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Viel Spaß beim Lesen! schrieb am 11.1. 2002 um 02:35:02 Uhr über

Potter

Band 1, Teil 7


Nicolas Flamel

Dumbledore hatte Harry davon überzeugt, besser nicht mehr nach dem Spiegel Nerhegeb zu suchen, und die restlichen Tage der Weihnachtsferien blieb der Tarnumhang zusammengefaltet auf dem Boden seines großen Koffers. Harry wünschte sich, er könnte genauso leicht das, was er im Spiegel gesehen hatte, aus seinem Innern räumen, doch das gelang ihm nicht. Allmählich bekam er Alpträume. Immer und immer wieder träumte er davon, wie seine Eltern in einem Blitz grünen Lichts verschwanden, während eine hohe Stimme gackernd lachte.
»Siehst du, Dumbledore hatte Recht, dieser Spiegel könnte dich in den Wahnsinn treiben«, sagte Ron, als Harry ihm von diesen Träumen erzählte.
Hermine, die am letzten Ferientag zurückkam, sah die 1 )Inge ganz anders. Sie schwankte zwischen Entsetzen und Enttäuschung. Entsetzen bei dem Gedanken, dass Harry Drei Nächte nacheinander aus dem Bett geschlüpft war und das Schloss durchstreift hatteWenn Filch dich erwischt hätte«), und Enttäuschung darüber, dass er nicht wenigstens herausgefunden hatte, wer Nicolas Flamel war.
Sie hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, Flamel jemals in einem Bibliotheksband zu finden, auch wenn Harry sich immer noch sicher war, dass er den Namen irgendwo gelesen hatte. Nach dem Ende der Ferien fingen sie wieder an zu suchen und in den Zehn-Minuten-Pausen die Bücher durchzublättern. Harry hatte sogar noch wemger Zeit als die andern, denn auch das Quidditch-Training hatte wieder begonnen.
Wood forderte die Mannschaft härter denn je. Selbst der Dauerregen, der nach dem Schnee eingesetzt hatte, konnte seine Begeisterung nicht dämpfen. Die Weasleys beschwerten sich, Wood sei vom Quidditch geradezu besessen, doch Harry war auf Woods Seite. Sollten sie ihr nächstes Spiel gegen Hufflepuff gewinnen, würden sie zum ersten Mal in sieben Jahren Slytherin in der Hausmeisterschaft überholen. Abgesehen davon, dass er gewinnen wollte, stellte Harry fest, dass er weniger Alpträume hatte, wenn er nach dem Training erschöpft war.
Eines Tages, während einer besonders nassen und schlammigen Trainingsstunde, hatte Wood der Mannschaft eine schlechte Nachricht mitzuteilen. Gerade war er sehr zornig geworden wegen der Weasleys, die immerzu im Sturzflug aufeinander zurasten und so taten, als stürzten sie von ihren Besen.
»Hört jetzt endlich auf mit dem Unfug!«, rief er. »Genau wegen so was verlieren wir noch das Spiel! Diesmal macht Snape den Schiedsrichter, und dem wird jede Ausrede recht sein, um Gryffindor Punkte abzuziehen.«
George Weasley fiel bei diesen Worten wirklich vom Besen.
»Snape ist Schiedsrichter?«, prustete er durch einen Mund voll Schlamm. »Wann hat der denn jemals ein Quidditch-Spiel gepfiffen? Er wird nicht mehr fair sein, falls wir die Slytherins überholen können
Die anderen Spieler landeten neben George und beschwerten sich ebenfalls.
»Ich kann doch nichts dafür«, sagte Wood. »Wir müssen einfach aufpassen, dass wir ein sauberes Spiel machen und Snape keinen Grund liefern, uns eins auszuwischen.«
Schön und gut, dachte Harry, doch er hatte noch einen Grund, warum er Snape beim Quidditch lieber nicht in seiner Nähe haben wollte ...
Wie immer nach dem Training blieben die anderen Spieler noch eine Weile beisammen und unterhielten sich, doch Harry machte sich gleich wieder auf den Weg in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors, wo er Ron und Hermine beim Schachspiel fand. Schach war das Einzige, bei dem Hermine immer verlor, und Harry und Ron waren der Meinung, das könne ihr nur gut tun.
»Sei mal einen Augenblick ruhig«, sagte Ron, als Harry sich neben ihn setzte. »Ich muss mich konzen -« Dann sah er Harrys Gesicht. »Was ist denn mit dir los? Du siehst ja furchtbar aus
Mit leiser Stimme, damit ihn niemand im Umkreis hören konnte, berichtete Harry den beiden von Snapes plötzlichem und finsterem Wunsch, ein Quidditch-Schiedsrichter zu sein.
»Spiel nicht mit«, sagte Hermine sofort.
»Sag, dass du krank bist«, meinte Ron.
»Tu so, als ob du dir das Bein gebrochen hättest«, schlug
Hermine vor.
»Brich dir das Bein wirklich«, sagte Ron.
»Das geht nicht«, sagte Harry. »Wir haben keinen Reserve-Sucher. Wenn ich passe, kann Gryffindor überhaupt nicht spielen
In diesem Moment stürzte Neville kopfüber in den Gemeinschaftsraum. Wie er es geschafft hatte, durch das Porträtloch zu klettern, war ihnen schleierhaft, denn seine Beine waren zusammengeklemmt, und sie erkannten sofort, dass es der Beinklammer-Fluch sein musste. Offenbar war er den ganzen Weg hoch in den Gryffindor-Turm gehoppelt wie ein Hase.
Allen war nach Lachen zumute, außer Hermine, die aufsprang und den Gegenfluch sprach. Nevilles Beine sprangen auseinander und zitternd rappelte er sich hoch.
»Was ist passiert?«, fragte ihn Hermine und schleppte ihn hinüber zu Harry und Ron, wo er sich setzte.
»Malfoy«, sagte Neville mit zitternder Stimme. »Ich hab ihn vor der Bibliothek getroffen. Er sagte, er würde nach jemandem suchen, bei dem er diesen Fluch üben könnte
»Geh zu Professor McGonagall!«, drängte ihn Hermine. »Sag es ihr
Neville schüttelte den Kopf.
»Ich will nicht noch mehr Schwierigkeiten«, murmelte er.
»Du musst dich gegen ihn wehren, Neville!«, sagte Ron. »Er ist daran gewöhnt, auf den Leuten herumzutrampeln, aber das ist noch kein Grund, sich vor ihn hinzulegen und es ihm noch leichter zu machen
»Du brauchst mir nicht zu sagen, dass ich nicht mutig genug bin für Gryffindor, das hat Malfoy schon getan«, schluchzte er.
Harry durchwühlte die Taschen seines Umhangs und zog einen Schokofrosch hervor, den allerletzten aus der Schachtel, die Hermine ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er gab ihn Neville, der kurz davor schien, in Tränen auszubrechen.
»Du bist ein Dutzend Malfoys wert«, sagte Harry. »Der Sprechende Hut hat dich für Gryffindor ausgewählt, oder? Und wo ist Malfoy? Im stinkigen Slytherin
Nevilles Lippen zuckten für ein schwaches Lächeln, als er den Frosch auspackte.
»Danke, Harry ... Ich glaub, ich geh ins Bett ... Willst du die Karte? Du sammelst die doch, oder
Neville ging hinaus und Harry sah sich die Sammelkarte der berühmten Zauberer an.
»Schon wieder Dumbledore«, sagte er. »Er war der Erste, den ich -«
Ihm stockte der Atem. Er starrte auf die Rückseite der Karte. Dann sah er Ron und Hermine an.
"Ich hab ihn gefunden!«, flüsterte er. »Ich hab Flamel gefunden! Hab euch doch gesagt, dass ich den Namen schon mal irgendwo gelesen hab. Es war im Zug hierher. Hört mal: >Professor Dumbledores Ruhm beruht vor allem auf Sieg über den schwarzen Magier Grindelwald im Jahre 1945, auf der Entdeckung der sechs Anwendungen für Drachenmilch und auf seinem Werk über Alchemie, verfasst zusammen mit seinem Partner Nicolas Flamel.<!«
Hermine sprang auf. Seit sie die Noten für die ersten Hausaufgaben bekommen hatte, war sie nicht mehr so begeistert gewesen.
»Wartet hier!«, sagte sie und rannte die Stufen zu den Mädchenschlafsälen hoch. Harry und Ron hatten kaum Zeit, sich ratlose Blicke zuzuwerfen, als sie schon wieder die Treppe heruntergeflogen kam, ein riesiges altes Buch in den Armen.
»Ich hab einfach nicht daran gedacht, hier drin nachzuschauen«, flüsterte sie erregt. »Das hab ich schon vor Wochen aus der Bibliothek ausgeliehen, leichte Lektüre
»Leicht?«, sagte Ron, doch Hermine hieß ihn, still zu sein, bis sie etwas nachgeschaut hatte, und begann, vor sich hin murmelnd, hastig die Seiten durchzublättern.
Endlich fand sie, was sie gesucht hatte.
»Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst
»Ist es uns jetzt erlaubt zu sprechen?«, sagte Ron brummig. Hermine überhörte ihn.
»Nicolas Flamel«, flüsterte sie aufgeregt, »ist der einzige bekannte Hersteller des Steins der Weisen
Das hatte nicht ganz die von ihr erwartete Wirkung.
»Des was?«, fragten Harry und Ron.
»Ach, nun hört mal, lest ihr beiden eigentlich nie? Seht her, lest das hier
Sie schob ihnen das Buch zu und Harry und Ron lasen:

Die alte Wissenschaft der Alchemie befasst sich mit der Herstellung des Steins der Weisen, eines sagenhaften Stoffes mit erstaunlichen Kräften. Er verwandelt jedes Metall in reines Gold. Auch zeugt er das Elixier des Lebens, welches den, der es trinkt, unsterblich macht.
Im Laufe der Jahrhunderte gab es viele Berichte über den Stein der Weisen, doch der einzige Stein, der heute existiert, gehört Mr. Nicolas Flamel, dem angesehenen Alchemisten und Opernliebhaber. Mr. Flamel, der im letzten Jahr seinen sechshundertundfünfundsechzigsten Geburtstag feierte, erfreut sich eines ruhigen Lebens in Devon, zusammen mit seiner Frau Perenelle (sechshundertundachtundfünzig).

