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Charch schrieb am 27.4. 2003 um 23:19:45 Uhr über

Mittelalter

Heilwissen



Die Schrift der Aebtissin Hildegard über Ursachen und Behandlung der
Krankheiten

übersetzt von Dr. phil. Paul Kaiser


Therapeutische Monatsheft, 16.Jahrgang, Juni 1902, Berlin
(Teil 1 von 5)
[ I: Juni; II: August; III: September; IV: November; V: Dezember; Register]


Das bis jetzt noch fast unbekannt gewesene medicinische Hauptwerk der Aebtissin
Hildegard von Bingen (1098 bis ca. 1180)1) giebt uns über volksthümliche Heilkunde im 12.
Jahrhundert so reichen Aufschluss, dass ich gern von der Erlaubniss Gebrauch mache, in
diesen Heften eine Uebersetzung der für Mediciner interessanten Stellen abdrucken zu
lassen. Von den Ansichten der Hildegard über Physiologie und Pathologie des Menschen
gebe ich nur charakteristische Proben; ihre diätetischen und therapeutischen Vorschläge
übersetze ich in reichere Auswahl. Die Uebersetzung ist möglichst treu: doch habe ich mich
bei Anordnung und Wiedergabe der ohnehin kaum von Hildegard herrührenden
Capitelüberschriften nicht immer nach der Vorlage gerichtet und habe die oft unerträgliche
Breite der lateinischen Darstellung im Deutschen zu kürzen gesucht. Ein Textabdruck
erscheint demnächst im Teubner'schen Verlage.

Die Bedeutung des Mondes .... Magen und Blase des Menschen nimmt Alles auf, womit
er sich nährt. Wenn diese beiden zu viel Speisen und Getränke bekommen, verursachen sie
im ganzen Leibe einen Sturm der bösen Säfte, wie die Elemente nach Art des Menschen.

Die Zeit der Zeugung. Denn zur rechten Zeit der Wärme und Kälte wirft der Mensch das
Saatkorn aus, und dieses geht zur Frucht auf. Wer wäre denn so thöricht, bei zu grosser
Sommerhitze oder Winterkälte zu säen? Und die Saat würde verderben und nicht aufgehen.
So geht es mit den Menschen, die nicht die Reife ihres Lebensalters und die Zeit des Mondes
in Betracht ziehen, sondern zu einer beliebigen Zeit nach ihrer Willkür zeugen wollen.
Deswegen gehen ihre Kinder unter vielen Schmerzen körperlich ein. Aber wie sehr sie auch
am Leibe schwach sind, Gott sammelt doch seine Edelsteine zu sich. Daher soll der Mann
die Reife seines Körpers erwarten und nach den rechten Mondzeiten mit solchem Fleiss
forschen, wie einer, der seine Gebete rein darbringt; auf dass er zur rechten Zeit einen Sohn
zeuge und seine Kinder nicht elendiglich verkommen. Er soll nicht sein wie ein Mensch, der
die Speise in sich schlingt, ein Vielfrass, der nach der rechten Essenszeit nicht fragt -
sondern wie einer, der die rechte Zeit innehält, dass er nicht gierig sei. So muss es der
Mensch halten und die richtige Zeit der Zeugung wahrnehmen. Der Mann suche das Weib
nicht auf, wenn es noch ein Kind ist, sondern eine Jungfrau, weil sie dann reif ist; und er soll
ein Weib erst berühren, wenn er einen Bart hat, weil er dann erst reif ist, einen Sprössling zu
zeugen. Denn wer in Fressen und Saufen aufgeht, der wird oft in seinen Gliedern aussätzig
und gebrestenhaft; wer aber mässig isst und trinkt, hat gutes Blut und gesunden Leib. So
verstreut Jener, der immer wollüstig ist und in der Geilheit seines Körpers seinen Lüsten
nachgeht, in dem Sturm seiner Zeugungslust unnütz seinen Samen und geht oft selbst mit
seinem Samen zu Grunde. Wer aber seinen Samen richtig ergiesst, bringt es zur richtigen
Zeugung.

