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ME i.E. schrieb am 11.11. 2002 um 11:20:42 Uhr über

Nasrudin

Einmal ans Meer gelangt, sprichst du nicht mehr von Nebenflüssen

(Hakim Sanai. Der ummauerte Garten der Wahrheit)

Mulla (Meister) Nasrudin ist die klassische Figur, welche die Derwische ins Leben riefen, um mit ihr Momentaufnahmen von Situationen zu geben, in denen bestimmte Zustände des Bewußtseins deutlich werden. Überall im Mittleren Osten bekannt, stellen die Nasrudin Geschichten eine der merkwürdigsten Errungenschaften in der Geschichte der Metaphysik dar.

Oberflächlich kann man die meisten Nasrudin-Geschichten als Witz auffassen. In den Teehäusern und den Karawansereien, daheim und auf allen Radiowellen werden sie in ganz Asien immer und immer wieder erzählt. Aber es ist den Nasrudin-Geschichten eigen, daß man sie auf vielen verschiedenen Bedeutungsebenen begreifen kann. Da ist der Witz, da ist die Moral von der Geschicht - und da ist ein gewisses -Etwas-, das dem Bewußtsein des potentiellen Mystikers auf seinem Weg zur Selbstverwirklichung ein wenig weiterhifft.

Da der Sufismus etwas ist, das man genauso leben wie wahrnehmen muß, kann eine Nasrudin-Erzählung für sich, keine vollkommene Erleuchtung bewirken. Andererseits überbrückt sie die Kluft zwischen dem weltlichen Leben und einer Umwandlung des Bewußtseins auf eine Weise, wie sie bisher wohl von keiner anderen literarischen Form erreicht worden ist.

Die Streiche sind noch nie gänzlich einer westlichen Leserschaft vorgelegt worden, wohl deshalb, weil die Geschichten von einem Nicht-Sufi kaum richtig übersetzt, geschweige denn aus dem Zusammenhang gerissen studiert werden können, ohne daß ihre wesentliche Wirkung verlorengeht. Selbst im Osten wird die Sammlung nur von eingeweihten Sufis zum Zweck der Schulung gebraucht. Einzelne »Witze« aus der Sammlung haben in fast jedes Schrifttum der Welt Eingang gefunden; deshalb wurde ihnen auch eine gewisse scholastische Beachtung zuteil - man führte sie als Beispiele für kulturelle Strömungen an, oder um die Behauptung zu belegen, daß Humor im Grund überall dasselbe sei. Haben die Geschichten aber auch durch den Reiz ihres unverwüstlichen Humors ihre Überlebenskraft bewiesen, so ist - was die Absicht der Sammlung angeht - dieser Reiz jedoch zweitrangig. Die Geschichten -sollen nämlich als Grundlage für das Verständnis der sufischen Einstellung zum Leben dienen und gewisse sufische Erkenntnisse und mystische Erfahrungen ermöglichen. Die Legende des Nasrudin, ein Anhang zu den Streichen, der im dreizehnten Jahrhundert oder früher geschrieben wurde, erwähnt einige der Gründe für die Einführung des Nasrudin. Die Ausbreitung von Humor laßt sich nicht unterdrücken; er hat eine Art, durch die starren Denkstrukturen hindurchzuschlüpfen, die der Menschheit durch unbewußte Gewöhnung und bewußte Absicht eingeimpft wurden. Als ein komplettes System des Denkens existiert Nasrudin auf so vielen Ebenen, daß er nicht umzubringen ist. Die Wahrheit dieser Behauptung erweist sich zum Beispiel an der Tatsache, daß so verschiedene und einander fremde Organisationen wie die Britische Gesellschaft zur Förderung Christlichen Gedankengutes und die sowjetische Regierung Nasrudin in ihre Dienste gezwungen haben. Die britische Gesellschaft (S. P. C. K.) veröffentlichte einige seiner Geschichten unter dem Titel »Tales of the Khoja«, während die Russen (vielleicht nach dem Motto: Mach dir zum Freund, wen du nicht schlagen kannst) einen Film über »Die Abenteuer des Nasrudin« drehten sogar die Griechen, die ja nun wirklich wenig von den Türken angenommen haben, betrachten ihn als Bestandteil ihres kulturellen Erbes. Der türkische Staat hat durch sein Informations-ministerium eine Auswahl der metaphysischen Witze dieses vermeint-lichen (pretended) mohammedanischen Predigers veröffentlichen lassen, der das Urbild des sufischen Mystikers ist. Und das, obwohl die Derwisch-Orden gesetzlich verboten waren. Niemand weiß genau, wer Nasrudin war, wo und wann er gelebt hat. Das ist natürlich ganz im Sinne der Sache, denn die Absicht war ja, eine Figur zu schaffen, die sich nicht genau charakterisieren laßt und die zeitlos ist. Für die Sufis zählt die Botschaft, nicht die Person. Das hat die Leute natürlich nicht gehindert, ihm eine Lebensgeschichte unterzuschieben und sogar seine Grabstätte zu entdecken. Die Gelehrten, über deren Haarspaltereien Nasrudin in den Geschichten meist triumphiert, haben sogar versucht, die Streiche zu analysieren, in der Hoffnung, auf geeignetes biographisches Material zu stoßen. Betrachten wir nun einige der Nasrudin-Geschichten so unvoreingenommen wie möglich, so wird sich bald zeigen, daß eine rein scholastische Einstellung das letzte ist, dem ein Sufi zustimmen würde: Nasrudin setzte einen Pedanten über ein stürmisches Wasser über. Als er etwas sagte, das grammatikalisch nicht ganz richtig war, fragte ihn der Gelehrte »Haben Sie denn nie Grammatik studiert?« »Nein.« »Dann war ja die Hälfte Ihres Lebens verschwendetWenige Minuten später drehte sich Nasrudin zu seinem Passagier um: »Haben Sie jemals schwimmen gelernt ?« »Nein. Warum?« »Dann war Ihr ganzes Leben verschwendet - wir sinken nämlichSo wird betont, daß der Sufismus ein praktisches Handeln ist. Er leugnet die Möglichkeit, durch den formalen Verstand zur Wahrheit zu gelangen oder die aus der gewohnten Welt abgeleiteten Denkschablonen auf die wahre Wirklichkeit anwenden zu können .-. eine Wirklichkeit, die sich in anderen Dimensionen bewegt. Das wird noch eindrucksvoller in einer Geschichte herausgestellt, die sich in einem Teehaus abspielt. Teehaus ist ein sufischer Ausdruck für einen Treffpunkt von Derwischen. Ein Mönch tritt ein und verkündet »Mein Meister hat mich gelehrt zu verbreiten, daß die Menschheit so lange nicht das Stadium der Vollkommenheit erreichen wird, bis derjenige, dem kein Unrecht geschah, über ein Unrecht genauso empört ist, wie derjenige, dem Unrecht geschahFür einen Augenblick ist die ganze Versammlung beeindruckt. Dann spricht Nasrudin: »Mein Lehrer lehrte mich, daß überhaupt niemand über irgend etwas empört sein sollte, ehe er nicht sicher ist, daß das vermeintliche Übel auch tatsächlich ein Übel ist - und nicht eine verkleidete Segnung!« In seiner Rolle als Sufi-Lehrer wendet Nasrudin oft die Derwisch-Technik an, in den Geschichten die Rolle des Unerleuchteten zu spielen, um eine Wahrheit so noch eindrucksvoller herauszustellen. Eine Geschichte, die den oberflächlichen Glauben an Ursache und Wirkung zurückweist, macht ihn zum Opfer: Als der Mulla Nasrudin eines Tages durch eine schmale Gasse ging, fiel ein Mann von einem Dach - ihm genau auf den Kopf. Der Mann blieb unverletzt, aber den Mulla mußte man ins Krankenhaus bringen. »Welche Lehre zieht ihr aus diesem Ereignis, Meisterfragte ihn ein Schüler »Hüte dich vor dem Glauben an das Unvermeidliche, auch wenn Ursache und Wirkung unausweichlich scheinen. Und nimm dich in acht vor theoretischen Fragen wie: Wenn ein Mann vom Dach fällt, wird er sich das Genick brechen? Er fiel - aber mein Genick ist gebrochenDa der gewöhnliche Mensch in Schablonen denkt und sich nicht auf eine ganz andersartige Sicht der Dinge einstellen kann, entgeht ihm ein großer Teil der Bedeutung des Lebens. Er mag leben, ja sogar Fortschritte machen, aber er versteht nicht alles, was um ihn her vorgeht. Die Geschichte über den Schmuggler verdeutlicht dies: Jeden Tag ging Nasrudin mit seinem Esel über die Grenze, die Lastkörbe hoch mit Stroh beladen. Da er zugab, ein Schmuggler zu sein, durchsuchten ihn die Grenzwachen immer wieder. Sie machten Leibesvisitationen, siebten das Stroh durch, tauchten es in Wasser und verbrannten es sogar von Zeit zu Zeit. Nasrudin wurde unterdessen sichtlich wohlhabender. Schließlich setzte er sich zur Ruhe und zog in ein anderes Land. Dort traf ihn Jahre später einer der Zollbeamten. »Jetzt könnt Ihr es mir ja verraten, Nasrudin«, sagte er. »Was habt Ihr damals bloß geschmuggelt, als wir Euch nie etwas nachweisen konnten?« »Esel«, sagte Nasrudin. Diese Geschichte betont auch einen der wesentlichsten Punkte der sufischen Lehre - die Tatsache, daß übernatürliche Erfahrung und das mystische Ziel der Menschheit näher sind, als sie meint. Die Vermutung, etwas Esoterisches oder Transzendentales müsse weit weg oder sehr kompliziert sein, beruht nur auf der Unwissenheit der einzelnen. Und ein Mensch, der so denkt, ist am wenigsten befähigt, die Sache, um die es geht, zu beurteilen. Sie ist »nah« und auch »weit weg«, jedoch in einem anderen Sinn, als er annimmt. Wie jeder Sufi verletzt Nasrudin nicht die Gesetze seiner Zeit. Aber er erweitert sein Bewußtsein um eine neue Dimension. Er weigert sich, zu einem spezifischen, begrenzten Zweck anzunehmen, Wahrheit sei etwas, das sich messen läßt wie irgend etwas anderes. Was Menschen jeweils die Wahrheit nennen, ist abhängig von ihrer Situation. Und bevor er das nicht begreift, kann ein Mensch die Wahrheit nicht finden. Eine sehr geistreiche Nasrudingeschichte zeigt, daß man keinen Fortschritt machen kann, ehe man nicht die relative Wahrheit durchschaut hat Nasrudin weilte gerade bei Hof, als sich der König eines Tages beklagte, seine Untertanen seien so unwahrhaft. »Majestät«, sagte Nasrudin, »es gibt Wahrheit und Wahrheit. Die Menschen müssen die echte Wahrheit üben, bevor sie relative Wahrheit anwenden können, aber sie versuchen es immer andersherum. Folglich nehmen sie es mit der menschengeschaffenen Wahrheit nicht so genau - sie wissen nämlich instinktiv, daß sie nur eine Erfindung istDas war dem König doch allzu kompliziert. »Eine Sache muß entweder wahr sein oder unwahr. Ich werde die Leute dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen, bis sie sich daran gewöhnt haben, wahrhaftig zu seinAls am nächsten Morgen die Tore der Stadt geöffnet wurden, fand man gleich vor den Toren Galgen aufgestellt, an denen ein Offizier der königlichen Garde Wache hielt. Ein Herold verkündete: »Wer immer die Stadt betreten will, muß zuerst auf eine Frage des wachhabenden Offiziers hin die Wahrheit sagenNasrudin, der draußen gewartet hatte, trat als erster vor »Wohin geht Ihrfragte der Posten. »Sagt die Wahrheit, sonst werdet Ihr gehängt.« »Ich komme, um an jenem Galgen aufgehängt zu werdenantwortete Nasrudin. »Ich glaube Euch nicht!« »Na bitte, wenn ich gelogen habe, dann hängt mich doch auf!« »Aber das würde, was Ihr gesagt habt, ja zur Wahrheit machen!« »Genau«, entgegnete Nasrudin, »zu Eurer WahrheitDer angehende Sufi muß auch erkennen, daß die Maßstäbe für gut und höse von Kriterien des einzelnen oder der Gruppe abhängig sind und nicht auf objektiver Wahrheit basieren. Bis er das nicht nur intellektuell akzeptiert sondern es auch innerlich erfährt, wird er nicht zu tiefer Erkenntnis fähig sein. Die folgende Geschichte ist ein Beispiel für eine solche Verschiebung des Maßstabes: Ein König, der sich gern von Nasrudin Gesellschaft leisten ließ und zudem die Jagd liebte, befahl dem Mulla eines Tages, ihn auf eine Bärenjagd zu begleiten. Nasrudin schlotterte vor Angst. Als er in sein Dorf zurückkehrte, fragte ihn jemand: »Na, wie war es auf der Jagd?« »Phantastisch.« »Wie vielen Bären seid Ihr begegnet?« »Keinem einzigen.« »Aber, wie kann die Jagd dann phantastisch gewesen sein?« »Wenn einer Bären jagt und so einer ist wie ich, dann ist es eine phantastische Erfahrung, keinem einzigen Bären zu begegnenInnere Erfahrung läßt sich nicht durch ständig wiederholte Berichte übermitteln, sie muß immer wieder an der Quelle aufgefrischt werden. Viele Schulen bestehen und lehren noch lange, nachdem ihre tatsächliche Dynamik schon lange erschöpft ist; sie werden zu Zentren, an denen nur noch eine ständig weiter verflachende Lehrmeinung wiederholt wird. Der Name der Lehre mag derselbe bleiben. Die Lehre aber braucht überhaupt keinen Wert mehr zu haben, ja kann sogar ihrer ursprünglichen Bedeutung widersprechen. Die Lehrmeinung ist in solchen Fällen fast immer nur noch eine Travestie der originalen Lehre. Dies ist einer der Punkte, die Nasrudin in seiner Geschichte von der Entensuppe verdeutlicht. Ein Verwandter kam von irgendwo tief aus dem Hinterland, den Mulla zu besuchen, und brachte als Geschenk eine Ente mit. Hocherfreut ließ Nasrudin die Ente zubereiten und teilte das Mahl mit seinem Gast. Es geschah jedoch, daß in der Folgezeit ein Mann vom Lande nach dem anderen bei Nasrudin auftauchte, jeder ein Freund des Freundes des Mannes, der Dir die Ente mitgebracht hat«. Weitere Geschenke aber gab es nicht. Schließlich waren die Mittel des Mulla erschöpft. Eines Tages erschien wieder einmal ein Fremder. »Ich bin der Freund des Freundes des Freundes des Verwandten, der Dir die Ente mitgebracht hatEr setzte sich nieder und erwartete wie all die anderen ein Mahl aufgetischt zu bekommen. Nasrudin setzte ihm eine Schale heißes Wasser vor »Was ist das?