»Seht ihr?«, sagte Hermine, als Harry und Ron zu Ende gelesen hatten. »Der Hund muss Flamels Stein der Weisen bewachen! Ich wette, Flamel hat Dumbledore gebeten, ihn sicher aufzubewahren, denn sie sind Freunde und er wusste, dass jemand hinter dem Stein her ist. Deshalb wollte er ihn aus Gringotts herausschaffen!«
»Ein Stein, der Gold erzeugt und dich nie sterben lässt«, sagte Harry. »Kein Wunder, dass Snape hinter ihm her ist! jeder würde ihn haben wollen
»Und kein Wunder, dass wir Flamel nicht in den jüngeren Entwicklungen in der Zauberei gefunden haben«, sagte Ron. »Er ist nicht gerade der jüngste, wenn er sechshundertfünfundsechzig ist, oder
Am nächsten Morgen, während sie in Verteidigung gegen die dunklen Künste die verschiedenen Möglichkeiten, Werwolfbisse zu behandeln, von der Tafel abschrieben, sprachen Harry und Ron immer noch darüber, was sie mit einem der Weisen anfangen würden, wenn sie einen hätten.
Erst als Ron sagte, er würde sich seine eigene Quidditchmannschaft kaufen, fiel Harry die Sache mit Snape und dem kommenden Spiel wieder ein.
»Ich werde spielen«, sagte er Ron und Hermine. »Wenn nicht, denken alle Slytherins, ich hätte Angst, es mit Snape aufzunehmen. Ich werd's ihnen zeigen ... das wird ihnen das Grinsen vom Gesicht wischen, wenn wir gewinnen
»Solange wir dich nicht vom Spielfeld wischen müssen«, sagte Hermine.

Je näher jedoch das Spiel rückte, desto nervöser wurde Harry, und mochte er noch so aufschneiderisch vor Ron und Hermine getan haben. Die anderen Spieler waren auch nicht gerade gelassen. Die Vorstellung, sie könnten Slytherin in der Hausmeisterschaft überholen, war traumhaft, denn seit fast sieben Jahren hatte das keine Mannschaft mehr geschafft, doch würde ein so parteiischer Schiedsrichter das zulassen?
Harry wusste nicht, ob er es sich nur einbildete, doch ständig und überall lief er Snape über den Weg. Manchmal fragte er sich sogar, ob Snape ihm vielleicht folgte und versuchte, ihn irgendwo allein zu erwischen. Die Zaubertrankstunden wurden allmählich zu einer Art wöchentlicher Folter, so gemein war Snape zu Harry. Konnte Snape denn eigentlich wissen, dass sie die Geschichte mit dem Stein der Weisen herausgefunden hatten? Harry konnte sich das nicht vorstellen - doch manchmal hatte er das fürchterliche Gefühl, Snape könne Gedanken lesen.

Am folgenden Nachmittag wünschten ihm Ron und Hermine viel Glück für das Spiel und Harry wusste, dass sie sich fragten, ob sie ihn jemals lebend wieder sehen würden. Das war nicht gerade tröstlich. Während Harry seinen Quidditch-Umhang anzog und seinen Nimbus Zweitausend aufnahm, hörte er kaum etwas von den ermutigenden Worten Woods.
Ron und Hermine hatten inzwischen einen Platz auf den Rängen gefunden, neben Neville, der nicht verstand, warum sie so grimmig und besorgt aussahen und warum sie ihre Zauberstäbe zum Spiel mitgebracht hatten. Harry hatte keine Ahnung, dass Ron und Hermine insgeheim den Beinklammer-Fluch geübt hatten. Auf die Idee gebracht hatte sie Malfoy, der ihn an Neville ausprobiert hatte, und nun waren sie bereit, ihn Snape auf den Hals zu jagen, wenn er auch nur die geringsten Anstalten machte, Harry zu schaden.
»Also, nicht vergessen, es heißt Locomotor Mortis«, murmelte Hermine, während Ron seinen Zauberstab den Ärmel hochschob.
»Ich weiß«, fauchte Ron. »Nerv mich nicht
Unten in der Umkleidekabine hatte Wood Harry zur Seite genommen.
»Ich will dich j« a nicht unter Druck setzen, Potter, aber wenn wir je einen schnellen Schnatz-Fang gebraucht haben, dann jetzt. Bring das Spiel unter Dach und Fach, bevor Snape anfangen kann, die Hufflepuffs zu übervorteilen.«
»Dort draußen ist die ganze Schule!«, sagte Fred Weasley, der durch die Tür hinausspähte. »Sogar - mein Gott - Dumbledore ist gekommen
Harrys Herz überschlug sich.
»Dumbledore?«, sagte er und stürzte zur Tür, um ihn mit eigenen Augen zu sehen. Fred hatte Recht. Dieser silberne Bart konnte nur Dumbledore gehören.
Harry hätte vor Erleichterung laut auflachen können.
Nun war er sicher. Snape würde jetzt, da Dumbledore zusah, nicht einmal den Versuch wagen, ihm etwas anzutun.
Vielleicht sah Snape deshalb so wütend aus, als die Mannschaften auf das Spielfeld liefen. Auch Ron hatte das bemerkt.
»Ich hab Snape noch nie so böse gucken sehen«, erklärte er Hermine. »Schau - weg sind sie. Autsch
Jemand hatte Ron gegen den Hinterkopf gestoßen. Es war Malfoy.
»Oh, tut mir Leid, Weasley, hab dich gar nicht gesehen
Mit breitem Grinsen sah Malfoy Crabbe und Goyle an.
»Frag mich, wie lange Potter sich diesmal auf seinem hält? Will jemand wetten? Wie wär's mit dir, Weasley?«
Ron antwortete nicht; Snape hatte Hufflepuff gerade einen Strafwurf zugesprochen, weil George Weasley einen von ihnen mit einem Klatscher getroffen hatte. Hermine, die alle Finger im Schoß gekreuzt hatte, schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen unablässig Harry nach, der wie ein Falke über dem Spiel kreiste und Ausschau nach dem Schnatz hielt.
»Weißt du eigentlich, wie sie die Leute für die Gryffindor Mannschaft aussuchen?«, sagte Malfoy ein paar Minuten später mit lauter Stimme, als Snape den Hufflepuffs schon wieder einen Strafwurf zusprach, diesmal ganz ohne Grund. »Sie nehmen Leute, die ihnen Leid tun. Seht mal, da ist Potter, der keine Eltern hat, dann die Weasleys, die kein Geld haben - du solltest auch in der Mannschaft sein, Longbottom, du hast kein Hirn
Neville wurde hellrot, drehte sich jedoch auf seinem Platz herum und sah Malfoy ins Gesicht.
»Ich bin ein Dutzend von deinesgleichen wert, Malfoy«, stammelte er.
Malfoy, Crabbe und Goyle heulten laut auf vor Lachen, doch Ron, der immer noch nicht die Augen vom Spiel abzuwenden wagte, sagte: »Gib's ihm, Neville.«
»Longbottom, wenn Hirn Gold wäre, dann wärst du ärmer als Weasley, und das will was heißen
Rons Nerven waren wegen der Angst um Harry ohnehin schon zum Zerreißen gespannt.
»Ich warne dich, Malfoy, noch ein Wort -«
»Ron!«, sagte Hermine plötzlich, »Harry -
»Was? wo
Harry war überraschend in einen atemberaubenden Sturzflug gegangen, und ein Stöhnen und jubeln drang aus der Menge. Hermine stand auf, die gekreuzten Finger im Mund, und Harry schoss wie eine Kugel in Richtung Boden.
»Du hast Glück, Weasley, Potter hat offenbar Geld auf dem Boden herumliegen sehen!«, sagte Malfoy.
Das war zu viel für Ron. Bevor Malfoy wusste, wie ihm geschah, war Ron schon auf ihm und drückte ihn zu Boden. Neville zögerte erst, dann kletterte er über seine Sitzlehne, um Ron zu helfen.
»Los, Harry!<x, schrie Hermine und sprang auf ihren Sitz, um zu sehen, wie Harry direkt auf Snape zuraste - sie bemerkte nicht einmal, dass Malfoy und Ron sich unter ihrem Sitz wälzten, und auch nicht das Stöhnen und Schreien, das aus dem Knäuel drang, das aus Neville, Crabbe und Goyle bestand.
Oben in der Luft riss Snape seinen Besen gerade rechtzeitig herum, um etwas Scharlachrotes an ihm vorbeischießen zu sehen, das ihn um Zentimeter verfehlte - im nächsten Moment hatte Harry seinen Besen wieder in die Waagrechte gebracht; den Arm triumphierend in die Höhe gestreckt, hielt er den Schnatz fest in der Hand.
Die Zuschauer tobten; das musste ein Rekord sein, niemand konnte sich erinnern, dass der Schnatz jemals so schnell gefangen worden war.
»Ron! Ron! Wo bist du? Das Spiel ist aus! Harry hat gewonnen! Wir haben gewonnen! Gryffindor liegt in Führung!«, schrie Hermine, tanzte auf ihrem Sitz herum und umarmte Parvati Patil in der Reihe vor ihr.
Harry sprang einen Meter über dem Boden von seinem Er konnte es nicht glauben. Er hatte es geschafft - das Spiel war zu Ende; es hatte kaum fünf Minuten gedauert. Gryffindors kamen aufs Spielfeld gerannt, und ganz in der Nähe sah er Snape landen, mit weißem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen - dann spürte Harry eine Hand auf der Schulter und er sah hoch in das lächelnde Gesicht von Dumbledore.
»Gut gemacht«, sagte Dumbledore leise, so dass nur Harry es hören konnte. »Schön, dass du nicht diesem Spiegel nachhängst ... hattest was Besseres zu tun ... vortrefflich ...«
Snape spuckte mit verbittertem Gesicht auf den Boden.

Einige Zeit später verließ Harry allein den Umkleideraum, um seinen Nimbus Zweitausend zurück in die Besenkammer zu stellen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein. Nun hatte er wirklich etwas getan, auf das er stolz sein durfte - keiner konnte jetzt mehr sagen, er hätte nur einen berühmten Namen. Die Abendluft hatte noch nie so süß gerochen. Er ging über das feuchte Gras und sah noch einmal, wie durch einen Schleier von Glück, die letzte Stunde: die Gryffindors, die herbeigerannt kamen, um ihn auf die Schultern zu nehmen; in der Ferne Hermine, die in die Luft sprang, und Ron, der ihm mit blutverschmierter Nase zujubelte.
Harry hatte den Schuppen erreicht. Er lehnte sich gegen die Holztür und sah hoch zum Schloss, dessen Fenster in der untergehenden Sonne rot aufleuchteten. Gryffindor in Führung. Er hatte es geschafft, er hatte es Snape gezeigt ...
Wo er gerade an Snape dachte ...
Eine vermummte Gestalt eilte die Schlosstreppen herunter. Offenbar wollte sie nicht gesehen werden, denn raschen Schrittes ging sie in Richtung des verbotenen Waldes. Harry sah ihr nach, und sein eben errungener Sieg schwand ihm aus dem Kopf Er erkannte den raubtierhaften Gang dieser Gestalt: Snape, der sich in den verbotenen Wald stahl, während die andern beim Abendessen waren - was ging da vor?
Harry sprang auf seinen Nimbus Zweitausend und stieg empor. Still glitt er über das Schloss hinweg und sah Snape rennend im Wald verschwinden. Er folgte ihm.
Die Bäume standen so dicht, dass er nicht sehen konnte, wohin Snape gegangen war. Schleifen drehend ließ er sich weiter sinken. Erst als er die Baumwipfel berührte, hörte er Stimmen. Er schwebte in die Richtung, aus der sie kamen, und landete geräuschlos auf einer turmhohen Buche.
Vorsichtig kletterte er an einem ihrer Äste entlang, den Besen fest umklammernd, und versuchte durch die Blätter hindurch etwas zu erkennen.
Unten, auf einer schattendunklen Lichtung, stand Snape. Doch er war nicht allein. Neben ihm stand Quirrell. Harry konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, doch er stotterte schlimmer denn je. Harry spitzte die Ohren, um etwas von dem zu erhaschen, was sie sagten.
»... w-weiß nicht, warum Sie mich a-a-ausgerechnet hier treffen wollen, Severus ...«
»Oh, ich dachte, das bleibt unter uns«, sagte Snape mit eisiger Stimme. »Die Schüler sollen schließlich nichts vom Stein der Weisen erfahren
Harry lehnte sich weiter vor. Quirrell murmelte etwas. Snape unterbrach ihn.
»Haben Sie schon herausgefunden, wie Sie an diesem Untier von Hagrid vorbeikommen?«
»A-a-ber, Severus, ich -«
»Sie wollen mich doch nicht zum Feind haben, Quirrell«, sagte Snape und trat einen Schritt auf ihn zu.
»I-ich weiß nicht, w-was Sie -«
»Sie wissen genau, was ich meine
Beim lauten Schrei einer Eule fiel Harry fast aus dem Baum. Er brachte sich noch rechtzeitig ins Gleichgewicht, um zu hören, wie Snape sagte: »... Ihr kleines bisschen Hokuspokus. Ich warte
»A-aber i-ich -«
»Sehr schön«, unterbrach ihn Snape. »Wir sprechen uns bald wieder, wenn Sie Zeit hatten, sich die Dinge zu überlegen, und sich im Klaren sind, wem Sie verpflichtet sind
Er warf sich die Kapuze über den Kopf und entfernte sich von der Lichtung. Es war jetzt fast dunkel, doch Harry konnte Quirrell sehen, der so unbeweglich dastand, als sei er versteinert.