Vom Wasser ... Sumpfwasser, wo auch immer auf der Erde es sei, ist ganz wie Gift; denn
es hat in sich die werthlosen und schädlichen Feuchtigkeiten der Erde und den giftigen Geifer
der Würmer. Dies ist ganz schlecht zum Trunk und überhaupt zum Gebrauch der Menschen
und kann nur zum Waschen dienen, wenn man es hierzu nehmen muss. Wer es aber aus
gänzlichem Mangel an anderm Wasser trinken will, muss es vorm Genuss erst kochen und
dann abkühlen lassen; auch kann man Brot, Speise und Bier, das mit ihm gekocht wird, in
Maassen nehmen, weil man es durchs Feuer reinigt ... Aber das Wasser von Brunnen, die
tiefer in die Erde gegraben sind, so dass es steht und nicht ausfliessen kann, ist besser und
angenehmer zur Speise, zum Trunk und anderem Gebrauch, als fliessendes Quellwasser. Im
Vergleich zu Quellwasser ist es wie milde Salbe, da es nicht fortwährend ausfliesst und durch
den milden Hauch der Luft erwärmt wird. Denn Quellwasser ist hart und widersteht daher
den Speisen, so dass sie sich kaum erweichen und kochen lassen. Und da es ganz rein ist,
hat es wenig Schaum und vermag darum die Speisen weniger so zu reinigen, wie anderes
Wasser ......... Doch ist das Quellwasser leichter und reiner als Flusswasser, das durch Erde
oder Sand oder Steine, über die es strömt, gereinigt wird. Zum Trunk taugt es, da es rein ist,
und es ist auch hart und gesellt sich einigermaassen in seinen Eigenschaften dem Wein, doch
ist es an Speisen für den Genuss schädlich und wegen seiner Härte auch beim Waschen den
Augen. Aber das Wasser von Flüssen, die über die Erde fliessen, ist dick, weil es von der
Sonne und der Luft getroffen wird, und ist voll Schaum und zum Trinken nicht gesund, da
sich unterschiedliche Eigenschaften der Luft und der Elemente mit ihm mischen und es auch
von dem Rauch und Nebel, der von gewissen ungesunden Bergen niedersteigt, inficirt wird ...
Wenn Menschen oder andere Geschöpfe das Wasser trinken, bringt es ihnen Tod oder
macht die Glieder hervorstehen, weil es sie verbildet oder schwächt ... Aber kleine und ganz
klare Bäche, die von anderen Gewässern gleichsam wie Adern abfliessen, die sind vermöge
ihres Ausflusses rein und recht nützlich zu jedem Gebrauch für Mensch und Vieh.
Regenwasser aber ist hart und nimmt kranken Menschen Unrath, böse Säfte und Eiter, doch
gesunden Menschen schadet es, weil es bei ihnen nichts zum Reinigen findet. Wenn es aber
in Cisternen steht, wird es milder und ist für Gesunde und Kranke gut; doch is Quell- und
Flusswasser viel besser u.s.w....

Von der Empfängnis. Wenn das Blut eines Mannes in der Gluth der Wollust aufschäumt,
giebt es Schaum von sich, den wir Samen nennen; so giebt ein Topf am Herdfeuer in Folge
der Feuerhitze Schaum von sich. Wenn nun einer vom Samen eines Kranken empfangen
wird oder von schwächlichem, ungekochtem Samen, der mit eitrigem Saft gemischt ist, der
ist in seinem Leben meistens krank und voll Fäulniss, wie Holz, das, von Würmern
durchbohrt, vermodert. So einer wird denn oft voll von Geschwüren und Eiterbeulen und
zieht den eitrigen Krankheitsstoff aus den Speisen leichter an sich zu dem Eiter, den er schon
hat. Wer davon frei ist, ist gesunder. Wenn der Same aber geil ist, wird der aus ihm
empfangene Mensch unmässig und geil ... . Wenn ein Mann unter Erguss kräftigen Samens
und in treuer Liebe zur Frau zu ihr kommt und sie dann auch die rechte Liebe zum Manne
hat, dann wird ein männliches Kind empfangen; denn so hat es Gott eingerichtet ... Wenn der
Mann seine Frau treu liebt, die Frau aber den Mann nicht, oder auch die Frau den Mann
liebt, aber der Mann nicht die Frau, und der Mann dermalen nur dürftigen Samen hat, so
entsteht ein weibliches Kind.... Die Wärme der Frauen von dicker Constitution ist stärker als
der Samen des Mannes, so dass das Kind häufig ihnen ähnlich wird; die Frauen von magerer
Constitution bekommen oft ein Kind, das dem Vater ähnelt....