« »Das ist die Suppe der Suppe der Suppe der Ente, die mir mein Verwandter mitgebracht hatDie geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit, die der Sufi erlangt, befähigt ihn manchmal, Dinge zu erfahren, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind. Dessen nicht bewußt, verraten Mitglieder anderer Schulen gewöhnlich ihren Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit, indem sie Dinge sagen oder tun, die so offensichtlich das Resultat spiritueller Unreife sind, daß der Sufi sie lesen kann wie ein Buch. Unter solchen Umständen macht sich ein Sufi nur selten die Mühe, überhaupt irgend etwas zu sagen. Die geschärfte Wahrnehmung zeigt sich in einer anderen Nasrudin-Geschichte: Nasrudin kam zum Haus eines wohlhabenden Mannes, um für wohltätige Zwecke zu sammeln. Der Hausdiener sagte: »Mein Herr ist ausgegangen.« »Na gut «,entgegnete der Mulla, »auch wenn er keinen Beitrag leisten konnte, so will ich Dir doch einen guten Rat für ihn überlassen. Sag Deinem Herrn, das nächste Mal, wenn er ausginge, solle er nicht sein Gesicht am Fenster vergessen - es könnte ihm gestohlen werdenViele Menschen, die nach Erleuchtung suchen, wissen nicht, wo sie suchen sollen. So ist es nicht verwunderlich, daß sie oft irgendeinem Kult anhängen, sich auf alle möglichen Theorien stürzen, überzeugt davon, daß sie fähig sind, das Echte vom Falschen zu scheiden. Nasrudin verdeutlicht das in vielen seiner Geschichten. In einem Fall findet ihn ein Nachbar auf den Knien herumrutschen und nach etwas suchen. »Was habt Ihr verloren, Mulla« »Meinen Schlüssel«, sagte Nasrudin. Eine Weile suchen sie beide zusammen dann sagt der andere: »Wo ist er Euch denn heruntergefallen?« »Zu Hause.« »Ja um Himmels willen, warum sucht Ihr dann hier? »Na, hier ist doch mehr Licht« Dies ist eine der berühmtesten Nasrudin-Geschichten. Viele Sufis zitieren sie, wenn sie über Menschen sprechen, die nach exotischen Quellen der Erleuchtung suchen. Sie gehörte auch zum Repertoir des metaphysischen Clowns von München, Karl Valentin, der die Szene oft auf der Bühne darstellte. Der Mechanismus der Rationalisierung ist eines der wirksamsten Hindernisse für eine Vertiefung der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Anstoße, die ein Sufi gibt, mögen oft verpuffen, da der andere sie nicht recht verarbeiten kann. Ein Nachbar kam zu Nasrudin, um sich dessen Wäscheleine auszuborgen. »Tut mir leid, aber ich trockne gerade Mehl daran.« »Aber wie kann man den Mehl an einer Wäscheleine trocknen?« »oh, wenn du sie nicht verleihen willst, ist das weniger schwierig als Du denkstHier stellt Nasrudin den ausweichenden Teil des Geistes dar, der einfach nicht akzeptieren will, daß es andere Wege gibt, sich der Wahrheit zu nähern, als die konventionellen Denkstrukturen. Während seiner Entwicklung unterliegt das menschliche Bewußtsein einem dauernden Wandel, und so gibt es Grenzen für die Brauchbarkeit einer ganz bestirnrnten Methode. Diese Eigenart der sufischen Praxis wird in den auf Wiederholung aufbauenden Systemen nicht erkannt. Diese Systeme konditionieren das Bewußtsein, sie schaffen eine Atmosphäre, die die Verwirklichung oder die Nähe der Verwirklichung nur vortäuscht, aber nicht wirklich dazu führt. Nasrudin ist die Hauptperson einer Geschichte, die darauf hinweisen will: Der Mulla fiel einmal beinahe in einen Wassertümpel. Ein Mann, der gerade vorüberkam, bewahrte ihn im letzten Moment davor. Jedesmal nun, wenn Nasrudin dem Mann begegnete, erinnerte der ihn daran, wie er ihn damals vor dem Naßwerden gerettet hatte. Endlich wurde dem Mulla das zuviel; er führte seinen Freund an den Tümpel, sprang hinein, tauchte bis zum Hals unter und schrie: »Jetzt bin ich so naß, wie ich gewesen wäre, wenn ich Dich nie getroffen hätte! Und nun laß mich bloß in FriedenEin Nasrudin-Witz, der (z. B. durch Übersetzung) von seiner technischen Terminologie abgelöst wird, kann trotzdem wegen seines humoristischen Wertes geschätzt werden. In einem solchen Fall gehen jedoch viele der Anstöße verloren. Ein Beispiel ist der Witz über das Salz und die Wolle: Nasrudin will eine Ladung Salz auf den Markt bringen. Sein Esel watet durch einen Fluß und das Salz löst sich au£ Am anderen Ufer angekommen, trabt der Esel fröhlich weiter, dcnn seine Last ist nun verringert. Nasrudin aber ist ärgerlich. Am nächsten Markttag lädt er die Lastkörbe voller Wi~lle. Als der Esel durch die Furt watet, ertrinkt er fast wegen des zusatzlichen Gewichtes der vollgesogenen Wolle »Na bitte«,sagtNasrudin triumphierend, »das wird dich lehren zu denken, daß du jedesmal etwas gewinnst, wenn du durchs W~as'ser watest!« Das Original der Geschichte benutzt zwei sufische Begriffe, nämlich Salz und ~~olle. »Salz« (milh) ist dem ~~ort für »gut sein, Weisheit« gleichlautend. Der Esel ist ein Symbol des Menschen. Der Einzelne fühlt sich besser, verringert seine I~ast, wenn er etwas von seiner Bürde der allgemeinen Güte abschüttelt. Am Ende jedoch verliert er sein Futter, denn Nasrudin konnte das Salz nicht gegen Futter einhandeln. Das Wort »Wolle« ist natürlich ein anderes Wort für »Sufi«. Beim zweiten Gang zum Markt nahm, ganz nach der Absicht seines Lehrers Nasrudin, die Bürde des Esels durch die aufgeladene Wolle zu. Für die Zeitdauer des Weges zum Markt ist die Last zwar größer, aber das Endergebnis ist besser: Nasrudin kann die schwerere feuchte Wolle zu einem besseren Preis verkaufen als die trockene Wolle. Ein anderer Witz, der sich auch im Don Quijote von Cervantes wiederfindet, bleibt ein Witz, auch wenn der sufische Ausdruck »Furcht« hier nur übersetzt, nicht aber erklärt ist: »Ich werde Dich aufhängen lassen «,sagt ein grausamer und unwissender König zu Nasrudin, »wenn Du mir nicht beweist, daß Du wirklich die außergewöhnliche Wahmehmungsfähigkeit besitzt, deren man Dich rühmt.« Nasrudin entgegnet sofort, er sähe einen goldenen Vogel am Himmel und Dämone in der Erde. »Erstaunlich«, sagt der König, »wie machst Du das bloß- »Furcht«, entgegnet der Mulla, »ist alles, was man dazu braucht.« »Furcht« steht im sufischen Vokabular für eine Aktivierung des Bewußtseins, die zu außersirrnlichen Wahrnehmungen führen kann. Dies ist ein Gebiet, auf dern der formale Intellekt nicht gebraucht wird und statt dessen andere Fähigkeiten des Bewußtseins zum Zuge kommen. Und doch gelingt es Nasrudin auf einzigartigeWeise,gerade das Maschenwerk der Intellektualität für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Ein Echo dieser bewußten Absicht findet sich in der Legende des \Tasrudin. Dort wird erzählt, daß Hussein, der Begründer des Systems, seinen erwählten Gesandten Nasrudin aus den Klauen des »Alten Schurken« entführt habe. Der »Alte Schurke« ist das unausgereifte Denksystem, in dem fast alle von uns leben. »Hussein« verbindet sich im Arabischen mit der Vorstellung der Tugend. »Hussein« bedeutet »Stark, schwer zugänglich«. Als Hussein schon die ganze Welt nach einem Lehrer abgesucht hatte, der seine Botschaft durch die Generationen weitertragen sollte und er der Verzweiflung nahe war, stieß er auf eine aufgeregte Menschenmenge. Der Alte Schurke schalt gerade einen seiner Schüler, weil er Witze erzählt hatte. »Nasrudin «, donnerte der Schurke, »wegen Deines ungehörigen Verhaltens verdarnme ich Dich zu weltweiter Lächerlichkeit. Fortan sollen überall, wo man eine Deiner absurden Geschichten erzählt, gleich sechs weitere vorgetragen werden, so daß Du für alle klar als lächerliche Gestalt erkennbar bist«. Man glaubt, der mystische Effekt von sieben Nasrudin-Geschichten, die man hintereinander ergründet, sei genug, um einen Menschen auf die Erleuchtung vorzubereiten. Hussein, der die Szene belauscht hatte, erkannte, daß aus jeder Situation ihr eigenes Heilmittel erwächst. Hier hatte er eine Gelegenheit, die Missetaten des Alten Schurken ins rechte Licht zu rücken. Er würde die Wahrheit gerade durch Nasrudin bewahren lassen. Er rief Nasrudin in einem Traum zu sich und übertrug ihm einen Teil seiner baraka, jener sufischen Kraft, die die rein wörtliche Bedeutung einer Aussage durchtränkt. So wurden alle Geschichten über Nasrudin zum Werk einer »unabhängigen« Kunst. Sie konnten als Witz verstanden werden und sie hatten eine metaphysische Bedeutung. Sie waren unendlich komplex und hatten Anteil am Wesen der Ganzheit und Vollkommenheit, die dem menschlichen Bewußtsein durch die Machenschaften des Alten Schurken geraubt worden waren. Aus der Sicht eines unentwickelten Menschen hat baraka viele »magische« Eigenschaften - im wesentlichen ist sie jedoch nur die Einheit, der Nährboden, die Substanz der objektiven Wahrheit. Eine ihrer Eigenschaften ist, daß jeder-mann, der mit baraka ausgestattet ist, oder jedes Objekt, das damit in Berührung kommt, einen Anteil davon bewährt, ganz gleich wie stark es durch Einwirkung unerleuchteter Menschen verändert wird. Deshalb bringt die bloße Nacherzählung eines Nasrudin-Streiches ein wenig baraka mit sich; darüber nachzusinnen, bringt noch mehr. »Durch diese Methode wurden die Lehren des Nasrudin aus der Linie des Hussein für ewig in ein Vehikel eingeschmolzen, das niemals zu völliger Unwirksamkeit verstümmelt werden kann. Genau wie alles Wasser dem Wesen nach Wasser bleibt, so gibt es in jeder NasrudinErfahrung ein nicht reduzierbares Minimum an baraka, das reagiert, wenn es angerührt wird,und wächst, wenn man es beansprucht.« Dieses Minimum ist die Wahrheit und durch die Wahrheit das währe Bewußtsein Nasrudin ist der Spiegel, in dem man sich selbst sieht. Anders aber als bei einem gewöhnlichen Spiegel, fällt in diesen um so mehr vom Bild des währen Nasrudin, je länger man hineinsieht. Man vergleicht diesen Spiegel auch mit dem berühmten »Becher des Jamschid« des persischen Helden; in diesen Becher, der das gesamte Universum widerspiegelt, schaut der Sufi Da der Sufismus nicht auf künstlichem Verhalten, den äußerlichen Details von Verhafrensmustern aufbaut, sondern auf dem allumfassenden Detail, muß man die NasrudinGeschichten ebenso erfähren wie darüber nachdenken. So wird die Erfahrung einer jeden Geschichte zur »Heimkehr« des Mystikers beitragen. Eines der ersten Anzeichen der Entwicklung zur »Heimkehr« ist das Auftreten erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit beim Sufi. Sie wird ihn zum Beispiel befähigen, eine Situation intuitiv zu begreifen und nicht durch forrnale Gehirn-tätigkeit. Seine daraus resultierenden Handlungen mögen deshalb Beobachter verblüffen, die auf der gewöhnlichen Ebene des Bewußtseins erfahren; die Ergebnisse werden trotzdem richtig sein Eine Nasrudin-Geschichte zeigt, wie der Sufi durch einen besonderen Mechanismus (für den Uneingeweihten die »falsche Methode«) zu richtigen Ergebnissen kommt. Sie erklärt manches der scheinbaren Absonderlichkeiten der Sufis Vor Nasrudin, der das Amt des Friedensrichters bekleidete, erschienen zwei Männer. Der eine beklagte sich: »Dieser Mann hat mir ins Ohr gebissen - ich verlange SchmerzensgeldDer andere behauptete: »Er hat sich selbst gebissenNasrudin ordnete eine Verhandlungspause an und zog sich in seine Gemächer zurück. Dort verbrachte er eine halbe Stunde mit dem Versuch, sich selbst ins Ohr zu beißen. Alles,was er erreichte ,war, daß er bei dem Versuch vornüber fiel und sich an der Stirn eine Beule schlug. Er kehrte in den Gerichtssaal zurück. »Man untersuche den gebissenen Mann «,beschied er. »Hat er eine Beule auf der Stirn, so hat er sich selbst gebissen, und die Klage ist abgewiesen. Wenn nicht, dann hat es der andere getan, und der Gebissene erhält drei Silbersrücke SchmerzensgeldDurch eine scheinbar unlogische Methode war Nasrudin zum richtigen Urteilsspruch gekommen. In diesem Fall kommt der Mulla ungeachtet der offensichtlichen Logik der Situation zum richtigen Ergebnis. In einer anderen Geschichte übernimmt er selbst die Rolle des Tölpels - den »Pfad des Tadels« nennt der Sufi das - und demonstriert so in extremer Form das gewöhnliche menschliche Denken Jeraand forderte Nasrudin auf, zu raten, was er in der Hand halte. »Gib mir einen Hinweis «, sagt der Mulla »Ich gebe Dir gleich ein paar«, sagte der Spaßvogel. »Es hat die Form eines Eis, ist so groß wie ein Ei, sieht aus, schmeckt und riecht wie ein Ei. Das Innere ist gelb und weiß; es ist flüssig, aber wenn man es kocht, wird es fest. Es wurde zudem von einer Henne gelegt.d... »Ich habs!