»Harry, wo hast du gesteckt?«, keifte Hermine.
»Wir haben gewonnen! Du hast gewonnen! Wir haben gewonnen!«, rief Ron und klatschte Harry auf den Rücken. »Und ich hab Malfoy ein blaues Auge verpasst und Neville hat versucht, es allein mit Crabbe und Goyle aufzunehmen. Er ist immer noch bewusstlos, aber Madam Pomfrey sagt, es wird schon wieder - redet die ganze Zeit davon, es Slytherin zu zeigen! Im Gemeinschaftsraum warten alle auf dich - wir machen ein Fest, Fred und George haben ein bisschen Kuchen und was zu trinken aus der Küche organisiert
»Das ist jetzt nicht so wichtig«, sagte Harry außer Atem. »Suchen wir uns erst mal ein Zimmer, wo wir allein sind, und dann wartet ab, was ich euch erzähle ...«
Er sah erst nach, ob Peeves drin war, bevor er die Tür hinter ihnen schloss, und dann erzählte er ihnen, was er gesehen und gehört hatte.
»Also hatten wir Recht, es ist der Stein der Weisen, und Snape versucht Quirrell zu zwingen, ihm zu helfen. Er hat ihn gefragt, ob er wüsste, wie er an Fluffy vorbeikommen kann - und er hat etwas über Quirrells >Hokuspokus< gesagt - ich wette, es gibt noch mehr außer Fluffy, was den Stein bewacht, eine Menge Zaubersprüche wahrscheinlich, und Quirrell wird einige Gegenflüche zum Schutz gegen die schwarze Magie ausgesprochen haben, die Snape durchbrechen muss
»Du meinst also, der Stein ist nur sicher, solange Snape Quirrell nicht das Rückgrat bricht?«, fragte Hermine bestürzt.
»Nächsten Dienstag ist er weg«, meinte Ron.



Norbert, der Norwegische Stachelbuckel

Quirrell musste freilich mutiger sein, als sie dachten. In den folgenden Wochen schien er zwar blasser und dünner zu werden, doch es sah nicht danach aus, als ob ihm Snape schon das Rückgrat gebrochen hätte.
jedes Mal, wenn sie an dem Korridor im dritten Stock vorbeigingen, drückten Harry, Ron und Hermine die Ohren an die Tür, um zu hören, ob Fluffy dahinter noch knurrte. Snape huschte in seiner üblichen schlechten Laune umher, was sicher bedeutete, dass der Stein noch dort lag, wo er hingehörte. Immer wenn Harry in diesen Tagen an Quirrell vorbeikam, schenkte er ihm ein Lächeln, das ihn aufmuntern sollte, und Ron hatte angefangen die andern dafür zu tadeln, wenn sie bei Quirrells Stottern lachten.
Hermine jedoch hatte mehr im Kopf als den Stein der Weisen. Sie hatte begonnen einen Zeitplan für die Wiederholung des Unterrichtsstoffes aufzustellen und ihre gesamten Notizen mit verschiedenen Farben angestrichen. Harry und Ron hätten sich nicht darum gekümmert, doch sie lag ihnen ständig damit in den Ohren.
»Hermine, es ist noch eine Ewigkeit bis zu den Prüfungen
»Zehn Wochen«, meinte sie barsch. »Das ist keine Ewigkeit, das ist für Nicolas Flamel nur eine Sekunde
»Aber wir sind nicht sechshundert Jahre alt«, erinnerte sie Ron. »Und außerdem, wozu wiederholst du den Stoff eigentlich, du weißt doch ohnehin alles
»Wozu ich wiederhole? Seid ihr verrückt? Euch ist doch klar, dass wir diese Prüfungen schaffen müssen, um ins zweite Schuljahr zu kommen? Sie sind sehr wichtig, ich hätte schon vor einem Monat anfangen sollen zu büffeln, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist ...«
Unglücklicherweise schienen die Lehrer ganz genauso zu denken wie Hermine. Sie halsten ihnen eine Unmenge von Hausaufgaben auf, so dass sie in den Osterferien nicht annähernd so viel Spaß hatten wie noch in den Weihnachtsferien. Wenn Hermine neben ihnen die zwölf Anwendungen von Drachenblut aufzählte oder Bewegungen mit dem Zauberstab übte, konnten sie sich kaum entspannen. Harry und Ron verbrachten den größten Teil ihrer freien Zeit stöhnend und gähnend mit Hermine in der Bibliothek und versuchten mit ihren vielen zusätzlichen Hausaufgaben fertig zu werden.
»Das kann ich mir nie merken«, platzte Ron eines Nachmittags los, warf seine Feder auf den Tisch und ließ den Blick sehnsüchtig aus dem Fenster der Bibliothek schweifen. Seit Monaten war dies der erste wirklich schöne Tag. Der Himmel war klar und vergissmeinnichtblau und in der Luft lag ein Hauch des kommenden Sommers.
Harry, der in Tausend Zauberkräutern und -pilzen nach »Diptam« suchte, sah erst auf, als er Ron sagen hörte: »Hagrid, was machst du denn in der Bibliothek
Hagrid, der in seinem Biberfellmantel hier recht fehl am Platze wirkte, schlurfte zu ihnen herüber. Hinter dem Rücken hielt er etwas versteckt.
»Nur mal schauen«, sagte er mit unsicherer Stimme, die sogleich ihre Neugier erregte. »Und wonach schaut ihr dennPlötzlich sah er sie misstrauisch an. »Nicht etwa immer noch nach Nicolas Flamel?«
»Ach was, das haben wir schon ewig lange rausgefunden«, sagte Ron wichtigtuerisch, »und wir wissen auch, was dieser Hund bewacht, es ist der Stein der W
»Schhhh!«, Hagrid sah rasch nach links und rechts, ob jemand lauschte. »Schreit das doch nicht so herum, was ist denn los mit euch
»Wir wollten dich tatsächlich ein paar Dinge fragen«, sagte Harry, »nämlich was außer Fluffy noch dazu da ist, diesen Stein zu bewachen -«
»SCHHHH!«, zischte Hagrid wieder. »Hört mal, kommt später rüber zu mir, ich versprech euch zwar nicht, dass ich irgendwas erzähle, aber quasselt bloß nicht hier drin rum, die Schüler sollen's nämlich nicht wissen. Nachher heißt's noch, ich hätt's euch
gesagt -«
»Bis später dann«, sagte Harry.
Hagrid schlurfte davon.
»Was hat er hinter dem Rücken versteckt?«, sagte Hermine nachdenklich.
»Glaubt ihr, es hat was mit dem Stein zu tun
»Ich seh mal nach, in welcher Abteilung er war«, sagte Ron, der vom Arbeiten genug hatte. Eine Minute später kam er mit einem Stapel Bücher in den Armen zurück und ließ sie auf den Tisch knallen.
»Drachen!«, flüsterte er. »Hagrid hat nach Büchern über Drachen gesucht! Seht mal: Drachenarten Großbritanniens und Irlands; Vom Ei zum Inferno: Ein Handbuch für Drachenhalter.«
»Hagrid wollte immer einen Drachen haben, das hat er mir schon gesagt, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, sagte Harry.
»Aber das ist gegen unsere Gesetze«, sagte Ron. »Der Zaubererkonvent von 1709 hat die Drachenzucht verboten, das weiß doch jedes Kind. Die Muggel merken es doch gleich, wenn wir Drachen im Garten hinter dem Haus halten - außerdem kann man Drachen nicht zähmen, es ist zu gefährlich. Du solltest mal sehen, wie sich Charlie bei den wilden Drachen in Rumänien verbrannt hat
»Aber es gibt doch keine wilden Drachen in Großbritannien?«, fragte Harry.
»Natürlich gibt es welche«, sagte Ron. »Den Gemeinen Walisischen Gründrachen und den Hebridischen Schwarzdrachen. Das Zaubereiministerium hat alle Hände voll zu tun, das zu vertuschen, kann ich euch sagen. Unsere Leute müssen die Muggel, die welche gesehen haben, ständig mit Zaubersprüchen verhexen, damit sie es wieder vergessen
»Und was in aller Welt hat dann Hagrid vor?«, sagte Hermine.