Von den Krankheiten. Was die verschiedenen Krankheiten betrifft, an denen manche
Menschen leiden, so rühren sie vom Schleim her, der sie anfüllt. Wäre der Mensch im
Paradies geblieben, so hätte er keinen Schleim im Körper - woher die Krankheiten
stammen - sondern sein Leib wäre gesund und frei von ihm. Nun aber hat er sich dem
Bösen zugeneigt und hat das Gute verlassen, und da ist er der Erde ähnlich geworden, die
gute und schädliche Kräuter hervorbringt und gute und schädliche Feuchtigkeit in sich birgt.
Denn vom Genuss des Apfels ist das Blut der Söhne Adams in das Samengift verwandelt
worden, dem die Menschenkinder entstammen. Daher ist ihr Fleisch voll Schwären und
Löcher, die gewissermaassen Sturm und Rauchniederschläge in den Menschen herbeiführen;
und hieraus bildet sich Schleim und erstarrt und macht den Körper krank ... Manche
Menschen sind gierig und enthalten sich nicht üppiger Speisen. So bildet sich in ihnen giftiger,
zäher, trockner Schleim, kein feuchter, sondern scharfer, der aufgeschwemmtes, dunkles und
krankes Fleisch in ihnen wachsen lässt. Und wenn sie sich vom Genuss der fetten Speisen
nicht enthalten mögen, ziehen sie sich leicht den Aussatz zu. Und die Schärfe des Schleimes
erregt einen Brodem wie von Melancholie um Leber und Lunge, sie werden jähzornig und
verdriesslich, und ihr Schweiss ist nicht sauber, sondern schmutzig. Sie sind aber nicht
schwach, sondern tüchtig und kühn, und in Folge ihrer Körperbeschaffenheit sind sie
herrschsüchtig und anmaassend. Der Schleim richtet einige dieser Constitutionen schnell zu
Grunde, da er stark ist, einige aber lässt er länger leben. Andere Menschen sind von geiler
Natur und noch weniger enthaltsam, so dass sie sich kaum mässigen können und auch krank
werden. Die haben zu viel feuchten Schleim, weil sich in ihnen schädlicher Saft bildet und ein
böser Schleim sich ansammelt, der ungesunden Brodem in ihre Brust und Gehirn aufsteigen
lässt. Die Feuchtigkeit dieses dampfenden Schleimes verringert ihr Gehör, so dass sie in
ihrem Magen und in den Ohren wie ein schädlicher Nebel ist, der gute Pflanzen und Früchte
schädigt. Dieser Schleim thut aber der Lunge nichts, da sie auch feucht ist und keine
Feuchtigkeit annimmt - sonst würde sie sofort weggeschwemmt werden. Auch auf das
Herz hat er keinen bösen Einfluss, denn das wird immer stark sein und zu grosse Feuchtigkeit
nicht annehmen. Leute von dieser Constitution sind freundlich und heiter, doch träge, und
manche von ihnen leben ziemlich lange; denn dieser Schleim tödtet nicht, doch trägt er auch
keineswegs zur Gesundheit bei. - Manche sind jähzornig, doch ihr Zorn verraucht bald, und
sie sind trefflich und heiter, doch kalt; sie haben schwankende Sinnesart und sind mit geringer
Nahrung zufrieden. Diese aber ziehen sich von den drei Schleimarten, dem trocknen,
feuchten und lauwarmen Schleim, wässerigen Schaum zu, der aus dem Schleim entsteht und
gleichsam gefährliche Pfeile in ihre Adern, Mark und Fleisch sendet, wie kochendes Wasser,
welches kochenden Schaum ausstösst ...

Vom Nebel. Auf einigen Bergen und Thälern und anderen Gegenden erhebt sich manchmal
nach dem Gericht Gottes ein dunkler Nebel, der sich dann stürmisch verbreitet und
schlechten und schädlichen Schmutz in sich birgt. Wenn er sich über die Lande hebt, bringt er
Krankheiten, Seuchen und Tod für Menschen und Vieh. Bisweilen steigt auch aus Wasser
Nebel auf, streift Alles auf dem Lande und verbreitet sich. Auch er bringt zum Theil
Menschen und Vieh Krankheiten und Seuchen, doch tödtet er nicht, knickt aber die
keimenden Baumblüthen und schadet den Früchten, so dass Bäume und Pflanzen ihre Blätter
zusammenziehen und verdorren, als ob sie mit heissem Wasser begossen sind. Ein anderer
Nebel rührt von grosser Hitze und Menge der Luft und der Wolken mit ihrer Feuchtigkeit
her, ist aber nicht schlimm. Mancher Nebel kommt auch von Kälte und Erdfeuchtigkeit oder
gewissen Gewässern, doch bringt er Menschen, Vieh und Erdfrüchten keinen Schaden, weil
es in seiner Natur liegt, dass er sich zu seiner Zeit erhebt ...