« unterbrach ihn der Mulla. »Es ist eine Art KuchenIch habe in London einmal ein ähnliches Experiment gemacht. In drei Tabak-laden hintereinander fragte ich nach »Papierzylindern, die mit Tabak teilchen gefüllt sind, ungefähr acht Zentimeter lang, in Schachteln abgepackt, die wahrscheinlich bedruckt sindKeiner der Verkäufer, die den ganzen Tag lang Zigaretten verkauften, konnte sich vorstellen, was ich wollte. Zwei schickten mich woanders hin - der eine zu seinem Großhändler, der andere zu einem Geschäft, das auf exotische Importware für Raucher spezialisiert war. Das Wort »Zigarette« mag als Auslöser nötig sein, wenn man tabakgefüllte Papierzylinder bezeichnen will. Die Auslöser-Methode, die von Assoziationen abhängig ist, läßt sich jedoch dort nicht gebrauchen, wo es um den Gebrauch der Wahrnehmungsfähigkeit geht. Es ist halt ein Fehler, wenn man versucht, eine Form des Denkens - wie hervorragend sie auch an angemessenem Ort fünktionieren mag - auf einen anderen Zusammenhang zu übertragen und sie dort anzuwenden. Rurni erzählt eine Geschichte, die der NasrudinGeschichte über das Ei ähnelt, jedoch einen anderen wichtigen Gesichtspunkt betont. Der Sohn eines Königs war für einige Zeit in der Obhut mystischer Lehrer gewesen. Nun teilten seine Erzieher dem König mit, daf~ sie ihm nichts mehr beibringen könnten. Um ihn zu prüfen, fragte ihn der König, was er in seiner Faust verborgen halte. »Es ist rund, aus Metall und gelb«, sagte der Junge, »es muß ein Sieb seinDer Suflsmus legt auf eine ausgeglichene Entwicklung der inneren Währnehmungsfähigkeit und der gewöhnlichen menschlichen Verhaltensweisen Wert. Die Sufis leugnen die Vermutung, man sei schon deshalb wahrnehmungsfähig, weil man lebt. Ein Mensch mag klinisch leben, aber was seine Wahrnehmungsfähigkeit angeht tot sein. Logik und Philosophie werden ihm nicht helfen, wahrnehmungsfähiger zu werden. Ein Aspekt der folgenden Geschichte weist darauf hin: Der Mulla dachte laut vor sich hin. »Woher kann ich eigentlich wissen, ob ich tot bin oder lebe?« »Sei doch nicht solch ein Narr «, sagte seine Frau. »Wenn Du tot wärest, dann wären Deine Glieder kaltKurze Zeit später ging Nasrudin in den Wald, um Holz zu schlagen. Es war mitten im Winter. Plötzlich merkte er, daß seine Hände und Füße kalt waren. »Kein Zweifel, ich bin tot «,dachte er. »Ich muß sofort aufhören zu arbeiten; Leichen arbeiten schließlich nichtUnd da Leichen auch nicht herumlaufen, legte er sich auf die Erde. Bald erschien ein Rudel Wölfe und begann Nasrudins Esel anzugreifen, der an einem Baum gebunden war. »So ist's recht, macht nur so weiter, nutzt einen armen toten Mann aus«, sagte Nasrudin aus seiner horizontalen Lage. »Aber ich sage euch, wenn ich leben würde, dürftet ihr euch nicht solche Freiheiten mit meinem Esel herausnehmen!« Die Vorbereitung des sufischen Bewußtseins ist noch nicht ausreichend, solange der Mensch noch nicht weiß, daß er die Dinge selbst tun muß und meint, andere könnten sie ihm abnehmen. Nasrudin nimmt den noch nicht Erleuchteten unter die Lupe Eines Tages ging Nasrudin in den Laden eines Mannes, der allen möglichen Kram verkaufte »Haben Sie Leder?« »Ja.« »Und Nägel?« »Ja.« »Und Farbe?« »Ja.« »Warum machen Sie sich dann nicht selbst ein Paar SchuheDie Geschichte betont die Rolle des mystischen Lehrers, der im Sufismus so wichtig ist. Er zeigt dem angehenden Suchenden den Ausgangspunkt, von dem aus er selbst etwas für sich tun kann dieses »etwas« ist die »SelbstArbeit« unter Anleitung, die das hernusragende Merkmal des sufischen Systems ist. Der W~g des Sufi laßt sich nicht mit ungeeigneten Begleitern gehen. Nasrudin zeigt das in der Geschichte von der Einladung zu falscher Zeit: Der Mulla hatte bis spät in die Nacht mit seinen Freunden im Teehaus geredet. Als sie endlich aufhrachen, stellten sie alle fest, daß sie hungrig waren. »Kommt alle mit, Ihr könnt bei mir zuhause essensagte Nasrudin, ohne an die Folgen zu denken. Als die Gesellschaft fast schon bei seinem Haus angelangt war, fiel ihm ein, daß er doch seine Frau vorwarnen sollte. »Wartet hier, ich gehe ihr schnell Bescheid sagen«,bat er die anderen. Aber seine Frau sagte: »Wir haben nichts zu essen im Haus. Wie kannst Du nur all diese Leute einladenNasrudin ging ins Obergeschoß seines Hauses, um sich zu verstecken. Schließlich brachte der Hunger seine Gäste dazu, doch zum Haus zu kommen und anzuklopfen. Nasrudins Frau antwortete: »Der Mulla ist nicht zu Hause!« »Aber wir haben ihn doch durch die Haustür hineingehen sehen «, riefen sie. Für einen Augenblick wußte die Frau nicht, was sie sagen sollte Nasrudin, der den Wortwechsel von einem Fenster des Obergeschosses aus verfolgt hatte, konnte vor Besorgnis nicht mehr an sich halten. Er lehnte sich hinaus und rief: »Ich könnte ja schließlich zur Hinterrür wieder hinausgegangen sein, nicht wahr?« Etliche der Nasrudin-Geschichten heben hervor, daß der verbreitete Glaube, der Mensch habe ein stabiles Bewußtsem, falsch ist. Inneren und äußeren An-stößen ausgeliefert, wird das Bewußtsein fast jedes Menschen entsprechend seiner Stimmung und seinem Gesundheitszustand variieren. Während man diese Tatsache im täglichen Leben natürlich anerkennt, gesteht man sie in der formalen Metaphysik oder Philosophie nicht voll ein. Bestenfalls erwartet man vom einzelnen, daß er in sich selbst einen Bezugsrahmen von Ergebenheit und Beherrschtheit errichtet, von dem man erhofft, daß er die Erleuchtung oder Erfüllung herbeiführt. Im Surismus muß jedoch letztlich das gesamte Bewußtsein umgewandelt werden, von der Erkenntuis ausgehend, daß der unerleuchtete Mensch wenig mehr ist als Rohmaterial. Er hat keine feststehende Natur, keine Einlieitlichkeit des Bewußtseins. In sich allerdings trägt er eine »Essenz«. Diese ist jedoch nicht an sein gesamtes Sein gebunden, nicht einmal an seine Persönlichkeit. Niemand weiß schließlich automatisch, it?r er wirklich ist, auch wenn er sich in dem gegenteiligen Glauben wiegt. So auch Nasrudin: Der Mulla betrat eines Tages einen Laden Der Besitzer trat vor, um ihn zu bedienen. »Immer der Reihe nach «,sagte Nasrudin; »haben Sie mich Ihren Laden betreten sehen?« »Natürlich.« »Haben Sie mich je zuvor gesehen?» »Noch nie in meinem Leben.« »Wie können Sie mich dann erkennenSo gut diese Geschichte als reiner Witz auch sein mag, wer in ihr nur das Bild eines dümanlichen Menschen und keine tiefere Bedeutung entdeckt, wird kaum zu den Menschen gehören, die sich ihre inspirierende Kraft zunutze machen können. Man kann aus einer Nasrudin-Geschichte nur wenig mehr herausholen, als man hineingibt Ein Mensch, der sie nur für einen Witz hält, wird noch gehörig an sich selbst arbeiten müssen. Er wird in dem Gespräch über den Mond karikiert: »Was machen sie eigentlich mit dem Mond, wenn er alt ist«, fragte ein düminlieber Mensch den Mulla. Die Antwort gab der Frage nichts nach: »Sie zerschneiden jeden alten Mond und machen vierzig Sterne darausViele der Nasrudin-Geschichten heben die Tatsache hervor, daß Menschen, die nach mystischer Erfahrung suchen, oft erwarten, daß diese ihren eigenen Vorstellungen entspricht, und damit eine solche Erfahrung von vorneherein ausschließen. Niemand darf hoffen, Erleuchtung zu erlangen, wenn er glaubt, er wüßte schon, was Erleuchtung ist,und meint, sie sei auf einem genau abgesteckten Weg erreichbar, den er beim Aufbruch schon überblicken kann. Darum geht es in der Geschichte über die Frau und den Zucker Als Nasrudin Friedensrichter war, brachte eine Frau ihren Sohn zu ihm. »Dieser Junge «,sagte sie, »ißt zu viel Zucker. Ich kann es mir nicht leisten, ihm ständig so viel zu geben. Ich bitte Euch deshalb, ihm ofriziell zu verbieten, so viel zu essen; mir will er nicht gehorchenNasrudin sagte ihr, sie solle in sieben Tagen wiederkommen. Als sie wiederkam, verschob er seine Entscheidung um eine weitere Woche. »Jetzt «,sagte er dann zu dem Jungen, »verbiete ich dir, mehr als soundsoviel Zucker pro Tag zu essenDie Frau fragte ihn daraufhin, warum er so lange Zeit gebraucht hatte, um eine so einfache Anordnung treffen zu können »Sehen Sie, meine Dame, ich mußte erst herausilnden, ob ich selbst meinen Verbrauch an Zucker einschränken kann, bevor ich es jemand anderem befehle. Das Ersuchen der Frau basierte - ganz irn Stil des höchst mechanischen menschlichen Denkens - einfach auf gewissen Vermutungen. Die erste Vermutung war, daß man durch einfache Verordnungen Gerechtigkeit üben kann; die zweite, daß ein Mensch tatsächlich so wenig Zucker essen kann, wie sie es von ihrem Sohn verlangte; und die dritte, daß jemand einem anderen etwas vermitteln kann, von dem er selbst nicht betroffen ist Diese Geschichte ist nicht einfach eine Paraphrase der Forderung: »Tue was ich dir sage, und nicht was ich tueWeit davon entfernt, eine ethische Belehrung zu sein, formuliert sie eine unumgängliche Notwendigkeit Die sufische Lehre kann nur von einem Sufi vermittelt werden, nicht von einem Theoretiker oder einem intellektuellen Fürsprecher. Der Sufismus, bei dem es um den Einklang mit der wahren ~~irklichkeit geht, laßt sich niemals ganz zu dem machen, was wir für die Wirklichkeit halten, was aber eher eine grobe, kurzfristig gültige Faustregel ist. Wir neigen zum Beispiel dazu, die Dinge einseitig zu sehen. Wir nehmen auch ohne die geringste Berechtigung an, daß sich ein Ereignis wie in einem Vakuum abspielt. Tatsächlich jedoch sind alle Ereignisse mit allen anderen Ereignissen verknüpft. Nur wenn wir bereit sind, uns als in den Gesamtorganismus des Lebens eingebettet zu erfähren, können wir mit einer mystischen Erfahrung etwas anfangen. Betrachten wir irgendeine unserer eigenen Handlungen oder die irgendeines anderen Menschen, so wird sich herausstellen, daß sie von einem aus einer Unzahl möglicher Stimuli veranlaßt wurde; und auch, daß sie niemals eine isolierte Handlung ist - sie hat Konsequenzen, von denen wir viele nicht erwartet hätten und auch sicherlich nicht hätten vorausplanen können. Eine weitere Nasrudin-Geschichte verdeutlicht die Zirkularität der Wirklichkeit und die gewöhnlich unsichtbaren Wechselwirkungen, zu denen es kommt: Nasrudin wanderte eines Tages eine verlassene Straße entlang. Die Nacht brach gerade herein, als er einen Trupp Reiter erspähte, der ihm entgegenkam. Seine Phantasie begann zu spielen: er befürchtete, die Reiter könnten ihn aus-rauben oder in die Armee zwangsverpflichten. Seine Angst wurde so groß, daß er über eine Mauer sprang und sich auf einem Friedhof wiederfand. Die anderen Reisenden jedoch, der von Nasrudin unterstellten Absichten völlig unverdächtig, wurden neugierig und folgten ihm. Als sie ihn fanden, lag er regungslos am Boden. Einer der Reiter fragte: »Können wir Ihnen helfen - warum berinden Sie sich in dieser mißlichen LageNasrudin erkannte, daß er sich geirrt hatte, und entgegnete: »Das ist schwerer zu erklaren, als Sie annehmen. Sehen Sie, ich bin hier Ihretwegen - und Sie, Me sind meinetwegen hier. « Nur der Mystiker, der nach der tatsächlichen Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit scheinbar verschiedener oder unzusammenhängender Dinge in die Alltagswelt »zurückkehrt«, kann das Leben wirklich in diesem Sinne auffassen. Für den Sufi ist jede metaphysische Methode, die diesen Faktor nicht enthalt, eine rein konstruierte (äußerliche) Methode und nicht das Ergebnis dessen, was er als mystische Erfahrung bezeichnet. Die bloße Existenz einer solchen Methode verhindert, daß sie ihr gestecktes Ziel erreicht. Damit soll nun nicht gesagt sein, daß der Suii infolge seiner Erfahrungen der Wirklichkeit des oberflächlichen Lebens entfremdet wird. Er hat jedoch eine zusätzliche Dimension des Seins, in der er parallel zu den niederen Erkenntriisbereichen des gewöhnlichen Menschen operiert. Der Mulla faßt das kurz und bündig in folgender Geschichte zusammen. »Ich kann im Dunkeln sehen.