Als sie eine Stunde später vor der Hütte des Wildhüters standen und an die Tür klopften, bemerkten sie überrascht, dass alle Vorhänge zugezogen waren. Hagrid rief»Wer da?«, bevor er sie einließ und rasch die Tür hinter ihnen schloss.
Drinnen war es unerträglich heiß. Obwohl es draußen warm war, loderte ein Feuer im Kamin. Hagrid machte ihnen Tee und bot ihnen Wiesel-Sandwiches an, die sie ablehnten.
»Nun, ihr wolltet mich was fragen
>Ja«, sagte Harry. Es machte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. »Wir haben uns gefragt, ob du uns sagen kannst, was den Stein der Weisen außer Fluffy sonst noch schützt
Hagrid sah ihn missmutig an.
»Kann ich natürlich nicht«, sagte er. »Erstens weiß ich es selbst nicht. Zweitens wisst ihr schon zu viel, und deshalb würd ich nichts sagen, selbst wenn ich könnte. Der Stein ist aus einem guten Grund hier. Aus Gringotts ist er fast gestohlen worden - ich nehm an, das habt ihr auch schon rausgefunden? Das haut mich allerdings um, dass ihr sogar von Fluffy wisst
»Ach, hör mal, Hagrid, du willst es uns vielleicht nicht sagen, aber du weißt es, du weißt alles, was hier vor sich geht«, sagte Hermine mit warmer, schmeichelnder Stimme. Hagrids Bart zuckte und sie konnten erkennen, dass er lächelte. »Wir fragen uns nur, wer für die Bewachung verantwortlich warHermine drängte weiter. »Wir fragen uns, wem Dumbledore genug Vertrauen entgegenbringt, um ihn um Hilfe zu bitten, abgesehen natürlich von dir
Bei ihren letzten Worten schwoll Hagrids Brust an. Harry und Ron strahlten zu Hermine hinüber.
»Nun gut, ich denk nicht, dass es schadet, wenn ich euch

das erzähl ... lasst mal sehen ... er hat sich Fluffy von mir

geliehen ... dann haben ein paar von den Lehrern Zauberbanne drübergelegt. ... Professor Sprout, Professor Flitwick, Professor McGonagall«, er zählte sie an den Fingern ab, »Professor Quirrell, und Dumbledore selbst hat natürlich auch was unternommen. Wartet mal, ich hab jemanden vergessen. Ach ja, Professor Snape
»Snape
>Ja, ihr seid doch nicht etwa immer noch hinter dem her? Seht mal, Snape hat geholfen, den Stein zu schützen, da wird er ihn doch nicht stehlen wollen
Harry wusste, dass Ron und Hermine dasselbe dachten wie er. Wenn Snape dabei gewesen war, als sie den Stein mit den Zauberbannen umgaben, musste es ein Leichtes für ihn gewesen sein herauszufinden, wie die andern ihn geschützt hatten. Wahrscheinlich wusste er alles, außer, wie es schien, wie er Quirrells Zauberbann brechen und an Fluffy vorbeikommen sollte.
»Du bist der Einzige, der weiß, wie man an Fluffy vorbeikommt, nicht wahr, Hagrid?«, fragte Harry begierig. »Und du würdest es niemandem erzählen, oder, nicht mal einem der Lehrer
»Kein Mensch weiß es außer mir und Dumbledore«, sagte Hagrid stolz.
»Nun, das ist schon mal was«, murmelte Harry den andern zu. »Hagrid, könnten wir ein Fenster aufmachen? Ich komme um vor Hitze
»Geht nicht, Harry, tut mir Leid«, sagte Hagrid. Harry sah, wie er einen Blick zum Feuer warf. Auch Harry sah hinüber.
»Hagrid - was ist das denn
Doch er wusste schon, was es war. Unter dem Kessel, im Herzen des Feuers, lag ein riesiges schwarzes Ei.
»Ähem«, brummte Hagrid und fummelte nervös an seinem Bart. »Das ... ähm ...«
»Wo hast du es her, Hagrid?«, sagte Ron und beugte sich über das Feuer, um sich das Ei näher anzusehen. »Es muss dich ein Vermögen gekostet haben
»Hab's gewonnen«, sagte Hagrid. »Letzte Nacht. War unten im Dorf, hab mir ein oder zwei Gläschen genehmigt und mit 'nem Fremden ein wenig Karten gezockt. Glaube, er war ganz froh, dass er es losgeworden ist, um ehrlich zu sein
»Aber was fängst du damit an, wenn es ausgebrütet ist?«, fragte Hermine.
»Na ja, ich hab 'n bisschen was gelesen«, sagte Hagrid und zog ein großes Buch unter seinem Kissen hervor. »Aus der Bibliothek - Drachenzucht für Haus und Hof - ist ein wenig veraltet, klar, aber da steht alles drin. Das Ei muss im Feuer bleiben, weil die Mütter es beatmen, seht ihr, und wenn es ausgeschlüpft ist, füttern Sie es alle halbe Stunde mit einem Eimer voll Schnaps und Hühnerblut. Und da, schaut, wie man die Drachen an den Eiern erkennt - was ich hier habe, ist ein Norwegischer Stachelbuckel. Sind seiten, die Stachelbuckel.«
Hagrid sah sehr zufrieden aus; Hermine allerdings nicht.
»Hagrid, du lebst in einer Holzhütte«, sagte sie.
Doch er hörte sie nicht. Vergnügt summend stocherte er im Feuer herum.

Nun gab es also noch etwas, um das sie sich Sorgen machen mussten: Was sollte mit Hagrid geschehen, wenn jemand herausfand, dass er einen gesetzlich verbotenen Drachen in seiner Hütte versteckte?
»Frag mich, wie es ist, wenn man ein geruhsames Leben führt«, seufzte Ron, als sie sich Abend für Abend durch all die zusätzlichen Hausaufgaben quälten. Hermine hatte inzwischen begonnen, auch für Harry und Ron Stundenpläne für die Wiederholungen auszuarbeiten. Das machte die beiden fuchsteufelswild.
Eines Tages dann, sie waren gerade beim Frühstück, brachte Hedwig wieder einen Zettel von Hagrid. Er hatte nur zwei Worte geschrieben: Er schlüpft.
Ron wollte Kräuterkunde schwänzen und schnurstracks hinunter zur Hütte gehen, doch Hermine mochte nichts davon hören.
»Hermine, wie oft im Leben sehen wir noch einen Drachen schlüpfen
»Wir haben Unterricht, das gibt nur Ärger, und das ist nichts im Vergleich zu, dem, was Hagrid erwartet, wenn jemand herausfindet, was er da treibt -«
»Sei still!«, flüsterte Harry.
Nur ein paar Meter entfernt war Malfoy wie angewurzelt stehen geblieben, um zu lauschen. Wie viel hatte er gehört? Malfoys Gesichtsausdruck gefiel Harry überhaupt nicht.
Ron und Hermine stritten sich auf dem ganzen Weg zur Kräuterkunde und schließlich ließ sich Hermine breitschlagen, während der großen Pause zu Hagrid zu laufen. Als am Ende der Stunde die Schlossglocke läutete, warfen die drei sofort ihre Federkiele hin und rannten über das Schlossgelände zum Waldrand. Hagrid begrüßte sie mit vor Aufregung rotem Gesicht.
»Es ist schon fast rausEr schob sie hinein.
Das Ei lag auf dem Tisch. Es hatte tiefe Risse. Etwas in seinem Innern bewegte sich; ein merkwürdiges Knacken war zu hören.
Sie stellten ihre Stühle um den Tisch herum und sahen mit angehaltenem Atem zu.
Mit einem plötzlichen lauten Kratzen riss das Ei auf, Das Drachenbaby plumpste auf den Tisch. Es war nicht gerade hübsch; Harry kam es vor wie ein verschrumpelter schwarzer Schirm. Seine knochigen Flügel waren riesig im Vergleich zu seinem dünnhäutigen rabenschwarzen Körper, es hatte eine lange Schnauze mit weit geöffneten Nüstern, kleine Hornstummel und hervorquellende orangerote Augen.
Es nieste. Aus seiner Schnauze flogen ein paar Funken.
»Ist es nicht schön?«, murmelte Hagrid. Er streckte die Hand aus, um den Kopf des Drachenbabys zu streicheln. Es schnappte nach seinen Fingern und zeigte dabei seine spitzen Fangzähne.
»Du meine Güte, es kennt seine Mammi!«

»Hagrid«, sagte Hermine, »wie schnell wachsen eigentlich Norwegische Stachelbuckel?«
Hagrid wollte gerade antworten, als mit einem Mal die Farbe aus seinem Gesicht wich - er sprang auf und rannte ans Fenster.
»Was ist los
»Jemand hat durch den Spalt in den Vorhängen reingeschaut, ein Junge, er rennt zurück zur Schule
Harry sprang zur Tür und sah hinaus. Selbst auf diese Entfernung gab es keinen Zweifel, wer es war.
Malfoy hatte den Drachen gesehen.

Etwas an dem Lächeln, das die ganze nächste Woche über auf Malfoys Gesicht hängen blieb, machte Harry, Ron und Hermine sehr nervös. Ihre freie Zeit verbrachten sie größtenteils in Hagrids abgedunkelter Hütte, wo sie versuchten ihm Vernunft beizubringen.
»Lass ihn einfach laufen«, drängte Harry. »Lass ihn frei
»Ich kann nicht«, sagte Hagrid. »Er ist zu klein. Er würde sterben
Sie sahen den Drachen an. In nur einer Woche war er um das Dreifache gewachsen. Aus seinen Nüstern schwebten kleine Rauchkringel hervor. Hagrid vernachlässigte schon seine Pflichten als Wildhüter, denn der Drache nahm ihn ständig in Anspruch. Auf dem Boden verstreut lagen Hühnerfedern und leere Schnapsflaschen.
»Ich will ihn Norbert nennen«, sagte Hagrid und blickte den Drachen mit feuchten Augen an. »Er kennt mich jetzt ganz gut, seht mal her. Norbert! Norbert! Wo ist die Mammi?«
»Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, murmelte Ron in Harrys Ohr.
»Hagrid«, sagte Harry laut, »gib Norbert noch zwei Wochen und er ist so lang wie dein Haus. Malfoy könnte jeden Augenblick zu Dumbledore gehen
Hagrid biss sich auf die Unterlippe.
»Ich ... ich weiß, ich kann ihn nicht ewig behalten, aber ich kann ihn auch nicht einfach aussetzen, das kann ich einfach nicht
Harry wandte sich jäh zu Ron um.
»Charlie«, sagte er.
»Du hast sie auch nicht mehr alle«, sagte Ron. »Ich bin Ron, weißt du noch
»Nein, Charlie, dein Bruder Charlie. In Rumänien. Der Drachenforscher. Wir könnten ihm Norbert schicken. Charlie kann sich um ihn kümmern und ihn dann in die Wildnis aussetzen
»Einfach genial!«, sagte Ron. »Wie wär's damit, Hagrid?«
Und am Ende war Hagrid einverstanden, Charlie eine Eule zu schicken und ihn zu fragen.

Die nächste Woche schleppte sich zäh dahin. Mittwochabend, nachdem die andern zu Bett gegangen waren, saßen Hermine und Harry noch lange im Gemeinschaftszimmer. Die Wanduhr hatte gerade Mitternacht geschlagen, als das Porträt zur Seite sprang. Ron ließ Harrys Tarnumhang fallen und erschien aus dem Nichts. Er war unten in Hagrids Hütte gewesen und hatte ihm geholfen, Norbert zu füttern, der inzwischen körbeweise tote Ratten verschlang.
»Er hat mich gebissen!«, sagte er und zeigte ihnen seine Hand, die mit einem blutigen Taschentuch umwickelt war. »Ich werd eine ganze Woche lang keine Feder mehr halten können. Ich sag euch, dieser Drache ist das fürchterlichste Tier, das ich je gesehen hab, aber so wie Hagrid es betüttelt, könnte man meinen, es sei ein niedliches, kleines Schmusehäschen. Nachdem er mich gebissen hat, hat Hagrid mir auch noch vorgeworfen, ich hätte dem Kleinen Angst gemacht. Und als ich zur Tür raus bin, hat er ihm gerade ein Schlaflied gesungen
Am dunklen Fenster kratzte etwas.
»Es ist Hedwig!«, sagte Harry und lief rasch hinüber, um sie einzulassen. »Sie hat bestimmt Charlies Antwort
Mit zusammengesteckten Köpfen lasen sie den Brief,

Lieber Ron, wie geht es dir? Danke für den Brief - den Norwegischen Stachelbuckel würde ich gerne nehmen, aber es wird nicht leicht sein, ihn hierher zu bringen. Ich glaube, das Beste ist, ihn ein paar Freunden von mir mitzugeben, die mich nächste Woche besuchen kommen. Das Problem ist, dass sie nicht dabei gesehen werden dürfen, wenn sie einen gesetzlich verbotenen Drachen mitnehmen.
Könntest du den Stachelbuckel am Samstag um Mitternacht auf den höchsten Turm setzen? Sie können dich dort treffen und ihn mitnehmen, während es noch dunkel ist. Schick mir deine Antwort so bald wie möglich.
Herzlichst
Charlie

Sie sahen einander an.
»Wir haben den Tarnumhang«, sagte Harry. »Das wird nicht so schwierig sein - ich glaube, er ist groß genug, um zwei von uns und Norbert zu verstecken
Dass die anderen beiden ihm zustimmten, war ein Zeichen dafür, wie mitgenommen sie von der vergangenen Woche waren. Sie würden alles tun, um Norbert loszuwerden - und Malfoy dazu.

