auf ein Plätzchen, 27 wo ich mit Lotten unter einer Weide geruht, 28 auf einem heißen Spaziergange, — das war auch

[Seite 152]

1 überschwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte, 2 Wilhelm! Und ihre Wiesen, dachte ich, die Gegend 3 um ihr Jagdhaus! wie verstört jetzt vom reißenden 4 Strome unsere Laube! dacht' ich. Und der Vergangenheit 5 Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen 6 ein Traum von Heerden, Wiesen und Ehrenämtern! 7 Ich stand! — Ich schelte mich nicht, denn ich habe 8 Muth zu sterben. — Ich hätteNun sitze ich hier 9 wie ein altes Weib, das ihr Holz von Zäunen stoppelt 10 und ihr Brot an den Thüren, um ihr hinsterbendes 11 freudeloses Dasein noch einen Augenblick zu verlängern 12 und zu erleichtern."

[...]

18

"Nach Eilfe.

19 Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine 20 Seele. Ich danke dir, Gott, der du diesen letzten 21 Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenkest.

22 Ich trete an das Fenster, meine Beste! und sehe 23 und sehe noch durch die stürmenden, vorüberfliehenden 24 Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels! Nein, 25 ihr werdet nicht fallen! der Ewige trägt euch an seinem 26 Herzen, und mich. Ich sehe die Deichselsterne des

[Seite 188]

1 Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn 2 ich Nachts von dir ging, wie ich aus deinem Thore 3 trat, stand er gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit 4 habe ich ihn oft angesehen! oft mit aufgehobenen 5 Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen Merksteine 6 meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht! und noch7 O Lotte, was erinnert mich nicht an dich! umgibst 8 du mich nicht! und habe ich nicht, gleich einem Kinde, 9 ungenügsam allerlei Kleinigkeiten zu mir gerissen, die 10 du Heilige berührt hattest!

11 Liebes Schattenbild! Ich vermache dir es zurück, 12 Lotte, und bitte dich, es zu ehren. Tausend, tausend 13 Küsse habe ich drauf gedrückt, tausend Grüße ihm zugewinkt, 14 wenn ich ausging oder nach Hause kam.

15 Ich habe deinen Vater in einem Zettelchen gebeten, 16 meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe sind 17 zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde 18 zu; dort wünsche ich zu ruhen. Er kann, er wird 19 das für seinen Freund thun. Bitte ihn auch. Ich 20 will frommen Christen nicht zumuthen, ihren Körper 21 neben einen armen Unglücklichen zu legen. Ach ich 22 wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einsamen 23 Thale, daß Priester und Levit vor dem bezeichneten 24 Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter 25 eine Thräne weinte.

26 Hier, Lotte! Ich schaudere nicht, den kalten schrecklichen 27 Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des 28 Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn und ich

[Seite 189]

1 zage nicht. All! all! So sind alle die Wünsche und 2 Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr 3 an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.

4 Daß ich des Glückes hätte theilhaftig werden können, 5 für dich zu sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! 6 Ich wollte muthig, ich wollte freudig sterben, 7 wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens 8 wieder schaffen könnte. Aber ach! das ward nur 9 wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu 10 vergießen und durch ihren Tod ein neues hundertfältiges 11 Leben ihren Freunden anzufachen.

12 In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, 13 du hast sie berührt, geheiligt; ich habe auch deinen 14 Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem 15 Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. 16 Diese blaßrothe Schleife, die du am Busen hattest, 17 als ich dich zum erstenmale unter deinen Kindern 18 fandO küsse sie tausendmal und erzähle ihnen 19 das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die Lieben! 20 sie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich 21 schloß! seit dem ersten Augenblicke dich nicht lassen 22 konnte! — Diese Schleife soll mit mir begraben 23 werden. An meinem Geburtstage schenktest du mir 24 sie! Wie ich das alles verschlang! — Ach ich dachte 25 nicht, daß mich der Weg hierher führen sollte! — — 26 Sie ruhig! ich bitte dich, sei ruhig! —

27 Sie sind geladenEs schlägt Zwölfe! So sei 28 es denn! — Lotte! Lotte, lebe wohl! lebe wohl!"

[Seite 190]

1 Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte 2 den Schuß fallen; da aber alles stille blieb, achtete er 3 nicht weiter drauf.

4 Morgens um Sechse tritt der Bediente herein mit 5 dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die 6 Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine 7 Antwort, er röchelte nur noch. Er läuft nach den 8 Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, 9 ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren 10 Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend 11 und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig 12 vor Alberten nieder.

13 Als der Medicus zu dem Unglücklichen kam, fand 14 er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, 15 die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten 16 Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das 17 Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum 18 Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte 19 noch immer Athem.

20 Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte 21 man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische 22 die That vollbracht, dann ist er herunter gesunken, 23 hat sich convulsivisch um den Stuhl herum gewälzt. 24 Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, 25 war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack 26 mit gelber Weste.

27 Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in 28 Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man

[Seite 191]

1 auf das Bette gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht 2 schon wie eines Todten, er rührte kein Glied. 3 Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, 4 bald stärker; man erwartete sein Ende.

5 Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. 6 Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen.

7 Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer 8 laßt mich nichts sagen.

9 Der alte Amtmann kam auf die Nachricht herein 10 gesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten 11 Thränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm 12 zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke 13 des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die 14 Hände und den Mund, und der ält'ste, den er immer 15 am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er 16 verschieden war und man den Knaben mit Gewalt 17 wegriß. Um Zwölfe Mittags starb er. Die Gegenwart 18 des Amtmannes und seine Anstalten tuschten 19 einen Auflauf. Nachts gegen Eilfe ließ er ihn an 20 die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der 21 Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht's 22 nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. 23 Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn 24 begleitet.


   User-Bewertung: /
Wenn Du mit dem Autor des oben stehenden Textes Kontakt aufnehmen willst, benutze das Forum des Blasters! (Funktion »diskutieren« am oberen Rand)

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »DATENMÜLL«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »DATENMÜLL« | Hilfe | Startseite 
0.0466 (0.0179, 0.0268) sek. –– 870872400