« »Das mag ja sein, Mulla. Aber wenn es wahr ist, warum lauft Ihr dann manch-mal nachts mit einer Kerze herum?« »Damit die anderen Leute mich nicht umrennen.« Das Licht, das der Sufi trägt, mag also nur seine Anpassung an die Fähigkeiten der Menschen sein, in deren Mitte er nach seiner »Rückkehr« aus einer Dimension höherer Währnehmungsfähigkeit leben muß Nach seiner Umwandlung ist der Sufi ein bewußter Teil der lebendigen Wirklichkeit allen Seins. Das heißt, daß er die Dinge, die ihm selbst oder anderen geschehen, nicht mehr auf die eng begrenzte Art des Theologen oder Philosophen ansehen kann. Der Mulla wurde einmal gefragt, was denn Schicksal sei. Er sagte: iWas Du Schicksal nennst, ist bloß eine Annahme. Du nimmst an, daß etwas Gutes oder Schlechtes geschehen wird. Das tatsächliche Ergebnis nennst Du dann >Schicksal<.« Die Frage: »Sind Sie ein Fatalist?« kann man einem Sufi nicht stellen, denn er akzeptiert die bedeutungslose Vorstellung eines >Schicksals<, die in der Frage enthalten ist, erst gar nicht. Da der Sufi die vielen Verästelungen in der Tiefe eines Geschehnisses wahrnimmt, ist seine Einstellung zu einzelnen Ereignissen umfassend und nicht isoliert. Er kann nicht von künstlich isolierten Informationen ausgehend verallgemeinern. »Niemand kann dieses Pferd reiten«, sagte der König zu mir«, berichtet der Mulla, »aber ich bin in den Sattel gestiegen- »Und, was ist passiert- »Ich konnte es auch nicht in Bewegung setzen. « Diese Geschichte zeigt, daß eine scheinbar folgerichtige Gegebenheit sich verändert, wenn man ihre Grenzen innerhalb ihrer Dimension ausweitet Das sogenannte Problem der Kommunikation, dem man heute so viel Aufmerksamkeit widmet, geht von Vermutungen aus, die für den Suri unannehmbar sind. Der gewöhnliche Mensch sagt: »Wie kann ich mich einem anderen Menschen über die allereinfachsten Dinge hinaus mitteilenFür den Sufl »kann die Mitteilung von Dingen, die mitgeteilt werden sollen, nicht verhindert werden. Man braucht gar nicht erst nach einem geeigneten Mittel zu suchenIn einer der Geschichten spielen Nasrudin und ein Yogi die Rolle der gewöhnlichen Menschen, die sich in der Tat nichts mitzuteilen haben. An der Tür eines ungewöhnlich aussehenden Gebäudes sah Nasrudin eines Tages einen meditierenden Yogi sitzen. Der Mulla nahm sich vor, von dieser eindrucksvollen Gestalt etwas zu lernen, und begann ein Gespräch, indem er den anderen fragte, wer er sei und was er tate. »Ich bin ein Yogi«, sagte der Angesprochene, »und ich verbringe meine Zeit damit, mich um die Harmonie mit allen lebenden Wesen zu bemühen.« »Wie interessant«, sagte Nasrudin, »mir hat nämlich einmal ein Fisch das Leben gerettet. Der Yogi bat Nasrudin, sich ihm anzuschließen. Sein ganzes Leben lang habe er sich um eine Harmonisierung mit der Welt der Tiere bemüht, aber er habe niemals so engen Umgang mit ihnen pflegen können wie der Mulla. Als sie einige Tage zusammen meditiert hatten, bat der N'ogi den Mulla, ihm mehr über seine wunderbare Erfahrung mit dem Fisch zu erzählen, «wo wir uns jetzt doch besser kennen«. «Jetzt, da ich Dich besser kcnne«, sagte Nasrudin, »zweifle ich allerdings, ob Du Dir das, was ich berichten kann, zunutze machen kannstDer Yogi gab jedoch keine Ruhe. »Nun gut«, sagte Nasrudin. »Es stimmt schon, daß mir der Fisch das Leben rettete. Ich war zu der Zeit kurz vor dem Verhungern, und der Fisch reichte mir für drei TageDer Suri würde es nicht wagen, mit gewissen Fähigkeiten des Bewußtseins herumzuspielen, wie das in der sogenannten experimentellen Mystik üblich ist. Allerdings ist der Sufismus das Ergebnis einer Reihe folgerichtiger Expcrimente vor ungezählten Jahrhunderten, und er beschäftigt sich mit Phänomenen, die für den Empiriker noch immer unfaßbar sind: Nasrudin streute Brotkrumen um sein Haus herum aus. »Was machts Du dafragte ihn jemand. »Ich halte Tiger fern.« »Aber in dieser Gegend gibt es doch gar keine Tiger.« »Genau! Wirkt phantastisch, wasEine der zahlreichen Nasrudingeschichten, die wir im Don Qi Chote des Cervantes wiederfinden, warnt vor den Gefahren eines starren Intellektualismus: »Es gibt keine Frage, die sich nicht mit Hilfe meiner Lehrtneinung beantworten ließe «, behauptete ein Mönch, der gerade das Teehaus betreten hatte, in dem Nasrudin mit seinen Freunden saß. »Na, so etwas«, entgegnete der Mulla, »erst neulich hat mich närnlich ein Gelehrter mit einer unbeantwortbaren Frage herausgefordert.« »Wie schade, daß ich nicht dabei war. Nennt mir die Frage, und ich werde sie Euch beantworten.« »Nun gut, er sagte: Warum versuchst Du des Nachts in mein Haus einzudringen ?< « Die sufische Wahrnehmungsfühigkeit für Schönheit geht mit einer Kraft der Durchdringung einher, die weit über den Horizont gewöhnlicher Kunstformen hinausgeht. Eines Tages nahm ein Schüler Nasrudin mit, um ihm eine besonders schöne Seelandschaft zu zeigen, die er noch nicht kannte. »Herrlichrief er aus, »bloß, bloß . »Bloß was, Mulla?« »Wenn man da doch bloß kein Wasser reingefüllt hätteUm die mystische Verwirklichung zu erreichen, muß der Sufi begreifen, daß unser Bewußtsein nicht so arbeitet, wie wir uns das vorstellen. Zudem kann es sein, daß zwei Menschen sich gegenseitig nur verwirren Eines Tages bat der Mulla seine Frau, eine große Menge ha/wo (eine schwere Süßspeise) zu machen, und gab ihr alle Zutaten. Erfast alles auf. Mitten in der Nacht weckte Nasrudin seine Frau »Ich hatte gerade einen äußerst wichtigen Gedanken.« »Erzahl !« »Bring mir erst den Rest des ha/wo, dann werde ich Dir davon erzählenSie brachte die Speise und fragte ihn erneut. Der Mulla verspeiste erst einmal das restliche ha/wo. »Der Gedanke«, sagte er dann, »war: >Gehe niemals schlafen, ohne das ha/wo, das an diesem Tag gemacht wurde, restlos aufzuessen.<« Nasrudin ermöglicht es dem suchenden Sufi, zu erkennen, daß die formalen Vorstellungen, die man gewöhnlich von Raum und Zeit hat, nicht unbedingt auch auf dem weiteren Gebiet der wahren Wirklichkeit gültig sind. Menschen zum Beispiel, die glauben, daß sie jetzt für vergangene Taten belohnt werden und in Zukunft die Früchte zukünftiger Handlungen ernten werden, können keine Sufis sein. Der Zeitbegriff des Sufi beruht auf Wechselwirkung - ist ein Kontinuum. Die klassische Geschichte vom Badehaus karikiert dies auf eine Weise, die uns etwas von der zugrundeliegenden Vorstellung ahnen laßt: Nasrudin besuchte ein türkisches Bad. Da er in Lumpen gekleidet war, behandelten ihn die Diener von obenherab und gaben ihm ein schäbiges Handtuch und einen winzigen Rest Seife. Beim Verlassen des Badehauses drückte er den verblüfften Bademeistern eine Goldmünze in die Hand. Am nächsten Tag erschien er wieder, prächtig gekleidet, und wurde natürlich mit größter Aufmerksamkeit und Hochachtung behandelt. Nach dem Bade überreichte er den Badewärtern die kleinste Kupfermünze, die es gab. »Dies«, sagte er, »ist für Euere Bedienung beim erstenmal. Die Goldmünze war für Eure Behandlung bei diesem Mal«. Die Überreste des Schablonendenkens sowie eine deutliche geistige Unreife lassen viele Menschen versuchen, sich nur unter von ihnen selbst gestellten Bedingungen Zugang zur Mystik zu verschaffen. Das erste, was dem Schüler beigebracht wird, ist, daß er zwar eine Ahnung von dem haben mag, was er -braucht, und daß er erkennen mag, daß er es nur durch Schulung und die Arbeit unter einem Meister erlangen kann; aber darüber hinaus kann er keine Bedingungen stellen. Die folgende Nasrudin-Geschichte soll diese Wahrheit vennitteln: Eine Frau brachte ihren kleinen Sohn in die Schule des Mulla. »Bitte jagt ihm doch ein wenig Angst ein «, sagte sie, »ich weiß nicht, wie ich ihn sonst bändigen sollNasrudin verdrehte die Augen, begann zu ächzen und schnauben, sprang im Zimmer herum und trommelte mit den Fäusten auf den Tisch, bis die Frau vor Schrecken in Ohnmacht fiel. Dann rannte er aus dem Zimmer. Als er zurückkehrte, hatte die Frau das Bewußtsein wiedererlangt und beschwerte sich: »Ich bat Euch, den Knaben das Fürchten zu lehren, nicht mich!« »Meine Dame «,entgegnete der Mulla, «die Gefahr bevorzugt niemanden. Wie -Ihr seht, habe ich mich sogar selbst erschreckt. Wenn Gefahr droht, dann bedroht sie alle gleichDer sufische Lehrer kann seinem Schüler auch nicht nur eine kleine Menge Sufismus liefern. Sufismus ist eine Ganzheit, und er bringt immer alle Implikationen der Ganzheit mit sich. Es gibt da keine Zerstückelung des Bewußtseins, wie sie der Unerleuchtete unter dem Namen «Konzentration« in seinem eigenen Vorgehen anwenden mag. Nasrudin macht sich oft über die Dilettanten lustig, die immer hoffen zu lernen, wie man ein tiefes Geheirnnis des Lebens stiehlt, ohne dafür bezahlen zu mussen: Es sah so aus, als würde das Schiff jeden Moment sinken, und die Passagiere ,lagen auf den Knien, beteten und bereuten ihre Sünden und gelobten, alle möglichen Dinge zu tun, wenn sie nur gerettet würden. Allein Nasrudin war ungerührt. Plötzlich auf dem Höhepunkt der Panik sprang er auf und rief: »Sachte, sachte Freunde! Versprecht nicht zu viel - ihr könnt die Alten bleiben. Ich glaube, ich sehe Land!« Irrrrner wieder hämmert uns Nasrudin den wesentlichen Punkt ein, daß man nicht durch eine Umordnung der gewohnten Vorstellungen zur mystischen Erfahrung und Erleuchtung gelangt, sondern nur über eine Erkenntnis der Grenzen des gewöhnlichen Denkens, das nur weltlichen Zwecken dienen kann. Die Geschicklichkeit, mit der er das tut, übertrifft alle anderen bestehen-den Lehrmethoden Eines Tages betrat Nasrudin ein Teehaus und verkündete: »Der Mond ist nützlicher als die SonneMan ftagte ihn, warum. »Weil wir in der Nacht das Licht nötiger brauchenDie Beherrschung des »Gebieterischen Ich«, um die der Sufi kämpft, läßt sich nicht einfach durch eine Kontrolle der eigenen Leidenschaften erreichen. Man versteht sie als eine Zähmung des ungebändigten Bewußtseins, das glaubt, es könne sich von allem (einschließlich der Mystik) das nehmen, was es braucht, und es zu seinen eigenen Zwecken zurechtbiegen. Die Tendenz, Materialien jeglicher Herkunft zum eigenen Nutzen zu verwenden, ist im Rahmen der in Teilbereichen vollständigen Welt des gewöhnlichen Lebens verständlich, aber -/,,sie laßt sich nicht in die größere Welt der wahren Erfüllung hinübertragen. In der Geschichte vom diebischen Vogel trägt Nasrudin gerade ein Stück Leber und das Rezept für eine Leberpastete nach Hause. Plötzlich stößt ein Raubvogel herab und reißt ihm das Fleisch aus der Hand. Nasrudin ruft dem davonfliegenden Vogel nach: »Dummer Vogel! Gut, die Leber hast du, aber was machst du ohne das RezeptAus der Sicht des Raubvogels ist die Leber natürlich genug, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das Ergebnis mag ein satter Vogel sein, aber er bekommt nur das, was er glaubt zu brauchen, nicht was hätte sein können Da die anderen Menschen den Sufi nicht immer verstehen, werden sie versuchen, ihn zu dem zu machen, was sie für richtig halten. In einer anderen - NasrudinGeschichte über einen Vogel (sie erscheint auch in dem poetischen ~~~~~~~~~~~~ des Rumi, dcm Mothnawi) findet der Mulla einen königlichen Falken auf seinem Fenstersims hocken. Er hat noch nie so eine komische »Taube« gesehen. Nachdem er seinen aristokratischen Schnabel geradegeschnitten und seine Krallen gestutzt hat, laßt er ihn mit den Worten frei -»frt~ siehst du schon eher nach einem Vogel aus. Irgend jemand muß dich vernachlässigt habenDie künstliche Unterteilung von Leben, Denken und Handeln, die bei den gewöhnlichen menschlichen Unternehmungen so unerlaßlich ist, hat im Sufismus keinen Platz. Nasrudin will uns zeigen, daß diese Sicht eine Voraussetzung zum Verständnis des Lebens als einer Ganzheit ist. »In Milch gelöster Zucker durchdringt die gesamte MilchNasrudin und ein Freund wanderten eine staubige Straße entlang und wurden sehr durstig. Sie machten bei einem Teehaus halt und stellten fest, daß sie zusammen gerade noch genug Geld hatten, um ein Glas Milch zu kaufen. Der Freund sagte: »Trink Du Deine Hälfte zuerst, ich habe noch eine Prise Zucker, die ich in meinen Anteil hineintun will.« »Gib ihn jetzt hinein, Bruder, sodaß wir beide etwas davon haben«, sagte der Mulla. »Nein, es ist nicht genug, um ein ganzes Glas zu süßen.