Einen Haken gab es freilich. Am nächsten Morgen war Rons verletzte Hand auf die doppelte Größe angeschwollen. Er wusste nicht, ob es ratsam war, zu Madam Pomfrey zu gehen - würde sie einen Drachenbiss erkennen? Es wurde Nachmittag, und nun hatte er keine andere Wahl mehr. Der Biss hatte eine hässliche grüne Färbung angenommen. Es sah so aus, als ob Norberts Reißzähne giftig waren.
Am Abend rannten Harry und Hermine in den Krankenflügel, wo sie Ron in fürchterlichem Zustand im Bett vorfanden.
»Es ist nicht nur meine Hand«, flüsterte er, »auch wenn die sich anfühlt, als ob sie gleich abfallen würde. Malfoy hat Madam Pomfrey gesagt, er wolle sich eines meiner Bücher borgen, und so konnte er reinkommen und mich in aller Ruhe auslachen. Er hat gedroht, ihr zu sagen, was mich wirklich gebissen hat - ich hab ihr gesagt, es sei ein Hund gewesen, aber ich glaube nicht, dass sie mir glaubt - ich hätte ihn beim Quidditch-Spiel nicht verprügeln sollen, deshalb macht er das
Harry und Hermine versuchten Ron zu beruhigen.
»Bis Samstag ist alles vobei«, sagte Hermine, doch das besänftigte Ron überhaupt nicht. Im Gegenteil, mit einem Mal saß er kerzengerade im Bett und brach in Schweiß aus.
»Samstag um Mitternacht!«, sagte er mit heiserer Stimme. »0 nein, o nein, mir fällt gerade ein, Charlies Brief war in dem Buch, das Malfoy mitgenommen hat, er weiß, dass wir uns Norbert vom Hals schaffen wollen
Harry und Hermine konnten darauf nichts mehr entgegnen. Gerade in diesem Moment kam Madam Pomfrey ins Zimmer und bat sie zu gehen, denn Ron brauche etwas Schlaf,

»Es ist zu spät, um den Plan jetzt noch zu ändern«, sagte Harry zu Hermine. »Das wird wohl die einzige Chance sein, Norbert loszuwerden, und wir haben jetzt nicht die Zeit, um Charlie noch eine Eule zu schicken. Wir müssen es riskieren. Und wir haben schließlich den Tarnumhang, von dem weiß Malfoy nichts
Sie gingen zu Hagrid, um ihm ihren Plan zu erzählen, und fanden Fang, den Saurüden, mit verbundenem Schwanz vor der Hütte sitzen. Hagrid öffnete ein Fenster, um mit ihnen zu sprechen.
»Ich kann euch jetzt nicht reinlassen«, schnaufte er, »Norbert ist in einer schwierigen Phase, aber damit werd ich schon fertig
Sie erzählten ihm von Charlies Brief, und seine Augen füllten sich mit Tränen, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil Norbert ihn gerade ins Bein gebissen hatte.
»Aaah! Schon gut, er hat nur meinen Stiefel - spielt nur -schließlich ist er noch ein Baby
Das Baby knallte mit dem Schwanz gegen die Wand und ließ die Fenster klirren. Harry und Hermine gingen zum Schloss zurück mit dem Gefühl, der Samstag könne gar nicht schnell genug kommen.

Für Hagrid wurde es allmählich Zeit, sich von Norbert zu verabschieden, und er hätte ihnen Leid getan, wenn sie nicht so aufgeregt überlegt hätten, wie sie am besten vorgehen sollten. Es war eine sehr dunkle, wolkige Nacht, und als sie bei Hagrid ankamen, war es schon ein bisschen spät. Sie hatten in der Eingangshalle warten müssen, bis Peeves, der Tennis gegen die Wand spielte, den Weg freimachte.
Hagrid hatte Norbert schon in einen großen Korb gepackt.
»Er hat 'ne Menge Ratten und ein wenig Schnaps für die Reise«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Und ich hab seinen Teddybären eingepackt, falls er sich einsam fühlt
Aus dem Korb drang ein schauriges Geräusch und Harry kam es vor, als ob dem Teddybären gerade der Kopf abgerissen würde.
»Mach's gut, Norbert«, schluchzte Hagrid, als Harry und Hermine den Korb mit dem Tarnumhang bedeckten und dann selbst darunter schlüpften. »Mammi wird dich nie vergessen
Wie sie es schafften, den Korb zum Schloss hochzubringen, wussten sie selbst nicht. Mitternacht rückte tickend näher, während sie Norbert die Marmorstufen zur Eingangshalle emporhievten und die dunklen Korridore entlangschleppten. Noch eine Treppe hoch und noch eine - selbst eine von Harrys Abkürzungen machte die Arbeit nicht viel leichter.
»Gleich da«, keuchte Harry, als sie den Gang zum höchsten Turm erreicht hatten.
Vor ihnen bewegte sich etwas und vor Schreck ließen sie beinahe den Korb fallen. Dass sie unsichtbar waren, hatten sie ganz vergessen, und so verdrückten sie sich in die Schatten und starrten auf die dunklen Umrisse zweier Gestalten, die drei Meter entfernt miteinander rangen. Eine Lampe flammte auf.
Professor McGonagall, ein Haarnetz über dem Kopf und in einen Morgenmantel mit Schottenmuster gehüllt, hielt Malfoy am Ohr gepackt.
»Strafarbeit!«, rief sie. »Und zwanzig Punkte Abzug für Slytherin! Mitten in der Nacht umherschleichen, wie können Sie es wagen -«
»Sie verstehen nicht, Professor, Harry Potter ist auf dem Weg - er hat einen Drachen
»Was für ein ausgemachter Unsinn! Woher nehmen Sie die Stirn, mir solche Lügen zu erzählen! Kommen Sie, ich werde mit Professor Snape über Sie sprechen, Malfoy!«
Die stelle Wendeltreppe zur Spitze des Turms schien danach die leichteste Übung der Welt. Erst als sie in die kalte Nachtluft hinausgetreten waren, warfen sie den Mantel ab, froh, endlich wieder frei atmen zu können. Hermine legte einen kleinen Stepptanz hin.
»Malfoy bekommt eine Strafarbeit! Ich könnte singen vor Freude
»Du's lieber nicht«, riet ihr Harry.
Beim Warten machten sie sich über Malfoy lustig, während Norbert in seinem Korb tobte. Zehn Minuten vergingen und dann kamen vier Besen aus der Dunkelheit herabgeschwebt.
Charlies Freunde waren ein lustiges Völkchen. Sie zeigten Harry und Hermine das Geschirr, das sie für Norbert zusammengebastelt hatten, so dass sie ihn zwischen sich aufhängen konnten. Alle zusammen halfen, Norbert sicher darin unterzubringen, dann schüttelten Harry und Hermine den andern die Hände und dankten ihnen herzlich.
Endlich war Norbert auf dem Weg ... fort ... fort ... verschwunden.
Sie schlichen die Wendeltreppe wieder hinab, nun, da Norbert fort war, mit Herzen, so leicht wie ihre Hände. Kein Drache mehr, Malfoy bekam eine Strafarbeit, was konnte ihr Glück jetzt noch stören?
Die Antwort darauf wartete am Fuß der Treppe. Als sie in den Korridor traten, erschien aus der Dunkelheit plötzlich das Gesicht von Filch.
»Schön, schön, schön«, flüsterte er. »jetzt haben wir wirklich ein Problem
Oben auf dem Turm lag der Tarnumhang.