Die Schöpfung Adams. Als Gott Adam schuf, umleuchtete der göttliche Glanz den
Erdenkloss, aus dem er geschaffen wurde, und so nahm jene Erde nach einer gegebenen
Form in der äusseren Gliedergestaltung Erscheinung an und blieb innen leer. Darauf schuf
Gott aus derselben Erdmasse in ihr Herz, Leber, Lunge, Magen, Eingeweide, Augen, Zunge
und das andere Innere. Und als er den lebendigen Odem in sie blies, wurde der Stoff -
Knochen, Mark und Adern - belebt und der Odem vertheilte sich in die Stoffmasse, wie
ein Würmchen sich in sein Haus einzwängt und Lebenssaft im Baume ist. Sie wurden so
belebt, wie Silber eine andere Gestalt bekommt, wenn der Goldschmied es ins Feuer thut;
und der Odem hat seinen Sitz im Herzen. Dann entstanden auch durch die Glut der Seele in
der Stoffmasse Fleisch und Blut. Und die Lebenskraft der Seele sandte Schaum und
Feuchtigkeit zum Haupt, ins Gehirn; daher ist das Gehirn feucht, und von jener Feuchtigkeit
trägt das Haupt Haare. Aber die Seele ist feurig, bewegt und feucht und nimmt das ganze
Herz des Menschen ein. Die Leber erwärmt das Herz, die Lunge deckt es, der Magen ist
innen ein Raum im Menschenkörper zur Aufnahme von Speisen. Das Herz hat die
Eigenschaft des Wissens, die Leber des Gefühls, die Lunge des Blattes (der
Veränderlichkeit, Beweglichkeit?), der Mund dient der Vernunft als Weg, ein Sprachrohr für
das, was der Mensch vorträgt, und eine Aufnahme der Erfrischungen des Körpers; und er
spricht, hört aber nicht, während das Ohr hört, aber nicht spricht. Die beiden Ohren sind
gleichsam die Flügel, die jeden Wortschall ein- und ausführen, wie die Fittige den Vogel in
die Luft tragen. Auch die Augen sind Wege für den Menschen, und die Nase ist sein Witz,
und so ist der Mensch auch in seinen übrigen Gliedern zubereitet ... Der Mensch wird auf
zwei Arten ernährt: er wird durch Speise wieder voll und durch Schlaf erfrischt ...

Der Mensch besteht aus den Elementen. Wie die Elemente die Welt zusammenhalten,
so bilden sie auch die Verbindung des Menschenkörpers, und ihre ausströmenden
Wirkungen vertheilen sich in dem Menschen, dass er durch sie gefestigt wird, wie sie in der
ganzen Welt ihre Wirkung ausüben. Feuer, Luft, Wasser, Erde sind im Menschen, aus ihnen
besteht er. Vom Feuer hat er die Wärme, Athem von der Luft, vom Wasser Blut und von
der Erde das Fleisch; in gleicher Weise auch vom Feuer die Sehkraft, von der Luft das
Gehör, vom Wasser die Bewegung, von der Erde das Aufrechtgehen. Wie es nun um die
Welt gut steht, wenn die Elemente ihre Schuldigkeit thun, dass Wärme, Thau und Regen,
jedes zur rechten Zeit, maassvoll niederfallen zur Erwärmung der Erde und Früchte und
Fruchtbarkeit und Gesundheit bringen - denn fielen sie gleichzeitig und plötzlich und
unregelmässig auf die Erde, so wurde diese zerbersten und ihre Fruchtbarkeit und
Gesundheit zu nichte werden -: so erhalten auch die Elemente den Menschen, wenn sie
ordnungsmässig in ihm thätig sind, und machen ihn gesund; wenn sie aber wider einander
sind, machen sie ihn krank und tödten ihn. Denn die von Wärme, Feuchtigkeit, Blut und
Fleisch sich absondernden Schleimansammlungen sind, wenn sie mässig und ruhig wirken,
gesund; wenn sie aber den Menschen zugleich durcheinander treffen, schwächen und tödten
sie ihn. Denn Wärme, Feuchtigkeit, Luft und Fleisch haben sich nach dem Sündenfall im
Menschen zu schädlichem Schleim verwandelt.