« Nasrudin ging in die Küche und kam mit einem Salzstreuer zurück. »Gute Nachricht, Freund. Ich trinke meine Hälfte mit Salz. Und es ist genug für das ganze Glas daAuch wenn wir in der praktischen, aber nichtsdestoweniger künstlichen Welt, die wir uns aufgebaut haben, annehmen, alles ginge >immer der Reihe nach< und es müsse für alles ein A bis Z geben, so sind diese Annahmen in der anders ausgerichteten metaphysischen Weh doch von wenig Nutzen. Der Suchende im Sufismus wird zu ein und derselben Zeit verschiedene Dinge auf ihren jeweiligen Ebenen der Wahrnehmung und Potentialität lernen. Dies ist ein weiterer Unterschied zwischen dem Sufismus und jenen Systemen, die auf der Annahme beruhen, daß man in einem Augenblick nur eine Sache lernen könne. Ein Derwisch-Lehrer geht auf diese vielfältige Beziehung zwischen Nasrudin und dem Suchenden ein. Die Geschichte, so sagt er, ist auf eine Art wie ein Pfirsich. Sie besitzt Schönheit, Nährwert und verborgene Tiefen - den Kern. Ein Mensch kann vom Äußeren emotional angeregt werden; er mag über den Witz lachen oder sich an der Schönheit erfreuen. Aber das ist nur, als hätte man sich den Pfirsich ausgeliehen. Alles, was man wirklich aufnimmt, ist Form und Farbe, vielleicht noch den Duft, die Größe und die Beschaffenheit der Oberfläche. »Du kannst den Pfirsich jedoch essen und Dir so einen weiteren Genuß verschaffen - seine Tiefe verstehen. Du kannst den Stein wegwerfen - oder ihn aufbrechen und einen köstlichen Kern darin finden. Er ist die verborgene Tiefe Er hat seine eigene Farbe, Größe, Form, Tiefe, seinen Geschmack und seine Funktion. Du kannst die Schalen dieser Nuß sammeln und mit ihnen ein Feuer nähren. Und auch wenn die Holzasche von keinem weiteren Nutzen ist, so ist der eßbare Anteil doch ein Teil von Dir gewordenSobald der Suchende ein gewisses Maß an Einsicht in die wahren Zusammenhänge allen Geschehens gewinnt, hört er auf, Fragen zu stellen, deren Beantwortung ihm einst unerläßlich schien, um sich einen Überblick verschaffen zu können. Außerdem erkennt er, daß eine Situation durch Ereignisse verwandelt werden kann, die dafür scheinbar unwichtig sind. Die Geschichte über die Decke macht das deutlich Nasrudin und seine Frau wachten eines Nachts auf, weil sich zwei Männer lautstark unter ihrem Fenster stritten. Sie schickte den Mulla nachzusehen, was denn los sei. Er warf sich seine Decke um die Schultern und ging nach unten. Als er sich aber den Männern näherte, entriß ihm einer die Decke - es war seine einzige-, und beide rannten davon. »Worum haben sie sich denn gestritten«, fragte seine Frau, als der Mulla ins Schlafzimmer zurückkam. »Offensichtlich ging es um meine Decke. Als sie die hatten, sind sie verschwunden. Ein Nachbar kam zu Nasrudin und wollte sich seinen Esel ausleihen »Ich habe ihn bereits verliehen«, sagte der Mulla. In diesem Moment hörte man den Esel im Stall schreien. »Da hinten höre ich ihn doch schreien.« »Also wem glaubst Du nun«, erwiderte Nasrudin, »mir oder einem EselDie Erfahrung djeser Dimension der Wirklichkeit ermöglicht es dem Sufi, Selbstsucht und die Anwendung des Mechanismus der Rationalisierung zu vermeiden - jener Denkmethode, die einen Teil des Bewußtseins einkerkert. Nasrudin demonstriert diesen Punkt mit aller Deutlichkeit, indem er für einen Moment die Rolle des typischen menschlichen Wesens spielt: Ein Bauer kam zum Mulla und sagte: »Dein Stier hat meine Kuh auf die Hörner genommen. Habe ich Anspruch auf Schadenersatz?« »Nein«, sagte der Mulla sofort, »der Stier ist nicht für seine Handlungen verantwortlich . « »Äh, Verzeihung«, sagte der schlaue Döffier, »ich habe es ganz verdreht dargestellt. Was ich meinte ist, daß Deine Kuh von meinem Stier aufgespießt wurde. Aber die Situation ist ja die gleiche.« »Da bin ich nicht so sicher«, sagte Nasrudin, »ich werde lieber mal in meinen Gesetzbüchern nachschlagen, um zu sehen, ob es einen Präzedenzfall dafür gibtDa das gesamte intellektuelle menschliche Denken in den Begriffen äußerlicher Vemünftelei Ausdruck findet, kehrt Nasrudin als der Sufi-Lehrer immer wieder dazu zurück, die Falschheit der verbreiteten Einschätzung der Dinge aufzuzeigen. Versuche, die mystische Erfahrung mit Wort oder Schrift auszudrücken, hatten nie Erfolg, denn »die, die wissen, brauchen das nicht, und die, die nicht wissen, kommen nicht ohne eine Brücke dorthin«. Zwei recht wichtige Geschichten werden im Zusammenhang der sufischen Schulung benutzt, um das Bewußtsein auf Erfahrungen außerhalb der üblichen Denkschablonen vorzubereiten. -In der ersten Geschichte wird Nasrudin von einem angehenden Schüler besucht. Der Mann kommt nach vielen Mühen bei der Hütte auf einem Berg an, in der der Mulla sitzt. Da er weiß, daß jede einzige Handlung des erleuchteten Sufi bedeutungsvoll ist, ftagt der Ankömmling Nasrudin, warum er sich in die Hände puste. »Um sie in dieser Kält ein bißchen zu wärmen, natürlichKurz danach schöpfte Nasrudin zwei Schalen Suppe ein und pustet auf seine eigene. »Warum tut Ihr das, Meisterfragt der Schüler. »Um sie zu kühlen, natürlich«, entgegnet der Lehrer Hier verlaßt der Schüler Nasrudin, da er einem Mann nicht länger trauen kann, der die gleiche Methode benutzt, um zu zwei ganz verschiedenen Ergebnissen zu kommen - zu Wärme und zu Kälte. Eine Sache mit ihren eigenen Mitteln zu untersuchen - den Geist mit den Mitteln des Geistes, die Schöpfung, wie sie dem geschaffenen, aber unentwikkelten Wesen erscheint - das ist nicht möglich. Ein Theoretisieren, das auf solch subjektiven Methoden beruht, mag kurzftistig oder für ganz bestimmte Zwecke nützlich sein. Für den Sufi stellen solche Theorien jedoch nicht die Wahrbeit dar. Wenn er offensichtlich auch in bloßen Worten keine Alternative anzubieten hat, kann er doch - und das tut er auch - diese Vorgehensweise übertreiben oder karikieren, um sie zu entlarven. Ist dies einmal geschehen, so steht die Tür zu einer Suche nach einem alternativen System der Einschatzung der Beziehungen zwischen den Phänomenen offen. »Von Tag zu Tag«, sagt Nasrudin zu seiner Frau, »bin ich erstaunter darüber, wie wirkungsvoll diese Welt aufgebaut ist - und zwar im allgemeinen zum Nutzen der Menschheit.« »Was meinst Du damit?« »Na, sieh Dir zum Beispiel die Kamele an. Warum, glaubst Du, haben sie keine Flügel?« »Ich habe keine Ahnung.« »Nun, dann stell Dir doch mal vor: wenn Kamele Flügel hätten, dann würden sie vielleicht auf unseren Dächern nisten, unseren Frieden stören, indem sie da oben herumtollen und uns ihr Wiedergekäutes auf den Kopf spuckenDie Rolle des Sufi-Lehrers wird in der Geschichte über die Predigt verdeutlicht. Sie zeigt (unter anderem, wie das in allen Nasrudin-Geschichten der Fall ist), daß man mit völlig unwissenden Menschen gar nicht erst anfangen kann. -Weiterhin, daß man die, die wissen, nicht zu lehren braucht, und schließlich, daß eine Gemeinde, in der es einige erleuchtete Menschen gibt, keinen Lehrer benötigt. Nasrudin wurde eingeladen, vor der Gemeinde eines nahe gelegenen Dorfes einen Lehrvortrag zu halten. Er stieg aufs Podium und begann: »Liebe Gemeinde, wißt Ihr, worüber ich jetzt sprechen werdeEin paar Halbstarke, die nur ihren Spaß haben wollten, brüllten: »Nein!« »Wenn das so ist«, sagte der Mulla würdevoll, »werde ich von dem Versuch, eine so unwissende Gemeinde zu unterweisen, Abstand nehmenNachdem die Dorfältesten von den Störenfrieden das Versprechen erhalten hatten, daß sie ihre Bemerkungen unterlassen würden, baten sie in der folgenden Woche Nasrudin, noch einmal zu ihnen zu sprechen. »Liebe Gemeindebegann er wieder, »wißt Ihr, worüber ich jetzt sprechen -werdeEinige Leute, die nicht wußten, wie sie reagieren sollten, da der Mulla sie herausfordernd anstarrte, murmelten »Ja.« »Wenn das so ist«, erwiderte Nasrudin, »dann brauch ich ja nichts mehr zu sagenUnd er verließ den Saal. Nachdem ihn erneut eine Abordnung der Dorfbewohner besucht und ihn angefleht hatte, es doch noch einmal zu versuchen, stellte er sich also ein drittes Mal vor die Versammlung. »Liebe Gemeinde! Wißt Ihr, worüber ich jetzt sprechen werdeDa er auf eine Antwort zu warten schien, riefen die Dörfler: »Einige von uns wissen es, und andere wissen es nicht.« »Wenn das so ist«, sagte Nasrudin schon irn Gehen, »dann sollen die, die wissen, es denen erzählen, die nicht wissenIm Sufismus kann man nicht an einem vorherbestimmten Punkt anfangen zu »arbeiten«. Man muß es dem Lehrer zugestehen, daß er den nach Erleuchtung Suchenden so führt, wie er es für richtig hält. Einst wandte sich ein junger Mann an Nasrudin und wollte wissen, wie lange man wohl brauche,um ein Sufi zu werden. Er nahm den jungen Mann mit ins Dorf. »Bevor ich Deine Frage beantworte, möchte ich, daß Du mich zu einem Musik lehrer begleitest, bei dem ich mich über Unterricht irn Lautenspiel erkundigen möchteIm Haus des Musikers angekommen, erkundigte sich Nasrudin über die Höhe des Lehrgeldes. »Drei Silberstücke für den ersten Monat. Danach dann ein Silberstück pro Monat.« »Ausgezeichnet«, rief der Mulla, »in einem Monat komme ich wiederDer sechste Sinn, den der Sufi erwirbt und den der Theoretiker für eine Art völliger Hellsichtigkeit, ein fast götthches Allwissen hält, ist keineswegs so etwas. Wie alle anderen Sinne hat auch er seine Grenzen. Seine Funktion ist nicht, den Wahren Menschen allwissend zu machen, sondern ermöglicht ihm, seine Aufgabe - ein reicheres Leben mit größerer Wahrnehmungs£ähigkeit -zu erfüllen. Er leidet nicht mehr unter dem Gefühl der Unsicherheit und Unausgefülltheit, das den anderen Menschen nur allzu vertraut ist. Die Geschichte ~~~~~ die Knaben und den Baum deutet einiges davon an: Ein paar spielende Knaben wollten Nasrudin seine Sandalen entführen. Als er die Straße entlangkam, scharten sie sich um ihn und sagten: »Mulla, auf diesen Baum kann niemand klettern!« »Aber natürlich kann man das«, sagte Nasrudin, »ich werde euch zeigen, wie man es machtEr wollte seine Sandalen schon auf dem Boden stehen lassen, aber eine innere Stimme warnte ihn, und so steckte er sie unter seinen Gürtel, bevor er zu klettern begann. Die Knaben waren enttäuscht. »Wozu nimmst Du denn Deine Sandalen mitriefen sie zu ihm hinauf »Wenn noch nie jemand auf diesen Baum geklettert ist, wie soll ich dann wissen, ob es da oben keine Straße gibtentgegnete der Mulla. Gebraucht der Sufi seine Intuition, so kann er seine Handlungen nicht allgemeinverständlich erklären. Der sechste Sinn ermöglicht es dem Menschen, der baraka besitzt, scheinbar gewisse Geschehnisse herbeizuführen. Diese Fähigkeit erlangt der Sufi durch andere Mittel als den Gebrauch formaler Verstandestätigkeit »Allah wird Dich entschädigen«, sagte Nasrudin zu einem Mann, der beraubt worden war. »Ich wüßte nicht, wie das wohl funktionieren soll«, sagte der Mann. Da führte Nasrudin ihn sogleich in eine nahe Moschee und sagte, er solle in einer Ecke warten. Dann begann er zu weinen und zu klagen und flehte Allah an, dem Mann seine zwanzig Silberstücke wieder zukommen zu lassen. Er schlug einen solchen Lärm, daß die in der Moschee Versammelten eine Kollekte machten und dem Mann die Summe aushändigten. »Du magst die Kräfte nicht verstehen, die in dieser Welt wirken«, sagte Nasrudin; »aber vielleicht wirst Du verstehen, was in Allahs Haus geschehen istAm Wirken der Realität teilzuhaben ist etwas ganz anderes als beobachtete Tatsachen intellektuell auszuwalzen. Um dies zu demonstrieren, brachte Nasrudin eines Tages einen Ochsen, ein schwerfälliges Arbeitstier, zu einem Pferderennen, bei dem alle gemeldeten Tiere zugelassen wurden. Jedermann lachte, denn schließlich weiß man ja, daß ein Ochse nicht besonders schnell laufen kann. »Unsinn«, sagte Nasrudin, »wenn man ihm nur die Gelegenheit gibt, wird er sicherlich sehr schnell laufen. Ihr hättet ihn mal als Kalb sehen sollen, wie er da gerannt ist. Gut, er hat zwar keine Übung und keine Gelegenheit zum Rennen gehabt, aber jetzt ist er voll ausgewachsen. Warum sollte er da nicht noch schneller rennenDie Geschichte bestreitet auch die gängige Meinung, daß ein Ding - oder ein Mensch-, nur weil es alt ist, deshalb auch besser sein müsse als etwas Junges. Als bewußte und lebendige Aktivität ist der Sufismus nicht an die Vergangenheit und an ehrwürdige Traditionen gebunden. JederSufi,der heutelebt,repräsentiert