Der verbotene Wald

Es hätte nicht schlimmer kommen können.
Filch brachte sie hinunter ins Erdgeschoss ins Studierzimmer von Professor McGonagall, und da saßen sie und warteten, ohne ein Wort miteinander zu reden. Hermine zitterte. Ausreden, Alibis und hanebüchene Vertuschungsgeschichten schossen Harry durch den Kopf, die eine kläglicher als die andere. Diesmal konnte er sich nicht vorstellen, wie sie sich aus diesem' Schlamassel herauswinden sollten. Sie saßen in der Falle. Wie konnten sie nur so dumm sein und den Umhang vergessen? Professor McGonagall würde aus keinem Grund der Welt gutheißen, dass sie nicht im Bett lagen und in tiefster Nacht in der Schule umherschlichen, geschweige denn, dass sie auf dem höchsten Turm waren, der, außer im Astronomie-Unterricht, für sie verboten war. Wenn sie dann noch von Norbert und dem Tarnumhang erfahren hatte, konnten sie genauso gut schon ihre Koffer packen.
Hatte Harry geglaubt, noch schlimmer könne es nicht kommen? Welch ein Irrtum. Als Professor McGonagall auftauchte, hatte sie Neville im Schlepptau.
»Harry!«, platzte Neville los, kaum dass er die beiden erblickt hatte, »ich hab versucht dich zu finden, weil ich dich warnen wollte, Malfoy hat nämlich gesagt, du hättest einen Dra -«
Harry schüttelte heftig den Kopf, um Neville zum Schweigen zu bringen, doch Professor McGonagall hatte ihn gesehen. Sie baute sich vor den dreien auf und sah aus, als könne sie besser Feuer spucken als Norbert.
»Das hätte ich von keinem von Ihnen je geglaubt. Mr. Filch sagt, Sie seien auf dem Astronomieturm gewesen. Es ist ein Uhr morgens. Erklären Sie mir das bitte
Zum ersten Mal fand Hermine keine Antwort auf die Frage eines Lehrers. Sie starrte auf ihre Pantoffeln, stumm wie eine Statue.
»Ich glaube, ich weiß ganz gut, was geschehen ist«, sagte Professor McGonagall. »Es braucht kein Genie, um das herauszufinden. Sie haben Draco Malfoy irgendeine haarsträubende Geschichte über einen Drachen aufgebunden, .um ihn aus dem Bett zu locken und in Schwierigkeiten zu bringen. Ich habe ihn bereits erwischt. Ich nehme an, Sie finden es auch noch lustig, dass Longbottom hier etwas aufgeschnappt hat und daran glaubt
Harry versuchte dem verdutzt und beleidigt dreinblickenden Neville in die Augen zu schauen und ihm stumm zu bedeuten, dass dies nicht stimmte. Der arme, tollpatschige Neville - Harry wusste, was es ihn gekostet haben musste, sie im Dunkeln zu suchen, um sie zu warnen.
»Ich bin sehr enttäuscht«, sagte Professor McGonagall. »Vier Schüler aus dem Bett in einer Nacht! Das ist mir noch nie untergekommen. Miss Granger, wenigstens Sie hätte ich für vernünftiger gehalten. Was Sie angeht, Mr. Potter, so hätte ich gedacht, Gryffindor bedeutete Ihnen mehr als alles andere. Sie alle werden Strafarbeiten bekommen -ja, auch Sie, Mr. Longbottom, nichts gibt Ihnen das Recht, nachts in der Schule umherzustromern, besonders dieser Tage ist es gefährlich - und fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor.«
»FünfzigHarry verschlug es den Atem. Sie würden die Führung verlieren, die er noch im letzten Quidditch-Spiel erobert hatte.
»Fünfzig Punkte für jeden«, schnaubte Professor McGonagall durch ihre lange, spitze Nase.
»Professor - bitte -«
»Sie können doch nicht -«
»Sagen Sie mir nicht, was ich kann und was nicht, Potter. Gehen Sie jetzt wieder zu Bett, Sie alle. Ich habe mich noch nie dermaßen für Schüler von Gryffindor geschämt
Einhundertfünfzig Punkte verloren. Damit lag Gryffindor auf dem letzten Platz. In einer Nacht hatten sie alle Chancen auf den Hauspokal zunichte gemacht. Harry hatte das Gefühl, als hätte sich ein riesiges Loch in seinem Magen aufgetan. Wie konnten sie das jemals wieder gutmachen?
Harry tat die ganze Nacht kein Auge zu. Stundenlang, so kam es ihm vor, hörte er Neville in sein Kissen schluchzen. Ihm fiel nichts ein, womit er ihn hätte trösten können. Er wusste, dass Neville, wie ihm selbst, angst und bange war vor dem Morgen. Was würde geschehen, wenn die anderen aus ihrem Haus erfuhren, was sie getan hatten?
Als die Gryffindors am nächsten Morgen an den riesigen Stundengläsern vorbeigingen, welche die Hauspunkte anzeigten, dachten sie zunächst, es müsse ein Irrtum passiert sein. Wie konnten sie plötzlich hundertfünfzig Punkte weniger haben als gestern? Und dann verbreitete sich allmählich die Geschichte: Harry Potter, der berühmte Harry Potter, ihr Held aus zwei Quidditch-Spielen, hatte ihnen das eingebrockt, er und ein paar andere dumme Erstklässler.
Harry, bisher einer der beliebtesten und angesehensten Schüler, war nun der meistgehasste. Selbst Ravenclaws und Hufflepuffs wandten sich gegen ihn, denn alle hatten sich darauf gefreut, dass Slytherin den Hauspokal diesmal nicht erringen würde. Überall, wo Harry auftauchte, deuteten die Schüler auf ihn und machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Stimmen zu senken, wenn sie ihn beleidigten.
Die Slytherins dagegen klatschten in die Hände, wenn er vorbeiging, sie pfiffen und johlten: »Danke, Potter, wir schulden dir noch was
Nur Ron hielt zu ihm.
»In ein paar Wochen haben sie es alle vergessen. Fred und George haben während ihrer ganzen Zeit hier 'ne Unmenge Punkte verloren, aber die Leute mögen sie trotzdem noch
»Sie haben nie hundertfünfzig Punkte auf einmal verloren, oder?«, sagte Harry niedergeschlagen.
»Nun - nein«, gab Ron zu.
Es war ein wenig zu spät, um den Schaden wieder gutzumachen, doch Harry schwor sich, von nun an würde er sich nie mehr in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. Vom Herumstromern und Spionieren hatte er die Nase voll. Er schämte sich so sehr, dass er zu Wood ging und ihm seinen Rücktritt aus der Mannschaft anbot.
»Rücktritt?«, donnerte Wood. »Wozu soll das gut sein? Wie sollen wir denn jemals wieder Punkte gutmachen, wenn wir nicht mehr beim Quidditch gewinnen können
Doch selbst Quidditch machte keinen Spaß mehr. Die anderen Spieler wollten beim Training nicht mit Harry sprechen, und wenn sie über ihn reden mussten, nannten sie ihn »den Sucher«.
Auch Hermine und Neville ging es nicht gut. Nicht so schlecht wie Harry zwar, weil sie nicht so bekannt waren, doch auch mit ihnen wollte keiner mehr sprechen. Im Unterricht mochte Hermine nicht mehr auf sich aufmerksam machen, sie ließ den Kopf hängen und arbeitete still vor sich hin.
Harry war beinahe froh, dass die Prüfungen vor der Tür standen. Die ganzen Wiederholungen, die nötig waren, lenkten ihn von seinem Elend ab. Er, Ron und Hermine blieben unter sich und mühten sich bis spät in den Abend, sich die Zutaten komplizierter Gebräue in Erinnerung zu rufen, sich Zaubersprüche und Zauberbanne einzuprägen und die Jahreszahlen großer Entdeckungen in der Zauberei und von Koboldaufständen auswendig zu lernen ...
Dann, etwa eine Woche bevor die Ferien beginnen sollten, wurde Harrys jüngster Entschluss, seine Nase nicht in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen, unerwartet auf die Probe gestellt. Eines Nachmittags, auf dem Rückweg von der Bibliothek, hörte er in einem der Klassenzimmer vor ihm jemanden wimmern. Er ging weiter und hörte Quirrells Stimme.
»Nein - nein - nicht schon wieder, bitte
Es klang, als würde ihm jemand drohen. Harry trat sachte näher.
»Gut - schon gut -«, hörte er Quirrell schluchzen.
Im nächsten Moment kam Quirrell, seinen Turban richtend, aus dem Klassenzimmer gestürzt. Er war blass und sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Raschen Schrittes verschwand er; Harry hatte nicht das Gefühl, dass er ihn bemerkt hatte. Er wartete, bis Quirrells Schritte verklungen waren, und spähte dann in das Klassenzimmer. Es war leer, doch am andern Ende war eine Tür weit geöffnet. Harry war schon auf halbem Wege dorthin, als ihm einfiel, dass er sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr in fremde Angelegenheiten zu mischen.
Dennoch: zwölf Steine der Weisen hätte er gewettet, dass es Snape war, der soeben das Zimmer verlassen hatte, und nach dem zu schließen, was Harry mitgehört hatte, gewiss mit federnden Schritten. Quirrell schien nun doch nachgegeben zu haben.
Harry ging zurück in die Bibliothek, wo Hermine Ron in Astronomie abfragte. Harry berichtete ihnen, was er gehört hatte.
»Snape hat es also geschafft«, sagte Ron. »Wenn Quirrell ihm gesagt hat, wie er seinen Schutzzauber gegen die schwarze Magie brechen kann -«
»Da ist allerdings immer noch Fluffy«, sagte Hermine.
»Vielleicht hat Snape herausgefunden, wie er an ihm vorbeikommt, ohne Hagrid zu fragen«, sagte Ron und ließ den Blick über die Unmenge von Büchern gleiten, die sie umgaben. »Ich wette, irgendwo hier drin gibt es ein Buch, das erklärt, wie man an einem riesigen dreiköpfigen Hund vorbeikommt. Also, was sollen wir tun, Harry
In Rons Augen erschien wieder das Funkeln kommender Abenteuer, doch Hermine antwortete, noch bevor Harry den Mund aufmachen konnte.
»Zu Dumbledore gehen. Das hätten wir schon vor Ewigkeiten tun müssen. Wenn wir selbst irgendwas unternehmen, werden wir am Ende sicher noch rausgeworfen.«
»Aber wir haben keinen Beweis«, sagte Harry. »Quirrell hat zu viel Angst, um sich auf unsere Seite zu schlagen. Snape muss nur behaupten, er wisse nicht, wie der Troll an Halloween hereingekommen ist, und sei überhaupt nicht im dritten Stock gewesen - wem glauben sie wohl, uns oder ihm? Es ist ein offenes Geheimnis, dass wir ihn nicht ausstehen können, Dumbledore wird denken, wir hätten die Geschichte erfunden, damit er Snape rauswirft. Filch würde uns auch nicht helfen, und wenn es um sein Leben ginge, er ist zu gut mit Snape befreundet, und je mehr Schüler rausgeworfen werden, desto besser, wird er denken. Und vergiss nicht, wir sollten eigentlich gar nichts über den Stein oder Fluffy wissen. Da müssen wir eine Menge erklären
Hermine sah überzeugt aus, Ron jedoch nicht.
»Und wenn wir nur ein wenig rumstöbern -«
»Nein«, sagte Harry matt, »wir haben genug rumgestöbert.«
Er entfaltete eine Karte des Jupiters und begann die Namen seiner Monde auswendig zu lernen.

Am Morgen darauf beim Frühstück wurden Harry, Hermine und Neville Briefe zugestellt. Sie lauteten alle gleich:

Ihre Strafarbeit beginnt um elf Uhr heute Abend.
Sie treffen Mr. Filch in der Eingangshalle.
Prof. M. McGonagall