Von der Empfängniss. Folgendermaassen aber entsteht jeder Mensch durch
Zusammengerinnen. Der Mensch hat Willen, Ueberlegung, Macht und Einverständniss.
Zuerst kommt der Wille, denn jeder Mensch hat einen Willen Dies oder Jenes zu thun. Dann
folgt die Ueberlegung, ob etwas passend oder unpassend, lauter oder unlauter sei. Die
Macht ist das Dritte, sie setzt eine Handlung durch; das Einverständnis schliesst sich an, da
ohne dieses ein Werk nicht vollendet werden kann. Diese vier Kräfte sind bei der Entstehung
des Menschen thätig. Die vier Elemente rufen viererlei Säfte im Menschen hervor, wenn sie in
stürmischer Fülle nahen: das Feuer, das Trockne, entflammt den Willen, die Luft, das
Feuchte, erregt die Ueberlegung, das Wasser, das Schäumige, lässt die Macht aufwogen, die
Erde, das Milde, lässt das Einverständnis hervorsprudeln. All dies fliesst über und ruft Sturm
hervor und leitet aus dem Blut giftigen Schleim, den Samen, hervor, welcher an seinem
richtigen Ort geleitet sich mit dem Blut des Weibes vermischt und davon blutig wird. Aus der
Lust, welche die Schlange beim Apfelgenuss dem ersten Menschen eingeblasen hat, entsteht
die Empfängniss, weil dann das Blut des Mannes durch die Lust erregt wird. Dies Blut giebt
dem Weibe kalten Schleim, und dieser erstarrt von der Wärme des mütterlichen Fleisches
und dehnt sich zu einer blutigen Form aus und verharrt in dieser Wärme so, bis er von der
Ausschwitzung des Trocknen in den Speisen der Mutter zu einer kleinen menschlichen
Gestalt anwachsend sich verdichtet und das Zeichen des Schöpfers, das den Menschen
geschaffen hat, diese dichte Gestalt durchdringt, wie ein Goldschmied ein Gefäss mit
erhabener Arbeit anfertigt ... Und dann formt sich aus ihm wie ein Bild die Menschengestalt,
Mark und Adern fügen sich wie Fäden in sie ein, vertheilen sich und bilden überall feste
Bänder, und gleichsam eine Eihaut umgiebt das Mark, die später zu Knochen wird ... Doch
noch ist diese Gestalt von solcher Stumpfheit, dass sie sich nicht bewegen kann, und sie liegt
da, als ob sie schlafe und wenig athme. Und der Lebenshauch durchdringt und füllt und stärkt
sie in Mark und Adern, so dass sie mehr wächst als bisher, bis sich Knochen über dem
Mark ausdehnen und die Adern stark genug werden, um das Blut festzuhalten. Dann bewegt
sich das Kind so, dass die Mutter es fühlt, als ob es plötzlich erwache, und von da an bleibt
es immer lebhaft. Denn der lebendige Odem, die Seele, zieht nach dem Willen der Allmacht
in die Gestalt ein und macht sie lebendig und hält in ihr überallhin seinen Umzug, wie der
Wurm, der Seide spinnt, in der er sich wie in seinem Haus einschliesst ... Nachdem der Same
des Mannes an seine richtige Stelle gelangt ist, so dass er Menschengestalt annehmen muss,
dann wächst um diese Gestalt vom Monatsblut der Mutter gefässartig eine Haut, die sie völlig
umgiebt, damit sie sich nicht bewegt und falle; denn das geronnene Blut sammelt sich dort so,
dass die Gestalt in seiner Mitte ruht, wie der Mensch in seinem Hause. Und in ihm hat sie
Wärme, und eine Hülfe wird ihm von dem schwarzen mütterlichen Leberblute bis zu seiner
Geburt aufgezogen. Und das Kind bleibt solange in dem Gefäss eingeschlossen, bis seine
Vernunft verlangt, dass seine Menschenfülle hervortrete. Da kann und darf es nicht mehr
eingeschlossen bleiben und schweigen, denn im Mutterleibe kann das Kind nicht schreien.
Wenn aber die Geburt beginnt, zerreisst das Gefäss, in dem das Kind eingeschlossen ist, und
die macht des ewigen Gottes, die Eva aus der Seite Adams bereitet hat, naht und kehrt alle
Winkel der Behausung des mütterlichen Körpers von ihren Plätzen. Und die Fugen der
Mutter bieten sich dieser Kraft dar und nehmen sie auf und öffnen sich. Und so halten sie
fest, bis das Kind herauskommt, und dann schliessen sie sich zusammen, wie sie vorher
gewesen sind. Auch die Seele des Kindes merkt, während es hinaustritt, die Macht der
Ewigkeit, die sie geschickt hat, und ist fröhlich; wenn es aber heraus ist, bricht es in Weinen
aus, weil es die Finsterniss der Welt spürt ...