jeden Sufi der in der Vergangenheit gelebt hat oder jemals leben wird. Es existiert immer die gleiche Menge baraka, und eine undenkbar alte Tradition erhöht ihren Zauber nicht, der immer konstant bleibt. Eine weitere Ebene dieser Geschichte weist darauf hin, daß der Schüler (das Kalb) sich zu einem Wesen mit einer offensichtlich anderen Funktion (dem Ochsen) entwickeln kann, als der, die man erwartet hätte. Die Uhr laßt sich nicht zurückdrehen. Wer sich auf spekulative Theorie verlaßt, der kann sich nicht auf den Sufismus einlassen. Die Abwesenheit der intuitiven Fähigkeit im Menschen schafft gewöhnlich eine fast hoffnungslose Situation; viele Nasrudin-Geschichten weisen auf diese Tatsache hin. In der Geschichte über den Sack Reis spielt Nasrudin die Rolle des unsensiblen, gewöhnlichen Derwisch. Eines Tages hatte er eine Meinungsverschiedenheit mit dem Prior des Klosters, in dem er sich gerade aufhielt. Kurz darauf vermißte man einen Sack Reis. Nach Anordnung des Priors mußten sich alle in einer Reihe irn Hof aufstellen. Dann verkündete er, der Mann, der den Reis gestohlen habe, müsse einige Körner Reis in seinem Bart haben. »Das ist ein alter Trick, um den Schuldigen sich unwillkürlich an den Bart fassen zu lassen«, dachte der wahre Dieb und stand unbeweglich. Nasrudin jedoch dachte: »Der Prior will sich an mir rächen; er muß mir irgendwie ein paar Reiskörner in den Bart geschmuggelt haben- und so versuchte er, sie so unauffällig wie möglich aus seinem Bart zu wischen. Als seine Finger durch seinen Bart führen, merkte er plötzlich, daß die anderen ihnalleansahen. »Ich wußte doch irgendwie, daß er mich früher oder später in die Falle locken würde«, sagte Nasrudin. Was manche Menschen für »Vorahnungen« halten, ist manchmal nichts als das Produkt von Neurose und Phantasie Die grundsätzlich skeptische Einstellung zu metaphysischen Dingen ist du reh-aus nicht nur auf den Westen beschränkt. Auch irn Osten ist es nichts Ungewöhnliches, daß ein Mensch meint, als Schüler eines mystischen Schulungsweges würde er seiner Autonomie oder irgendwelcher anderen Dinge beraubt. Von solchen Menschen nehmen die Sufis für gewöhnlich keine Notiz. Sie haben noch nicht das Stadium erreicht, in dem sie erkennen, daß sie bereits die Gefangenen einer Tyrannei sind (der des Alten Schurken), die viel schlirnrner ist als alles andere, was sich eine mystische Schule für sie ausdenken könnte. In einer Nasrudin~eschichte kommt das sehr kurz und bündig zum Ausdruck: »Du, ich höre unten irn Haus einen Einbrecher«, flüsterte die Frau des Mulla eines Nachts. »Pssst! Kein Geräusch«, flüsterte er zurück. »Wir haben nichts, das er stehlen könnte. Aber wenn wir Glück haben, läßt er vielleicht etwas zurückNasrudin, der Einbrecher in viele leere Häuser, laßt immer etwas zurück -wenn die Hausbewohner es erkennen Im Sufismus sind praktische Methoden der Unterweisung von größter Wichtigkeit. Zum Teil deshalb, weil der Sufismus ein praktisches Unterfangen ist; zum Teil deshalb, weil der wirkliche Gehalt der Wahrheit bei den meisten Menschen nicht durch den Schleier der diskursiven Fähigkeiten hindurch-dringt, auch wenn sie zu allen möglichen Wahrheiten Lippenbekenntnisse ablegen. Eines Tages repaflerte Nasrudin gerade das Dach seines Hauses. Da rief ihn ein Mann auf die Straße benunter. Er stieg hinab und fragte den Mann, was er wolle. - »Geld.« »Warum hat Du mir das nicht gesagt, als Du mich gerufen hast.« »Ich schämte mich zu betteln.« »Komm mit hinauf aufs DachAuf dem Dach angelangt, beg~nn Nasrudin wieder Dachziegel zu verlegen. Der Mann hüstelte,undNasrudin sagte ohne aufzusehen: »Ich habe kein Geld für Dich.« »W~s! Das hättet Ihr mir auch sagen können, ohne mich hier aufs Dach zu schleppen!« »Wie hättest Du mich dann für das Herabsteigen entschadigen könnenDer Sufi durchschaut eine gaiiize Menge Dinge, die dem gewöhnlichen Menschen nicht aufgehen. Eine Allegorie wird zur Erklärung mancher der verblüffenden Verhaltensweisen der sufischen Eingeweihten herangezogen, die auf übersinnlichen Kräften beruhen. Für den Sufi sind diese nicht wunder-barer, als die gewöhnlichen Sinne es für den Laien sind. Wie sie genau fünktionieren, läßt sich nicht beschreiben; aber mit einer Allegorie laßt es sich andeuten. »Die Menschheit schläft«, sagte Nasrudin, als man ihm eines Tages bei Hof vorwarf, er sei eingeschlafen. »Der Schlaf des Weisen ist machtvoll, während die Wachheit des gewöhnlichen Menschen so gut wie zu nichts nutze istDer König war gekränkt. Am nächsten Tag, nach einem schweren Mahl, schlief Nasrudin wieder ein, und der König ließ ihn in einen Nebenraurn tragen. Als der Hofstaat sich zurückziehen wollte, brachte man Nasrudin, der noch immer schlummerte, in die Audienahalle zurück. »Ihr habt wieder geschlafen«, sagte der König. »Ich war so wach wie nötig.« »So? Na dann erzählt mir doch mal, was geschehen ist, während Ihr nicht in diesem Raum wartZum Erstaunen aller wiederholte der Mulla eine lange und vertrackte Geschichte, die der König vorgetragen hatte. »Wie konntet Ihr das wissen, Nasrudin?« »Ganz einfach«, entgegnete der Mulla. »Der Gesichtsausdruck des Königs verriet mir, daß er die alte Geschichte einmal wieder erzählen würde. Deshalb habe ich für die Dauer der Erzählung geschlafenIn der folgenden Geschichte werden Nasrudin und seine Frau als zwei gewöhnliche Menschen vorgestellt, als Mann und Frau, die sich doch nicht gegenseitig verstehen können, weil die gewöhnliche zwischenrnenschliche Kommunikation ungenau und unaufrichtig ist. Die Kommunikation zwischen Sufis ist von einer anderen Ordnung. Zudem ist es ein hoffnungsloses Unterfangen, die Plattheit und Falschheit der gewöhnlichen Kommunikation für mystische Zwecke gebrauchen zu wollen. Allerdings kombinieren die Sufis die verschiedenen Methoden der Kommunikation zu einem gänzlich anderen System von Signalen. Die Frau des Mulla hatte sich über ihn geärgert. Deshalb brachte sie ihm seine Suppe kochend heiß und warnte ihn nicht, daß er sich daran verbrühen könnte. Aber sie war selbst hungrig, und sobald die Suppe ausgeteilt war, nahm sie selbst einen kräftigen Schluck davon. Vor Schmerz traten ihr Tränen in die Augen, aber sie hoffte noch immer der Mulla würde sich verbrennen »Was ist denn los, Schatz«, fragte Nasrudin. »Ich dachte nur an meine arme alte Mutter. Als sie noch lebte, hat sie diese Suppe so gern gegessenNun nahm Nasrudin aus seiner Schale einen Schluck der brühend heißen Suppe. Tränen kullerten ihm in den Bart. »Aber Nasrudin, weinst Du?« »Ja, ich weine bei dem Gedanken, daß Deine alte Mutter, das arme Ding, tot ist - und so ein Miststück wie Dich im Land der Lebenden zurückgelassen hatVom Standpunkt der Wirklichkeit - also dem sufiseben Standpunkt - her gesehen, weisen andere metaphysische Systeme etliche schwere Mängel auf. Einige davon sollten wir in Betracht ziehen. Was ein Mystiker über seine Erfahrungen in Worten mitzuteilen hat, stellt fast immer eine unnötige Verzerrung der Tatsachen dar. Diese Verzerrung kann dazu noch von anderen Menschen eindrucksvoll genug nachgeplappert werden, um tiefschürfend zu erscheinen; sie hat in sich jedoch keine zur Erleuchtung führende Krafr. Für den Sufi geht es in der Mystik nicht darum, irgendwohin zu gehen, Erleuchtung zu erlangen und dann etwas davon mitzuteilen. Mystik ist für ihn ein Unterfangen, das mit seinem gesamten Dasein untrennbar verbunden ist und welches eine Verbindung zwischen der gesamten Menschheit und der zusätzlichen Dirnension der Erkenntnis herstellt. Alle diese Punkte - und einige mehr - werden gleichzeitig in einer NasrudinGeschichte verdeutlicht Der Mullä war aus der Residenz in sein Heirnatdorf zurückgekehrt. Die Dorfbewohner scharten sich um ihn, um zu hören, welche Abenteuer er zu berichtenhabe. »Ich will vorerst nicht mehr sagen«, verkündete Nasrudin, »als daß der König zu mir gesprochen hatEin erregtes Raunen ging durch die Menge. Der König hatte tatsächlich zu einem Einwohner ihres Dorfes gesprochen! Dieser Happen war für die Döffier mehr als genug. Die Menge zerstreute sich, und jeder ging, die wunderbare Nachricht zu verbreiten. Nur der Einf~ltigste blieb zurück und fragte den Mullä, was der König denn genau gesagt habe. »Nun, er sagte - und er sagte das ganz deutlich, damit Du's weißt, so daß jedermann es hören konnte - er sagte: >Geh mir aus dem Weg!<« Der Einfaltspinsel war mehr als zufrieden. Die Brust schwoll ihm vor Stolz. Hatte er nicht des Königs eigene Worte vernommen und den Mann mit eigenen Augen gesehen, an den sie gerichtet waren? Diese NasrudinGeschichte ist als populäre Legende sehr bekannt und beliebt, und ihre offensichtliche Moral spielt auf jene Menschen an, die sich selbst größer machen wollen, indem sie beiläufig hochgestellte Persönlichkeiten als ihre Bekannten erwähnen. Die sufische Bedeutung ist jedoch sehr wichtig für die Vorbereitung des Bewußtseins eines Derwischs auf tiefere Erfahrungen. Es ist interessant zu beobachten, welche Wirkung die NasrudinGeschichten auf die meisten Menschen haben. Jene, die die gewöhnlicheren Emotionen des Lebens vorziehen, halten im allgemeinen an ihrer offensichtlichen Bedeutung fest und bestehen darauf, sie als ~~itze zu betrachten. Daau gehören auch die Menschen, die kleine Büchlein mit Sammlungen der leichtverständlichsten Nasrudin-Späße zusammenstellen oder lesen. Sie fühlen sich sichtlich unwohl, wenn man ihnen die metaphysischen oder »unbequemen« Geschichten erzählt In einem seiner kürzesten Witze wendet sich Nasrudin an diese Leute: »Man sagt, Deine Witze seien voller verborgener Bedeutungen, Nasrudin Stimmt das?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil ich in meinem Leben auch nicht ein einziges Mal die Wahrheit gesagt habe - und es auch niemals werde tun könnenDer gewöhnliche Mensch mag - von der tiefen Weisheit der eigenen Worte überzeugt - behaupten, daß aller Humor in Wirklichkeit ernst zu nehmen sei; jeder Witz vermittele eine Botschaft auf philosophischer Ebene. Aber diese Botschafr ist nicht die des Nasrudin. Mit zynischem Humor, so mag man an-nehmen, kann man wie die griechischen Philosophen aufgewisse Absurditäten in unserem Denken und Handeln hinweisen. Aber auch dies ist nicht die Funktion von Nasrudin. Die umfassende Wirkung der Nasrudin-Geschichten geht wesentlich tiefer. Da sie alle in enger Beziehung zueinander stehen und zu der Form der Wirklichkeit, zu der uns die Sufis geleiten wollen, ist der Zyklus Teil des Gesamtzusammenhanges einer bewußten Entwicklung. Dieser Gesamt-zusammenhang ließe sich wohl kaum in die Gedankenschnipselchen des gewö hnlichen Humoristen oder die sporadischen satirischen Äußerungen der formalen Denker einbringen. Wird eine Nasrudin-Geschichte gelesen und verarbeitet, so geschieht etwas. Diese Bewußtheit des Geschehens und des Zusammenhanges ist der Kern des Sufismus. Als Antwort auf die Frage: »Welcher Methode fehit das sufische Elementantwortete Khoja Anis: »Ohne Zusammenhang gibt es keinen Sufismus; ohne Sein und Werden gibt es keinen Sufismus; ohne Wechselwirkung gibt es keinen SufismusEtwas von der Wahrheit läßt sich in Worten mitteilen. Besser noch, sie läßt sich teilweise durch die Wechselwirkung aus der Aktion der Worte und der Reaktion des Hörers übermitteln. Die su~scbe Erfahrung kommt jedoch durch einen Mechanismus zustande, der dort ansetzt, wo die Worte auffiören. Hier geht es um das Handeln, die »Arbeit mit(< einem Meister. Nasrudin illustriert dies in seiner berühmten »chinesischen« Geschichte. Er war nach China gegangen und hatte einen Kreis von Schülern um sich gesammelt, die er auf die Erleuchtung vorbereitete. Jene, die Erleuchtung er-langten, blieben vom gleichen Augenblick an seinen Vorlesungen fern. Eine Gruppe seiner noch wenig entwickelten Anhänger, die nach tieferer Einsicht strebten, reiste von Persien nach China, um dort ihre Schulung unter Nasrudin fortzusetzen. Nach dem ersten Lehivortrag, an dem sie teilgenommen hatten, empting er sie. »Warum, Mulla, sprecht Ihr über geheime Wörter, die wir ja verstehen, die Chinesen aber nicht? Es sind die Wörter namidanam und hichma/umnist, die auf persisch einfach nur heißen: Ich weiß nicht< und Niemand weiß<.