In der ganzen Aufregung über die verlorenen Punkte hatte Harry ganz vergessen, dass sie noch Strafarbeiten vor sich hatten. Gleich würde Hermine klagen, wieder sei eine ganze Nacht für die Wiederholungen verloren, doch sie sagte kein Wort. Wie Harry hatte sie das Gefühl, nichts Besseres verdient zu haben.
Um elf Uhr an diesem Abend verabschiedeten sie sich im Gemeinschaftsraum von Ron und gingen mit Neville hinunter in die Eingangshalle. Filch wartete schon - und Malfoy. Harry hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass es auch Malfoy erwischt hatte.
»Folgt mir«, sagte Filch, zündete eine Laterne an und führte sie nach draußen.
»Ich wette, ihr überlegt es euch das nächste Mal, ob ihr noch mal eine Schulvorschrift brecht, he?«, sagte er und schielte sie von der Seite her an. »O ja ... harte Arbeit und Schmerzen sind die besten Lehrmeister, wenn ihr mich fragt ... jammerschade, dass sie die alten Strafen nicht mehr anwenden ... Könnt euch ein paar Tage lang in Handschellen legen und von der Decke hängen lassen, die Ketten hab ich noch in der Schublade, halt sie immer gut eingefettet, falls sie doch noch mal gebraucht werden ... Schön, los geht's, und denkt jetzt bloß nicht ans Weglaufen, dann wird's nur noch schlimmer für euch
Sie machten sich auf den Weg über das dunkle Schlossgelände. Neville schniefte unablässig. Harry fragte sich, worin die Strafe wohl bestehen würde. Es musste etwas wirklich Schreckliches sein, sonst würde sich Filch nicht so vergnügt anhören.
Der Mond war sehr hell, doch die Wolken, die über ihn dahintrieben, tauchten sie immer wieder in Dunkelheit. Vor ihnen konnte Harry die Fenster von Hagrids Hütte erkennen. Dann hörten sie einen Ruf aus der Ferne.
»Bist du das, Filch? Beeil dich, ich will aufbrechen
Harry wurde leichter ums Herz; wenn sie mit Hagrid arbeiten würden, dann konnte es ihnen nicht so schlecht ergehen. Die Erleichterung stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Filch sagte: »Du glaubst, ihr werdet euch mit diesem Hornochsen einen netten Abend machen? Überleg's dir lieber noch mal, junge - es geht in den Wald und es würde mich wundern, wenn ihr in einem Stück wieder rauskommt
Bei diesen Worten stöhnte Neville leise auf und Malfoy blieb wie angewurzelt stehen.
»In den Wald?«, wiederholte er, wobei er nicht mehr so kühl klang wie sonst. »Wir können da nachts nicht reingehen - da treibt sich allerlei herum - auch Werwölfe, hab ich gehört
Neville packte den Ärmel von Harrys Umhang und gab ein ersticktes Geräusch von sich.
»Das sind schöne Aussichten, nicht wahr?«, sagte Filch, wobei sich seine Stimme vor Schadenfreude überschlug. »Hättet an die Werwölfe denken sollen, bevor ihr euch in Schwierigkeiten gebracht habt
Hagrid kam ihnen mit langen Schritten aus der Dunkelheit entgegen, mit Fang bei Fuß. Er trug seine große Armbrust und hatte einen Köcher mit Pfeilen über die Schultern gehängt.
»Wird allmählich Zeit«, sagte er. »Warte schon 'ne halbe Stunde. Alles in Ordnung, Harry, Hermine
»Ich wär lieber nicht so freundlich zu ihnen, Hagrid«, sagte Filch kalt, »schließlich sind sie hier, um sich ihre Strafe abzuholen.«
»Deshalb bist du zu spät dran«, antwortete Hagrid mit einem Stirnrunzeln. »Hast ihnen 'ne Lektion erteilt, was? Nicht deine Aufgabe, das zu tun. Du hast deine Sache erledigt und ich übernehme ab hier
»Bei Morgengrauen bin ich zurück«, sagte Filch, »und hol die Reste von ihnen ab«, fügte er gehässig hinzu, drehte sich um und machte sich mit in der Dunkelheit hüpfender Laterne auf den Weg zurück zum Schloss.
Nun wandte sich Malfoy an Hagrid.
»Ich gehe nicht in diesen Wald«, sagte er und Harry bemerkte mit Genugtuung den Anflug von Panik in seiner Stimme.
»Du musst, wenn du in Hogwarts bleiben willst«, sagte Hagrid grimmig. »Du hast was ausgefressen und jetzt musst du dafür bezahlen
»Aber das ist Sache der Bediensteten, nicht der Schüler. Ich dachte, wir würden die Hausordnung abschreiben oder so was. Wenn mein Vater wüsste, was ich hier tue, würde er -«
»- dir sagen, dass es in Hogwarts eben so zugeht«, knurrte Hagrid. »Die Hausordnung abschreiben! Wem nützt das denn? Du tust was Nützliches oder du fliegst raus. Wenn du glaubst, dein Vater hätte es lieber, wenn du von der Schule verwiesen wirst, dann geh zurück ins Schloss und pack deine Sachen. Los jetzt
Malfoy rührte sich nicht vom Fleck. Voll Zorn sah er Hagrid an, doch dann senkte er den Blick.
»Na also«, sagte Hagrid. »Nun hört mal gut zu, weil es gefährlich ist, was wir heute Nacht tun, und ich will nicht, dass einer von euch sich unnötig in Gefahr bringt. Folgt mir kurz hier rüber
Er führte sie dicht an den Rand des Waldes. Mit hochgehaltener Laterne wies er auf einen engen, gewundenen Pfad, der zwischen den dicht stehenden schwarzen Bäumen verschwand. Als sie in den Wald hineinsahen, zerzauste ihnen eine leichte Brise die Haare.
»Seht mal her«, sagte Hagrid, »seht ihr das Zeug, das da auf dem Boden glänzt? Silbriges Zeug? Das ist Einhornblut. Irgendwo ist da ein Einhorn, das von irgendetwas schwer verletzt worden ist. Das ist jetzt das zweite Mal in einer Woche. Letzten Mittwoch hab ich ein totes gefunden. Wir versuchen jetzt das arme Tier zu finden. Vielleicht müssen wir es auch von seinem Leiden erlösen
»Und was passiert, wenn das andere - was das Einhorn verletzt hat - uns zuerst findet?«, fragte Malfoy, ohne dass er die Furcht aus der Stimme verbannen konnte.
»In diesem Wald ist nichts, was euch etwas zu Leide tut, solange ich und Fang dabei sind«, sagte Hagrid. »Und bleibt auf in Weg. Also dann, wir teilen uns in zwei Gruppen und folgen der Spur in verschiedene Richtungen. Hier ist überall Blut, das Tier muss sich mindestens seit gestern Nacht herumschleppen.«
Malfoy warf einen raschen Blick auf Fangs lange Zähne. »Ich will Fang
»Na gut, aber ich warn dich, er ist ein Feigling«, sagte Hagrid. »Also gehen Harry, Hermine und ich in die eine Richtung und Draco, Neville und Fang in die andere. Und wenn einer von uns das Einhorn findet, schicken wir grüne Funken aus, klar? Holt eure Zauberstäbe hervor und probiert das mal - sehr gut - und wenn einer in Gefahr ist, schickt rote Funken aus und wir kommen zu Hilfe - also, seid vorsichtig - und nun los
Der Wald war schwarz und still. Sie legten ein Stück des Wegs gemeinsam zurück und stießen dann auf eine Gabelung. Harry, Hermine und Hagrid gingen nach links, Malfoy, Neville und Fang nach rechts.
Sie gingen schweigend, die Augen auf die Erde gerichtet. Hie und da beleuchtete ein Mondstrahl einen Fleck silbrig blauen Blutes auf den herabgefallenen Blättern.
Harry bemerkte, dass Hagrid sehr besorgt aussah.
»Könnte ein Werwolf die Einhörner töten?«, fragte Harry.
»Nicht schnell genug«, sagte Hagrid. »Es ist nicht leicht, ein Einhorn zu fangen, sie sind mächtige Zaubergeschöpfe, Ich hab noch nie gehört, dass eines verletzt wurde
Sie kamen an einem moosbewachsenen Baumstumpf vorbei. Harry konnte Wasser plätschern hören, irgendwo in der Nähe musste ein Bach sein. An manchen Stellen entlang des gewundenen Pfades war noch Einhornblut.
»Alles in Ordnung mit dir, Hermine?«, flüsterte Hagrid. »Keine Sorge, es kann nicht weit weg sein, wenn es so schwer verletzt ist, und dann können wir - HINTER DEN BAUM
Hagrid packte Harry und Hermine und schubste sie vom Pfad in die Deckung einer riesigen Eiche. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, spannte ihn auf die Armbrust und hielt sie schussbereit in die Höhe. Die drei spitzten die Ohren. Ganz in der Nähe raschelte etwas über die toten Blätter. Es hörte sich an wie ein Mantel, der über den Boden schleifte. Hagrid spähte den dunklen Pfad hoch, doch nach einer Welle entfernte sich das Geräusch.
»Ich wusste es«, murmelte er. »Da ist etwas im Wald was nicht hierher gehört
»Ein Werwolf?«, fragte Harry.
»Das war kein Werwolf und auch kein Einhorn«, sagte Hagrid grimmig. »Gut, folgt mir, aber vorsichtig jetzt
Sie gingen jetzt langsamer, gespannt auf das leiseste Geräusch achtend. Plötzlich, auf einer Lichtung vor ihnen, bewegte sich etwas.
»Wer da?«, rief Hagrid. »Zeig dich - ich bin bewaffnet!«
Und es erschien - war es ein Mann oder ein Pferd? Bis zur Hüfte ein Mann mit rotem Haar und Bart, doch darunter hatte er den glänzenden, kastanienbraunen Körper eines Pferdes mit langem, rötlichem Schwanz. Harry und Hermine hielten den Atem an.
»Ach, du bist es, Ronan«, sagte Hagrid erleichtert. »Wie geht's
Er trat vor und schüttelte die Hand des Zentauren.
»Einen guten Abend dir, Hagrid«, sagte Ronan. Er hatte eine tiefe, melancholische Stimme. »Wolltest du gerade auf mich schießen
»Man kann nie vorsichtig genug sein, Ronan«, sagte Hagrid und tätschelte seine Armbrust. »Was Böses streift in diesem Wald herum. Das sind übrigens Harry Potter und Hermine Granger, Schüler vom Schloss oben. Und das, ihr beiden, ist Ronan. Er ist ein Zentaur
»Das haben wir schon bemerkt«, sagte Hermine matt.
»Guten Abend«, sagte Ronan. »Schüler seid ihr? Und lernt ihr viel da oben in der Schule?
»Ähm -«
»Ein wenig«, sagte Hermine schüchtern.
»Ein wenig. Nun, das ist doch schon etwas«, seufzte Ronan. Er warf den Kopf zurück und blickte gen Himmel. »Der Mars ist hell heute Nacht
»ja«, sagte Hagrid und schaute ebenfalls empor. »Hör mal, ich bin froh, dass wir dich getroffen haben, Ronan, hier ist nämlich ein Einhorn verletzt worden - hast du was gesehen
Ronan antwortete nicht sofort. Unverwandt blickte er gen Himmel, dann seufzte er wieder.
»Die Unschuldigen sind immer die ersten Opfer«, sagte er. »So ist es seit ewigen Zeiten, so ist es auch heute
»ja«, sagte Hagrid, »aber hast du irgendwas gesehen, Ronan? Irgendwas Ungewöhnliches?«
»Der Mars ist hell heute Nacht«, wiederholte Ronan unter dem ungeduldigen Blick Hagrids. »Ungewöhnlich hell
»Ja, aber ich meinte etwas Ungewöhnliches mehr in der Nähe«, sagte Hagrid. »Du hast also nichts Seltsames bemerkt
Doch wieder dauerte es eine Welle, bis Ronan antwortete. Endlich sagte er: »Der Wald birgt viele Geheimnisse