Von der Milch. Wenn ein Weib vom Manne empfangen hat und der Same in ihr zu
wachsen beginnt, dann zieht sich von derselben natürlichen Kraft das Blut der Mutter
aufwärts zu den Brüsten, und was von Speisen und Getränken Blut werden müsste,
verwandelt sich zu Milch, damit von ihr das Kind, das in ihrem Leibe wächst, ernährt werden
kann. Wie das Kind im Mutterleibe zunimmt, so mehrt sich auch die Milch in den Brüsten,
damit das Kind davon ernährt werde ...

Die fleischliche Lust. Die Adern, die in der Leber und im Bauch des Mannes sind, treffen
sich in seinen Genitalien. Und wenn die Erregung der Lust vom Marke des Mannes ausgeht,
gelangt sie in die Geschlechtstheile und erregt im Blute den Vorgeschmackt der Lust. Und
weil diese Theile eng und fest eingeschlossen sind, kann jene Erregung sich nicht genügend
verbreiten und erglüht dort stark in Lust, so dass sie in dieser Glut selbstvergessen sich nicht
enthalten kann, den Samenschleim zu entsenden; denn wegen der Eingeschlossenheit der
Schamtheile entbrennt das Feuer der Lust heftiger, wenn auch seltener, in ihm als in der Frau.
Denn wie auf grossen Wellen, die sich von starken Stürmen auf Flüssen her heben, ein Schiff
heftig kämpft und kaum sich halten und widerstehen kann: so kann auch im Sturm der
Wollust die Natur des Mannes sich schwer zähmen. Aber auf Wellen, die von sanftem
Winde sich erheben, und in Stürmen, die von sanfter Windbewegung herrühren, kann sich
der Nachen, wenn auch mit Mühe, halten: so ist des Weibes Natur in der Wollust, da sie sich
leichter bezwingen kann, als die Art der Wollust des Mannes. Diese gleicht dem Feuer, das
erlischt und wieder angefacht wird; denn wenn es fortwährend glühte, würde es Vieles
verzehren: so erhebt sich die Lust ab und zu im Manne und sinkt dann wieder; denn wenn sie
immer in ihm wüthete, könnte er sie nicht ertragen.

Die Temperamente des Menschen. Choleriker. Einige Männer sind mannhaft und haben
ein starkes und dickes Gehirn. Ihre äusseren Adern, die die Gehirnhaut umgeben, sind
ziemlich roth. Ihre Gesichtsfarbe ist recht roth, wie auf gewissen Bildern, die mit rother Farbe
gemalt werden; sie habe dicke und starke Adern, die heisses Blut von wachsgelber Farbe
bergen, und auf der Brust sind sie dick und haben starke Arme, doch fett sind sie nicht, weil
die starken Arme und Blut und Glieder ihr Fleisch nicht zu fett werden lassen ... Diese sind
klug und werden von Anderen gefürchtet, haben Umgang mit den Frauen und suchen sich
von anderen Männern fernzuhalten, weil sie die Weiber mehr lieben als die Männer. Die
Gestalt des Weibes lieben sie im Umgang so sehr, dass ihr Blut unaufhaltsam erglüht, wenn
sie eine Frau sehen oder hören oder an sie denken; ihre Augen sind wie Pfeile, eine Frau, die
sie sehen, zu lieben; ihr Gehör wie ein starker Wind, wenn sie die Frau hören, ihre Gedanken
wie starker Orkan, der über die Erde dahinbrausen muss. Sie sind mannhafte Männer und
heissen Künstler der Fruchtbarkeit, weil sie viele Sprösslinge haben, wie ein Baum, der von
sich viele Zweige weit ausgehen lässt. Wegen ihres Feuers im Umgang mit den Frauen sind
sie wie Pfeile. Sie sind gesund und heiter, wenn sie mit Weibern verkehren; sonst trocknen
sie ein und schleichen einher, als ob sie sterben wollen, es sei denn, dass sie in Folge
wollüstiger Träume oder Gedanken oder einer anderen perversen Sache von selbst Samen
verlieren ...