« »Na, was soll ich denn sonst tun - den Leuten vielleicht die Hucke voll-lügenDie Sufis benutzen spezielle Ausdrücke,umwenigstens annähernd ein Äquivalent für Geheimnisse zu geben, die man nur erfahren, nicht aber verbalisieren kann. Bevor der Suchende bereit ist, zu der Erfahrung durchzubrechen, wird er durch den Gebrauch solcher >terniini technici< gerade vor dem Fehler bewahrt, ihrem Gehalt intellektuell nachspüren zu wollen. Der Sufismus, der selbst das Ergebnis einer bewußten Spezialisierung ist, hat erkannt, daß es keine Abkürzung auf dem Weg zur Erleuchtung gibt. Das heißt nicht, daß es sehr lange dauern muß, bis man Erleuchtung erlangt. Es heißt jedoch, daß der Sufi auf dem eingeschlagenen Pfad bleiben muß. Nasrudin spielt in einer Geschichte die Rolle eines Menschen, der einen Abkürzungsweg zur Erleuchtung sucht Es war ein wunderschöner Morgen und der Mulla war auf dem Heimweg. Warum, so dachte er sich, sollte er nicht eine Abkürzung durch das einladende Waldgebiet neben der staubigen Straße nehmen? »Was für ein Tag, ein Tag, an dem man Glück haben mußrief er aus und schlug sich seitlich in die Büsche. Aber im nächsten Moment fand er sich rücklings auf dem Boden einer verborgenen Grube wieder. »Nur gut, daß ich die Abkürzung genommen habe«, dachte er bei sich, als er so in der Grube lag. »Wenn schon inmitten einer so herrlichen Umgebung solche Gefahren lauern - wer weiß, in welche Katastrophe ich auf der unbequemen und ermüdenden Landstraße hineingeraten wäre?< Unter ähnlichen Voraussetzungen untersuchte der Mulla eines Tages ein leeres Vogelnest. »Was tut Ihr da, Mulla?« »Ich suche nach Eiern.« »Aber in dem Nest vom letzten Jahr sind doch keine Eier mehr!« »Da wäre ich nicht so sicher«, entgegnete Nasrudin; »wenn Du ein Vogel wärest und deine Eier schützen wolltest, würdest Du dann vor den Augen aller Leute ein neues Nest bauenAuch diese Geschichte über den Mulla taucht im Don Quijote wieder auf. Die Tatsache, daß man diesen Witz mindestens auf zwei verschiedene Weisen verstehen kann, mag den forrnalistischen Denker absehrecken. Dem Derwisch aber gibt er Gelegenheit, die Zweideurigkeit des Daseins zu begreifen, die durch das konventionelle menschliche Denken verschleiert wird. Das,was für den Intellektuellen die Absurdität dieser Geschichte ist, ist für den intuitiv wahrnehmungs£ahigen Menschen gerade ihre Stärke. Die Sufis treten manchmal durch Signale in Kontakt initeinander. Die Kommunikation kann sich einer Metliode bedienen, die einem auf gewöhnliche Weise konditionierten Geist nicht nur unbekannt sondern auch unverständlich sein mag. Das hindert allerdings in Schablonen denkende Menschen nicht daran, zu versuchen, einen Sinn m das hineinzubringen, was ihnen unsinnig erscheint. So kommen sie schließlich zur falschen Interpretation, auch wenn sie ihnen selbst plausibel erscheinen mag: Ein anderer Mystiker hielt Nasrudin auf der Straße an und deutete auf den Himmel. Er meinte: »Es gibt nur eine Wahrheit, die alles umfaßt.« Nasrudin war in Begleitung eines Gelehrten, der versuchte, den Sufismus rational zu begreifen. Er dachte sich: »Diese unheimliche Gestalt ist verrückt. Ob Nasrudin wohl irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen gegen ihn ergreifen wirdUnd wahrhaftig, der Mulla wühlte in seinem Tragesack und brachte ein aufgerolltes Seil zutage. Der Gelehrte dachte: »Ausgezeichnet, nun können wir den Wahnsinnigen ergreifen und binden, falls er gewalttätig wirdDie wahre Bedeutung von Nasrudins Geste war jedoch: »Der gewöhnliche Mensch versucht jenen Himmel mit Methoden zu erreichen, die genauso ungeeignet dazu sind wie dieses SeilDer »Verrückte« lachte und ging weiter. »Gut gemacht«, sagte der Gelehrte, »Sie haben uns vor ihm gerettetDas persische Sprichwort »Eine Frage über den Himmel - die Antwort über ein Seil« geht auf diese Geschichte zurück. Das Sprichwort wird von nichtsufischen Geistlichen oder Intellektuellen oft gerade mit gegenteiliger Absicht zitiert. Erkenntnis wird nicht ohne Anstrengungen erlangt - eine Tatsache, die im allgemeinen durchaus anerkannt ist. Aber die albernen Methoden, mit denen man solche Bemühungen plant und die Absurdität der Bemühungen selbst versperren jenen Menschen sehr wirkungsvoll den Weg zur Erkenntnis, die versuchen, ein System des Wissens von einem Gebiet auf ein anderes zu übertragen. Um Joghurt zu machen, fügt man einer größeren Menge Milch ein wenig altes Joghurt hinzu. Die Wirkung des bacillus bulgarcus, der in der Joghurt-Kultur enthalten ist, verwandelt mit der Zeit die ganze Menge in Joghurt. Einige Freunde sahen Nasrudin eines Tages auf den Knien neben einem Teich kauern; er fügte dem Wasser etwas altes Joghurt hinzu. Einer der Manner fragte: Was soll das denn werden, Nasrudin?« »Ich versuche, Joghurt zu machen.« »Aber so kann man doch kein Joghurt machen »Ja, ich weiß; aber man braucht bloß mal anzunehmen...!« Fast jedermann wird über die Dummheit des Mulla lächeln. Man sagt ja, daß viele Formen des Humors nur deshalb so vergnüglich sind, weil sie den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu sagen, daß sie sich nicht so dämlich anstellen würden wie die Person, über die sie lachen Millionen Menschen, die niemals auf die Idee kämen, aus Wasser Joghurt zu machen, würden doch versuchen, esoterisches Wissen mit gleichermaßen unnützen Methoden zu durchdringen. Eine Geschichte, die dem Mulla Nasrudin zugeschrieben wird, trägt viel dazu bei, zwischen der mystischen Suche an sich und jener Form zu unterscheiden, die auf geringeren ethischen oder formal-religiösen Kriterien beruht: Ein chinesischer Weiser soll zu Nasrudin gesagt haben: »Jeder Mensch muß sein eigenes Verhalten so beurteilen, wie er das anderer Menschen beurteilt Du mußt für andere etnpiinden, was du auch für dich selbst empiindest.« Dies ist keine Paraphrase des berühmten christlichen Wie du willst, daß man dir tue . ..<, wenn es auch um die gleiche Sache geht. Es handelt sich vielmehr um ein Zitat von Kungfutse, der 1 vor Christus geboren wurde. »Eine recht erstaunliche Bemerkung«, entgegnete der Mulla, »für jeden, der einmal einen Moment überlegt und erkennt, daß das, was ein Mensch für sich selbst wünscht, letzten Endes wahrscheinlich ebensowenig wünschenswert ist wie das, was er sich für seinen Feind, geschweige denn seinen Freund , wünscht.« »Was er für andere im Herzen tragen muß, ist nicht das, was er für sich selbst wünscht. Es ist das, was für ihn sein sollte, genauso wie es für alle anderen sein solfte. Was das ist, weiß man nur wenn man die innere Wahrheit kenntEine andere Version der Antwort Nasrudins sagt kurz und bündig: »Ein Vogel fraß giftige Beeren, und sie schadeten ihm nicht. Eines Tages hatte er eine Menge giftiger Beeren gesamrnelt, verzichtete aber auf sein Mahl und gab die Früchte seinem Freund, einem Pferd, zu fressenEin anderer Sufi-Meister, Amini von Samarkand, komrnentiert dieses Thema ebenso lakonisch, wie das auch Rumi vor ihm schon getan hat: »Ein Mensch wünschte, von einem anderen Menschen umgebracht zu werden. Naturlich wünschte er das auch allen anderen Menschen, schließlich war er ja ein guter Mensch. Der gute Mensch ist selbstverständlich der, der anderen wünscht, was er für sich selbst wünscht. Das einzige Problem ist, daß er das, was er sich wünscht, oft am allerwenigsten brauchtHier haben wir wieder die für den Sufismus typische Betonung jener Wirklichkeit, die der Ethik vorausgehen muß. Man darf eine Ethik nicht isoliert davon aufstellen und annehmen, sie habe universale Gültigkeit, wenn schon ganz einfache Überlegungen zeigen, daß dem nicht so ist. Man sollte die Nasrudin-Geschichten übrigens nicht als ein philosophisches System verstehen, welches die Leute dazu bringen will, ihre eigenen Ansichten fallenzulassen und seine Maximen zu übernehmen. Seinem ganzen Aufbau nach laßt der Sufismus sich nicht predigen. Es geht ihm nicht darum, andere Systeme zu unterminieren und einen Ersatz dafür oder ein plausibleres System anzubieten. Weil die sufische Lehre nur teilweise in Worten Ausdruck findet, kann sie nie mit philosophischen Systemen auf deren eigenem Gebiet wetteifern. Wollte man das versuchen, so versuchte man, den Sufismus mit etwas künstlich Konstruiertem zu vergleichen - und das ist einfach unmöglich. Nach ihrer eigenen Aussage kann man sich der Metaphysik nicht auf diesem Wege nähern. Der Sufismus benutzt den zusammengesetzten Anstoß, die Methode der »gestreuten« Aussäung. Der angehende Sufi mag von Nasrudin vorbereitet oder teilweise erleuchtet werden. Aber um zu »reifen«, muß er sich schon der praktischen Arbeit widmen und durch die Gesellschaft eines Meisters und anderer Sufis inspiriert werden. Alle anderen Bemühungen werden treffend durch den Spruch charakterisiert: Einen Kuß mit persönlichem Boten senden wollen<. Sicher, was ankommt, ist ein Kuß, aber nicht das, was es sein sollte. Akzeptiert man also den Sufismus als die Methode, durch die zum Ausdruck kommt, was die religiösen Lehrer forderten, wie kann dann ein Mensch, der em Sufi werden möchte, eine Quelle der Unterweisung finden - denn einen Lehrer braucht er. Der echte Meister kann nicht das Entstehen und Wachsen angeblich mystischer Schulen verhindern, welche Schüler annehmen und eine unechte Version erleuchteter Lehren weitertragen. Und noch weniger - das müssen wir ganz objektiv sehen - ist der Neuling in der Lage, zwischen einer falschen und einer echten Schule zu unterscheiden. »Die falsche Münze existiert nur, weil es so etwas wie wahres Gold gibt«, lautet ein Sufi-Ausspruch. Wie aber kann jemand, der darin nicht geübt ist, das Wahre vom Falschen unterscheiden? Rudimente der Fähigkeit, auf »wahres Gold« anzusprechen, bewahren den Anfanger davor, vollkommen im dunkeln zu tappen. Und der Lehrer, der die dem Schüler innewohnende Fähigkeit erkennt, wird in der Lage sein, sie als einen Kanal für die Übermittlung seiner Signale zu benutzen. Natürlich müssen in den frühen Stadien die vom Lehrer übermittelten Signale so angeordnet sein, daß sie für den groben und wahrscheinlich verzerrenden Wahrnehmungs apparat des Empfangers überhaupt erkennbar sind. Aber die Kombination dieser beiden Elemente ist Fundament genug für einen funktionierenden Aufbau. In diesem Stadium gibt hauptsächlich der Lehrer den Takt an. Etliche Nasrudin Geschichten zeigen, ganz abgesehen von ihrem unterhaltsamen Wert, die anfänglich scheinbar unvollständige Harmonie zwischen Lehrer und Schüler, welche die vorbereitende Phase kennzeichnet: Eine Gruppe angehender Schüler kam eines Tages zu Nasrudin und bat ihn, einen Lehrvortrag zu halten. »Nun gut «,sagte er, »folgt mir in den Vorlesungsraum!« Gehorsam folgten die Schüler in einer Reihe dem Mulla, der sich mit dem Rücken nach vorne auf einen Esel setzte und davon ritt. Zuerst waren die jungen Leute verwirrt, aber dann erinnerten sie sich daran, daß man auch die winzigste Geste eines Lehrers nicht in Frage stellen soll. Schließlich konnten sie jedoch die spöttischen Bemerkungen der gewöhnlichen Passanten nicht mehr ertragen. Der Mulla spürte, wie unwohl sie sich fühlten, blieb stehen und starrte sie an. Der Mutigste unter den Schülern nahm sich e~ Herz und sprach ihn an. »Mulla, wir verstehen nicht ganz, warum Ihr mit dem Rücken nach vorne auf dem Esel reitet.