Sanguiniker. Andere Männer haben warmes Gehirn und anmuthige Gesichtsfarbe, weiss
und roth gemischt, und fette Adern voll Blut und dickes Blut von rechter rother Farbe. Sie
besitzen heitere Säfte, die durch bittere Traurigkeit nicht bedrückt werden und vor denen die
bittere Melancholie sich flüchtet ... Mit Frauen vermögen sie ehrbaren und fruchtbaren
Umgang zu haben und blicken sie mit schönen, reinen Augen an; denn während die Augen
der anderen (der Choleriker) wie Pfeile sind, machen ihre Augen ihnen eine ehrbare Musik,
und während das Gehör der anderen wie heftiger Wind ist, hat ihr Gehör gleichsam den
Klang der Laute u.s.w. ...

Vom Monatsfluss. Bei zunehmendem Mond mehrt sich das Blut im Weibe wie im Manne,
bei abnehmendem mindert es sich, bis zum 50. Lebensjahr. Während sich aber das Blut des
Mannes nur bei abnehmendem Monde mindert, wird es bei der Frau auch während der
Menstruation geringer. Wenn diese also die Frau bei zunehmendem Monde trifft, dann hat sie
mehr Schmerzen, als wenn es ihr bei abnehmendem passirt; denn dann müsste es sich
mehren, während es sich mindert. Nach dem 50. Jahr richtet sich Zunahme und Abnahme
des Blutes nicht mehr nach dem Mondlauf in solcher behenden Stärke wie vorher, sondern
das Blut lässt das Fleisch bis zum 80. Jahr etwas dicker werden, als vorher, weil Abnahme
und Zunahme des Blutes aufhört. Nach dem 80. Jahr schwindet Fleisch und Blut des
Mannes, die Haut zieht sich zusammen, es entstehen Runzeln, während in der Blüthezeit seine
Haut glatt und gespannt war, weil Fleisch und Blut voll waren. Weil nun nach dem 80. Jahr
beim Manne Fleisch und Blut dahinwelken, wird er schwach und bedarf wie ein Kind
fortwährend der Speise und des Getränkes, um erfrischt zu werden, damit durch die
Nahrung ersetzt werde, was er an Fleisch und Blut einbüsst. Bei den Frauen aber hört nach
dem 50. Jahr die Menstruation auf, abgesehen von denjenigen, die so gesund und stark sind,
dass die Reinigung bis zum 70. Jahr anhält, und dann, wenn das Blut nicht mehr wie zuvor
fliesst, wird ihr Fleisch dick bis zum 70. Jahr, weil es dann durch den Blutfluss nicht mehr
geschwächt wird. Nach dem 70. Jahr aber (ist es wie bei den Männern nach dem 80.), weil
sie schwächer sind als die Männer, während dieses Elend des Greisenalters bei den Männern
bis zum 80. Jahr hingehalten wird ...

1) Siehe über dasselbe: Osterprogramm des Königst. Gymnasiums 1901, Berlin, Gärtner's
Verl.



Therapeutische Monatsheft, 16.Jahrgang, August 1902, Berlin
(Teil 2 von 5)
[ I: Juni; II: August; III: September; IV: November; V: Dezember; Register]


Vom Schlaf. Das Mark des Menschen wächst durch den Schlaf, wie sein Fleisch durch die
Speise. Denn wenn er schläft, wird
sein Mark erneuert, und wenn er wacht, wird es einigermaassen geschwächt und verringert,
wie der Mond beim Zunehmen
wächst und beim Abnehmen kleiner wird und wie die Pflanzenwurzeln zur Winterszeit die
Lebenskraft in sich bergen, die sie im
Sommer in die Blüthen treiben. Wenn daher das Mark des Menschen durch Arbeiten
ermüdet oder durch Wachen geschwächt
ist, wird der Mensch vom Schlaf bezwungen und schläft stehend, sitzend oder liegend leicht
ein, da seine Seele an sich selbst
die Nothlage des Körpers wahrnimmt. Denn wenn das Mark durch Wachen geschwächt ist,
leiten die Seelenkräfte einen
sanften süssen Hauch aus dem Mark; dieser durchweht die Halsadern und den Nacken des
Menschen und theilt sich den
Schläfen und Kopfadern mit und drückt den lebendigen Athem des Menschen dergestalt
nieder, dass solch einer dann daliegt
wie gefühllos und bewusstlos, dass er nicht mehr Herr seines Körpers ist und
bewussterweise weder Verstand noch Gedanken
noch Gefühl hat, nur dass die Seele für Ein- und Ausathmung sorgt wie beim wachenden
Menschen...Da sammelt die Seele des
Menschen ihre Kräfte, lässt sein Mark wachsen und erstarken, kräftigt durch dieses die
Knochen und sammelt das Blut, kocht
das Fleisch, beruhigt die einzelnen Glieder und verbreitet in selbigem Menschen Weisheit und
Wissen zu seiner Lebensfreude.
Beim Schlafe des Menschen hat (das Mark) daher mehr innere Wärme als im wachen
Zustande, weil es beim Wachen flüchtig
und verwirrt dahinschwindet; und darum schläft jener; wenn er aber schläft, glüht sein Mark,
weil es dann zunimmt und fett und
rein wird.