« >iGanz einfach «,entgegnete der Mulla. »Seht mal, ginget Ihr vor mir, dann wäre das mir gegenüber respektlos. Würde ich Euch andererseits den Rücken zukehren, so ließ ich es an Respekt Euch gegenüber mangeln. Dies ist der einzig mögliche Kompromiß. « Jemand, dessen Wahrnehmungsfähigkeit geschärft ist, erkennt in dieser und den anderen Nasrudin~Geschichten mehr als eine Dimension. Erfährt man diese Geschichten auf vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig, so ist das Endergebnis einer solchen Erfahrung die Aktivierung der innewohnenden Fähigkeit zu einer umfassenderen und objektiveren Erkenntnis, als sie durch die gewöhnliche mühsame und unbeholfene Denkmethode möglich gemacht wird. Der Suh zum Beispiel sieht in dieser Geschichte gleichzeitig Botschaften und Verweise auf andere Sphären des Seins, die ihm nicht nur auf seinem Weg weiterhelfen, sondern ihm auch brauchbare Informationen liefem. In geringem Ausmaß mag der im gewöhnlichen Denken Befangene (mutatis mutandis) wohl auch die verschiedenen Perspektiven erfahren, wenn er sie getrennt betrachtet. So kann zum Beispiel Nasrudin die Schüler im Auge behalten, während er verkehrtherum auf dem Esel sitzt. Es kümmert ihn nicht, was die anderen Leute von ihm denken, während die unreifen Schüler sich noch von der öffentlichen (und unwissenden) Meinung beeinflussen lassen. Er mag zwar mit dem Rücken nach vorne sitzen, aber er ist immer noch aufgesessen, während die Schüler laufen. Indem Nasrudin die Konventionen verletzt, ja, sich sogar der Lächerlichkeit preisgibt, zeigt er, daß er sich von den gewöhnlichen Leuten unterscheidet. Zudem kennt er den beschrittenen Weg bereits; er braucht nicht nach vorne zu schauen, um zu sehen, wohm er geht. Er kann außerdem in jener Stellung, die nach normalen Standards äußerst unbequem ist, sehr gut sein Gleichgewicht bewahren. Wieder einmal lehrt er durch sein Handeln und sein Sein, nicht durch Worte Solche Überlegungen, auf das Gebiet der Metaphysik übertragen und dort gleichzeitig wahrgenommen, stellen den einheitlichen und doch zusamiinengesetzten Anstoß der NasrudinGeschichte für das Bewußtsein des sich entwickelnden Mystikers dar Nasrudins List, die nötig ist, um durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen, in das uns der Alte Schurke verstrickt hat, kommt in den Geschichten wieder und wieder zum Vorschein. Seine scheinbare Verrücktheit ist charakteristisch für den Sufi, dessen Handlungen dem Betrachter unerklärlich sein und verrückt erscheinen mögen. Und eine Geschichte nach der anderen betont die Erkenntnis der Sufis, daß man nichts bekommt, ohne dafür zu bezahlen. Diese Bezahlung kann sich in einer der vielen Formen der Opferung darstellen - der Preisgabe von altgewohnten Meinungen, des Opferus von Geld oder gewissen Handlungsweisen. Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig, denn das Unterfangen des Suh ist nur dann möglich, wenn die Gebiete, in die die Reise gehen soll, nicht schon von Elementen besetzt sind, die eine solche Reise verhindern. Und doch, letzten Endes kommt Nasrudin immer irgendwie davon, ohne einen Pfennig bezahlen zu müssen. Das weist auf die Tatsache hin, daß die Verluste in den frühen Stadien der sufischen Entwicklung zwar wie ein »Bezahlen« aussehen mögen, daß der Suchende in Wirklichkeit aber gar nicht bezahlt. Das heißt, er zahlt nichts, das letztlich von Wert wäre. Der Sufi hat eine besondere Einstellung zum Geld. Sie hat wenig mit der platten philosophischen oder theologischen Auffassung zu tun, Geld sei die Wurzel allen Übels, oder Glaube und Reichtum schlössen sich gegenseitig aus. Eines Tages bat Nasrudin einen reichen Mann um etwas Geld. »Wozu braucht Ihr es denn?« »Ich will einen Elefanten kaufen.« »Wenn Ihr kein Geld habt, werdet Ihr nicht in der Lage sein, einen Elefanten zu unterhalten.« »Ich bat um Geld, nicht um RatschlägeDiese Geschichte spielt natürlich auf den Elefanten im Dunkeln an. Nasrudin braucht Geld für das »Werk«. Nasrudin erkennt, daß der Mann nicht in der Lage wäre nachzuvollziehen, wofür er das Geld wirklich ausgeben will; man muß ihm ein plausibles Finanzierungsprojekt vorlegen. Nasrudin benutzt das sufische Wort »Elefant«, um dies zu betonen. Natürlich begreift der reiche Mann nicht, worum es geht. Nasrudin ist arm; dies ist das gleiche Wort, das benutzt wird, um einen Menschen aus den Reihen der Sufis zu bezeichnen - Fakir. Er kommt zu Geld durch eine Methode und benutzt es auf eine Art und Weise, die für den formal Denkenden unverständlich ist: Eines Tages warf die Frau des Mulla ihm vor, daß er so arm sei »Wenn Du ein Gottesmann bist«, so sagte sie, »solltest Du um Geld beten. Ist das Dein Beruf, dann solltest Du dafür bezahlt werden, so wie jeder andere bezahlt wird.« »Na gut, ich werde sehen, was sich machen läßtNasrudin ging in den Garten und schrie so laut er konnte: »0 Herr, ich habe Dir all die Jahre gedient, ohne jemals ~idlen Nutzen davon zu haben. Nun meint meine Frau, ich sollte bezahlt werden. Darf ich Dich bitten, mir deshalb einhundert Goldstücke von meinem ausstehenden Gehalt zu zahlen - und zwar sofortEin Geizhals, der im Nachbarhaus wohnte, war zu jener Zeit auf dem Dach seines Hauses gerade damit beschäftigt, sein Geld zu zählen. Er wollte Nasrudin zum Narren halten und warf ihm einen Sack mit genau einhundert Dinaren vor die Füße. »Habe Dankrief Nasrudin und rannte ins Haus. Er zeigte die Münzen seiner Frau, und sie war tief beeindruckt. »Vergib mir«, sagte sie, »ich habe nie geglaubt, daß Du ein Heiliger bist. Aber jetzt sehe ich, daß es stimmt.« Wahrend der folgenden ein oder zwei Tage sah der Geizkragen, daß dem Mulla alle möglichen Luxusartikel ins Haus geliefert wurden. Das ging ihm nun doch zu weit, und er sprach an Nasrudins Tür vor »Wisse, guter Mann«, sagte der Mulla, »ich bin ein Heiliger! Also, was wünschest Du?« »Ich will mein Geld zurück. Ich habe den Sack mit Goldstücken hinabgeworfen, nicht Gott.« »Nun, Du magst das Instrument gewesen sein; aber ich bekam das Geld nicht etwa, weil ich Dich danach gefragt hätteDer Geizhals war außer sich. »Wir gehen sofort zum Friedensrichter, und da werden wir ja sehen, wer recht bekommtNasrudin stimmte zu. Sie hatten sich kaum auf den Weg gemacht, da sagte Nasrudin zu dem Geizkragen: »Ich bin in Lumpen gekleidet. Wenn ich so neben Dir vor dem Friedens richter erscheine, mag ihn unser Äußeres zu Deinen Gunsten voreingenommen machen.« »So, meinst Du «, fauchte der andere, »na bitte, nimm mein Gewand, ich werde Deines tragenEin paar Schritte weiter sagte Nasrudin: »Du reitest und ich bin zu Fuß. Wenn wir so vor dem Richter erscheinen, mag er dazu neigen, sich Deiner Meinung anzuschließen. »Ich weiß sowieso, wer diesen Fall gewinnen wird, egal wie er aussieht. Du kannst auf meinem Pferd reitenSo stieg Nasrudin auf das Pferd und sein Nachbar ging hinter ihm her. Als sie vor Gericht aufgerufen wurden, erklärte der Geizkragen dem Richter, was geschehen war. »Und was habt Ihr zu dieser Anklage zu sagen«, fragte der Richter den NlulIa. »Euer Ehren«, erwiderte Nasrudin, »dieser Mann ist nicht nur ein Geizhals, er leidet auch noch an Wahnvorstellungen. Er bildet sich ein, er hätte mir das Geld gegeben. In Wirklichkeit erhielt ich es von einer höheren Instanz. Es erschien diesem Mann nur so, als hätte er es mir gegeben.« »Das mag ja sein, aber könnt Ihr das auch beweisen?«, fragte nun der Richter. »Oh, nichts einfacher als das. Seine Besessenheit äußert sich auch darin, daß er glaubt, alle möglichen Dinge gehörten ihm, auch wenn das gar nicht stirriiiit: Fragt ihn doch bloß einmal, wem dieses Gewand gehört ... « Nasrudin hielt inne und faßte sich an das Gewand, das er trug. »Das ist meinsrief der Geizkragen. »Na bitte«, sagte Nasrudin, »fragt ihn auch, wessen Pferd ich ritt, als ich hier zum Gericht kam.« »Du bist auf meinem Pferd gerittenschrie der Kläger. »Die Klage ist abgewiesen«, beschied der Richter. Die Suris sehen das Geld als einen aktiven Faktor in der Beziehung zwischen den Menschen und zwischen Menschen und ihrer Umgebung an. Da die gewöhnliche Auffassung der Wirklichkeit recht kurzsichtig ist, verwundert es nicht, daß die Menschen ihr Geld üblicherweise auch wenig umsichtig einsetzen. Der Nasrudin-Witz über die Frösche sagt einiges über die verschiedenen Einstellungen zum Geld: Ein Passant sah, daß Nasrudin Geld in einen Teich warf, und fragte ihn, was er denn da tue. »Ich ritt auf meinem Esel. Er rutschte aus und glitt das Ufer dieses Teiches hinab. Es sah so aus, als würde er die Balance verlieren und hinabstürzen. Wir hätten beide wohl kaum einen schweren Sturz überlebt. Plötzlich begannen die Frösche im Wasser zu quaken. Das erschreckte den Esel so, daß er sich aufbäumte und wir dadurch zum Stehen kamen. »Sollten die Frösche nicht dafür belohnt werden, daß sie unser Leben gerettet habenWährend man gewöhnlich meint, dieser Witz zeige Nasrudin nur als einen Dummkopf, so spiegeln seine tieferen Schichten doch etwas von der Einstellung des Sufis zum Geld wider. Die Frösche stehen für die Leute, die nicht verstehen, mit dem Geld umzugehen. Nasrudin belohnt sie entsprechend der verbreiteten Meinung, daß auf eine gute Tat auch eine Belohnung folgt. Daß das Quaken der Frösche zufällig war - wenigstens scheinbar -, gehört auch zu den Dingen, die wir berücksichtigen müssen. So konnte man zumindest in einer Hinsicht den Fröschen im Gegensatz zu den gewöhnlichen Menschen keinen Vorwurf machen. Sie dachten wohl kaum daran, daß sie Geld gebrauchen könnten - um es weise oder sonstwie einzusetzen. Diese Geschichte wurde auch im Sinne des »Perlen vor die Säue werfen« benutzt. So von einem Suii als Antwort auf die Frage, warum er sein Wissen und seine Weisheit nicht allen und jedem zur Verfügung stelle, vor allem natürlich jenen Menschen, die sich ihm gegenüber gütig (so wie die Frösche) oder verständnisvoll (das, was man dafür hält) gezeigt hatten. Um die größeren Zusammenhänge des surischen Denkens zu verstehen und um auf W~genaußerhalb des Netzes, das der Alte Schurke über die Menschheit geworfen hat, Fortschritte machen zu können, muß man die Dimensionen kennenlernen, die Nasrudin uns zugänglich macht. Ist Nasrudin auch wie eine jener chinesischen Schatullen, mit einem Fach in einem Fach in einem Fach, so bietet er uns doch zahlreiche einfache Einstiegsmöglichkeiten in eine neue Art zu denken. Kennt man sich mit den NasrudinGeschichten aus, so vermag man auch viele der unzugänglicheren Türen zu den Texten und Praktiken der Sufis aufzuschließen In dem Maße, in dem die Wahrnehmungsfähigkeit zunimmt, wächst auch die Fähigkeit, den NasrudinGeschichten ihre nahrende Substanz zu entziehen. Sie geben dem Anfänger,was der Sufi einen »Stoß« nennt - einen gezielten Anstoß, der eine ganz bestimmte Wirkung hat und das Bewußtsein auf das Unterfangen des Sufismus vorbereitet. Als Nahrting angesehen,nenntman diesen Stoß des Nasrudin auch die Kokosnuß. Der Begriff stammt von dem sufischen Sprichwort her: »Ein Affe warf aus einem Baumwipfel eine Kokosnuß nach einem hungrigen Sufi und traf ihn am Bein. Der Sufi nahm die Nuß auf, trank die Milch, aß das Fleisch und machte aus der Nußschale einen BecherIn gewisser Weise erfüllen die Geschichten die Funktion des tatsächlichen Stoßes, der in einer der kürzeren NasrudinGeschichten vorkommt: Nasrudin drückte einem Knaben einen Krug in die Hand, befähl ihm vom Brunnen Wasser zu holen und versetzte ihm eine Ohrfeige. »Paß bloß auf, daß Du ihn nicht fallen laßtschrie er Jemand der die Szene mitangesehen hatte, sagte: »Wie könnt Ihr nur jemanden schlagen, der doch gar nichts falsch gemacht hat?« »Dir wäre es wohl lieber«, entgegnete Nasrudin, »wenn ich den Jungen erst schlage,nachdemer den Krug zerbrochen hat und sowohl Krug als auch Wasser verloren sind? Nach meiner Methode vergißt der Knabe seineAufgabe nicht, und Krug und Inhalt bleiben auch erhaltenDa der Sufismus ein umfassendes Werk ist, muß nicht allein der Suchende lernen, so wie im Fall dieses Knaben. Das Werk, ebenso wie der Krug und das Wasser, hat seine eigenen Regeln außerhalb der weltlichen Methoden von Kunst und Wissenschaft. Niemand kann sich aufmachen, den Pfad der Sufis zu gehen, solange er nicht die Voraussetzungen dazu besitzt. Versucht er es trotzdem, sind der Irrtums-möglichkeiten zu viele, als daß er eine Chance hätte, mit dem Wasser zurückzukommen, ohne den Krug zu zerbrechen. Manchmal haben die NasrudinGeschichten auch die Form von Aphorismen. Hier ein paar Beispiele: Es ist in Wirklichkeit nicht so. Die Wahrheit ist etwas, das ich nie sage. Ich beantworte nicht alle Fragen; nur jene, die die Alleswisser sich insgeheim selbst fragen. Läßt dein Esel jemanden deinen Mantel stehlen - stiehl seinen Sattel. Ein Muster ist ein Muster. Aber niernand würde mein Haus kaufen, dem ich einen Ziegelstein des Hauses zeige. Die Leute reißen sich darum, meinen langgereiften Essig zu probieren. Aber er wäre nicht vierzig Jahre alt, wenn ich sie ließe, oder? Um Geld zu sparen, habe ich meinen Esel daran gewöhnt, ohne Futter auszukommen. Unglücklicherweise wurde das Experiment durch seinen Tod unterbrochen. Und gerade kurz bevor er sich daran gewöhnt hatte, gar nichts mehr zu fressen! -Die Leute verkaufen für teures Geld sprechende Papageien. Niemand denkt auch nur für einen Moment daran, wie wertvoll erst ein denkender Papagei wäre.

(http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Dirk.Henke/4hsufi.htm)



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