Von nächtlicher Befleckung. Daher erregt es auch oft in dieser Glut in Folge seiner Fülle
das Blut zur Lust und leitet ohne
Wissen des Menschen Samen in seine Geschlechtstheile. Es erglüht auch oft in Folge
übermässigen Essens und Trinkens, denn
Uebermaass facht das Feuer des Markes an, und der Speisesaft bringt Mark und Blut etwas
in Aufregung. Und das glühende
Mark erregt im Blute fleischliche Lust...; was doch in Folge der Sommerhitze oder der
Wärme der Bekleidung nie oder nur
selten geschieht.

Vom Athmen. Wenn der Mensch nicht ein- und ausathmete, würde er den Körper nicht
bewegen können, und sein Blut
würde nicht fliessen, wie ja auch Wasser ohne Luftbewegung nicht fliesst.

Vom Uebermaass des Schlafes. Wenn einer übermässig viel schläft, bekommt er davon
leicht verschiedene böse Fieber und
zieht sich eine Verdunkelung der Augen zu, weil seine Augen beim Schlaf zu lange
geschlossen sind, wie einer, der zu lange in
die Sonne sähe, sich davon eine Verdunkelung der Augen holte. Wenn einer aber mässig
schläft, wird er gesund sein. Wer
übermässig viel wacht, wird körperlich schwach und verliert seine Kräfte und wird geistig
ziemlich geschwächt, und das die
Augen umgebende Fleisch schmerzt und röthet sich und schwillt auf. Doch die Sehschärfe
und Pupille verletzt er dadurch nicht.
Wer aber mässig wacht, bleibt gesund. Oft ist ein Mensch wach und kann nicht schlafen, weil
sein Geist mit verschiedenen
Gedanken, Möglichkeiten und Widerwärtigkeiten beschäftigt oder von grosser Freude
abgespannt ist. Denn wenn er in Trauer,
Furcht, Angst, Noth oder in anderen derartigen widerstreitenden Empfindungen ist, wird sein
Blut oft in Unruhe versetzt, und
die Adern, die angenehmen Schlafhauch aufnehmen müssten, ziehen sich etwas zusammen,
so dass sie es nicht können. Und
auch wenn er etwas gesehen oder gehört hat oder ihm etwas begegnet ist, worüber er sich
über die Maassen freut, dann
wenden sich seine Adern der Freude zu und können den angenehmen Schlafhauch nicht
behalten, so dass jener die rechte
Mischung in sich nicht hat und wach bleibt, bis er sich in seinem Gemüthe mit jener Sache
abfindet und wieder zur Vernunft
kommt und die Adern auf ihr rechtes Maass zurückgehen und der Mensch schläft. Auch
wenn einer von schwerer Krankheit
gepeinigt wird, gerathen Blut und Säfte in ihm in Widerstreit und erregen Stürme in ihm, und
so kann er wegen dieser
Widerwärtigkeiten nicht schlafen, sondern bleibt wach gegen seine Gesundheit und seinen
Willen ...

Von körperlicher Bewegung. Wenn ein körperlich gesunder Mann lange umhergeht oder
aufrecht steht, schadet ihm das
nicht viel, weil er sich körperlich bewegt, vorausgesetzt, dass er nicht zu viel geht oder steht.
Wer aber schwach ist, muss sitzen,
weil er davon Schaden nähme, wenn er ginge oder stände. Das Weib aber - denn es ist
gebrechlicher als der Mann und hat
einen andern Schädel - muss mehr sitzen als umhergehen, damit es keinen Schaden nimmt.
Wer aber reitet, nimmt keinen
grossen Schaden, wenn er auch davon müde wird, weil er sich in frischer Luft aufhält; aber er
muss Füsse und Schenkel
dadurch pflegen, dass er sie zuweilen bewegt und ausstreckt.




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