Eine Bewegung hinter den Bäumen hinter Ronan ließ Hagrid erneut seine Armbrust heben, doch es war nur ein zweiter Zentaur, mit schwarzem Haar und schwarzem Körper und wilder aussehend als Ronan.
»Hallo, Bane«, sagte Hagrid. »Wie geht's
»Guten Abend, Hagrid. Ich hoffe, dir geht's gut
»Gut genug. Hör mal, ich hab gerade Ronan gefragt, hast du in letzter Zeit irgendetwas Merkwürdiges hier gesehen? Es ist nämlich ein Einhorn verletzt worden - weißt du was darüber
Bane kam näher und stellte sich neben Ronan. Er blickte gen Himmel.
»Der Mars ist hell heute Nacht«, sagte er nur.
»Das haben wir schon gehört«, sagte Hagrid verdrießlich. »Nun, wenn einer von euch etwas sieht, lasst es mich wissen, bitte. Wir verschwinden wieder
Harry und Hermine folgten ihm, über ihre Schultern auf Ronan und Bane starrend, bis die Bäume ihnen die Sicht verdeckten.
»Versuch niemals, niemals, einem Zentauren eine klare Antwort zu entlocken«, sagte Hagrid verärgert. »Vermaledeite Sternengucker. Interessieren sich für nichts, was näher ist als der Mond
»Gibt es viele von denen hier im Wald?«, fragte Hermine.
»oh, schon einige ... Bleiben allerdings meist unter sich, aber wenn ich mich ein wenig unterhalten will, tauchen sie schon mal auf Sind nämlich tiefe Naturen, diese Zentauren ... sie kennen sich aus ... machen nur nicht viel Aufhebens davon
»Glaubst du, was wir vorhin gehört haben, war ein Zentaur?«, sagte Harry.
»Hat sich das für dich angehört wie Hufe? Nee, wenn du mich fragst, das hat die Einhörner gejagt - hab so was noch nie im Leben gehört
Sie gingen weiter durch dichten, dunklen Wald. Harry warf ständig nervöse Blicke über die Schulter. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie beobachtet wurden, und war sehr froh, dass sie Hagrid und seine Armbrust dabeihatten. Soeben waren sie um eine Windung gebogen, als Hermine Hagrids Arm packte.
»Hagrid! Sieh mal! Rote Funken, die andern sind in Schwierigkeiten
»Ihr beide wartet hier!«, rief Hagrid. »Bleibt auf dem Weg, ich hol euch dann
Sie hörten ihn durch das Unterholz brechen. Voller Angst blieben sie zurück und sahen sich an. Schließlich hörten sie nichts mehr außer dem Rascheln der Blätter um sie her.
»Du denkst nicht etwa, dass ihnen etwas zugestoßen ist, oder?«, flüsterte Hermine.
»Das wär mir bei Malfoy egal, aber wenn Neville . .. Es ist nämlich unsere Schuld, dass er überhaupt hier ist
Die Minuten schleppten sich dahin. Ihre Ohren schienen schärfer als normal zu sein. Harry kam es vor, als könnte er jeden Seufzer des Windes, jeden knackenden Zweig hören. Was war eigentlich los? Wo waren die andern?
Endlich kündete ein lautes Knacken Hagrids Rückkehr an. Malfoy, Neville und Fang waren hinter ihm. Hagrid rauchte vor Zorn. Malfoy, so schien es, hatte sich zum Scherz von hinten an Neville herangeschlichen und ihn gepackt. In panischem Schreck hatte Neville die Funken versprüht.
»Wir können von Glück reden, wenn wir jetzt noch irgendwas fangen, bei dem Aufruhr, den ihr veranstaltet habt. Und jetzt bilden wir neue Gruppen - Neville, du bleibst bei mir und Hermine, Harry, du gehst mit Fang und diesem Idioten. Tut mir Leid«, fügte er zu Harry gewandt flüsternd hinzu, »aber dich wird er nicht so schnell erschrecken und wir müssen es jetzt schaffen
Und so machte sich Harry mit Malfoy und Fang ins Herz des Waldes auf. Sie gingen fast eine halbe Stunde lang tiefer und tiefer hinein, bis der Pfad sich fast verlor, so dicht standen die Bäume. Harry hatte den Eindruck, dass das Einhornblut allmählich dicker wurde. Auf den Wurzeln eines Baumes waren Spritzer, als ob das arme Tier sich hier in der Nähe voll Schmerz herumgewälzt hätte. Weiter vorn, durch die verschlungenen Äste einer alten Eiche hindurch, konnte Harry eine Lichtung erkennen.
»Sieh mal«, murmelte er und streckte den Arm aus, damit Malfoy stehen blieb.
Etwas Hellweißes schimmerte auf dem Boden. Vorsichtig traten sie näher.
Es war das Einhorn und es war tot. Harry hatte nie etwas so Schönes und so Trauriges gesehen. Seine langen, schlanken Beine ragten verquer in die Luft und seine perlweiße Mähne lag ausgebreitet auf den dunklen Blättern.
Harry trat noch einen Schritt näher, als ein schleifendes Geräusch ihn wie angefroren innehalten ließ. Ein Busch am Rande der Lichtung erzitterte ... Dann kam eine vermummte Gestalt aus dem Schatten und kroch über den Boden auf sie zu wie ein staksendes Untier. Harry, Malfoy und Fang standen da wie erstarrt. Die vermummte Gestalt erreichte das Einhorn, senkte den Kopf über die Wunde an der Seite des Tiers und begann sein Blut zu trinken.
»AAAAAAAAAAAARRRH!«
Malfoy stieß einen fürchterlichen Schrei aus und machte sich auf und davon - mit Fang an seinen Fersen. Die vermummte Gestalt hob den Kopf und sah zu Harry herüber - an ihr herunter tropfte Einhornblut. Das Wesen stand auf und kam rasch auf Harry zu - er war vor Angst wie gelähmt.
Dann durchstieß ein Schmerz seinen Kopf, wie er ihn noch nie verspürt hatte, es war, als ob seine Narbe Feuer gefangen hätte - halb blind stolperte er rückwärts. Hinter sich hörte er Hufe, Pferdegalopp, und etwas sprang einfach über ihn hinweg und stürzte sich auf die Gestalt.
Der Schmerz in Harrys Kopf war so stark, dass er auf die Knie fiel. Nach ein oder zwei Minuten war er vorüber. Als er aufsah, war die Gestalt verschwunden. Ein Zentaur stand über ihm, nicht Ronan oder Bane; dieser sah jünger aus; er hatte weißblondes Haar und den Körper eines Palominos.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Zentaur und half Harry auf die Beine.
»ja - danke - was war das
Der Zentaur antwortete nicht. Er hatte eindrucksvoll blaue Augen, wie blasse Saphire. Er musterte Harry sorgfältig, und seine Augen verweilten auf der Narbe, die sich nun bläulich von Harrys Stirn abhob.
»Sie sind der junge Potter«, sagte er. »Besser, Sie gehen zurück zu Hagrid. Der Wald ist nicht sicher - besonders für Sie. Können Sie reiten? Dann geht es schneller.
»Mein Name ist Firenze«, fügte er hinzu und ließ sich auf die Vorderbeine sinken, damit Harry ihm auf den Rücken klettern konnte.
Plötzlich hörte Harry von der anderen Seite der Lichtung noch mehr galoppierende Hufe. Mit wogenden, schweißnassen Flanken brachen Ronan und Bane durch die Bäume.
»Firenze!«, donnerte Bane, »was tust du da? Du hast einen Menschen auf dem Rücken! Kennst du keine Scham? Bist du ein gewöhnliches Maultier
»Ist dir klar, wer das ist?«, entgegnete Firenze. »Das ist der junge Potter. Je schneller er den Wald verlässt, desto besser
»Was hast du ihm erzählt«, brummte Bane. »Ich muss dich nicht daran erinnern, Firenze, wir haben einen Eid abgelegt, uns nicht gegen den Himmel zu stellen. Haben wir nicht in den Bewegungen der Planeten gelesen, was kommen wird
Ronan scharrte nervös mit den Hufen.
»Ich bin sicher, Firenze hat nur das Beste im Sinn gehabt«, sagte er in seiner düsteren Stimme.
Bane schlug wütend mit den Hinterbeinen aus.
»Das Beste! Was hat das mit uns zu tun? Zentauren kümmern sich um das, was in den Sternen steht! Es ist nicht unsere Aufgabe, wie Esel herumstreunenden Menschen nachzulaufen!«
Firenze stellte sich plötzlich zornig auf die Hinterbeine, so dass Harry sich an seine Schultern festklammern musste, um nicht abzurutschen.
»Siehst du nicht dieses Einhorn?«, brüllte Firenze Bane an. »Verstehst du nicht, warum es getötet wurde? Oder haben die Planeten dir dieses Geheimnis nicht verraten? Ich stelle mich gegen das, was in diesem Wald lauert, ja, Bane, mit Menschen an meiner Seite, wenn es sein muss
Und Firenze wirbelte herum; Harry klammerte sich an ihn, so gut er konnte, und sie stürzten sich zwischen die Bäume, Ronan und Bane hinter sich lassend.
Harry hatte keine Ahnung, was da vor sich ging.
»Warum ist Bane so wütend?«, fragte er. »Was war eigentlich dieses Wesen, vor dem du mich gerettet hast
Firenze ging nun im Schritt und ermahnte Harry, wegen der tiefen Äste den Kopf gesenkt zu halten, doch er antwortete nicht auf seine Fragen. Ohne ein Wort zu sagen schlugen sie sich durch die Bäume, so lange schweigend, dass Harry dachte, Firenze wolle nicht mehr mit ihm sprechen. Sie drangen nun jedoch durch ein besonders dichtes Stück Wald und Firenze hielt plötzlich inne.
»Harry Potter, wissen Sie, wozu Einhornblut gebraucht wird
»Nein«, sagte Harry, verdutzt über die seltsame Frage. »Wir haben für Zaubertränke nur das Horn und die Schweifhaare benutzt
»Das ist so, weil es etwas Grauenhaftes ist, ein Einhorn abzuschlachten«, sagte Firenze. »Nur jemand, der nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hat, könnte ein solches Verbrechen begehen. Das Blut eines Einhorns wird ihn am Leben halten, selbst wenn er nur eine Handbreit vom Tod entfernt ist - doch zu einem schrecklichen Preis. Er hat etwas Reines und Schutzloses gemeuchelt, um sich selbst zu retten, aber nun hat er nur noch ein halbes Leben, ein verfluchtes, von dem Augenblick an, da das Blut seine Lippen berührt
Harry blickte starr auf Firenzes Hinterkopf, der im Mondlicht silbern gesprenkelt war.
»Aber wer könnte so verzweifelt sein?«, fragte er sich laut. »Wenn man für immer verflucht ist, dann ist der Tod doch besser, oder
»Das ist wahr«, stimmte Firenze zu, »außer wenn man nur lange genug leben muss, um noch etwas anderes zu trinken - etwas, das einem alle Stärke und Macht zurückbringt - etwas, das bewirkt, dass man nie sterben wird. Mr. Potter, wissen Sie, was in diesem Augenblick in der Schule versteckt ist
»Der Stein der Weisen! Natürlich - das Lebenselixier! Aber ich verstehe nicht, wer -«
»Können Sie sich niemanden denken, der seit Jahren darauf wartet, an die Macht zurückzukehren, der sich ans Leben klammert und auf seine Chance lauert?«
Es war, als hätte sich plötzlich eine eiserne Faust um Harrys Herz geschlossen. Über dem Rascheln der Bäume schien er noch einmal zu hören, was Hagrid gesagt hatte in jener Nacht, da sie sich kennen gelernt hatten: »Manche sagen, er sei gestorben. Stuss, wenn du mich fragst. Weiß nicht, ob er noch genug Menschliches in sich hatte, um sterben zu können
»Meinen Sie«, sagte Harry mit krächzender Stimme, »das war Vol-«
»Harry! Harry, geht's dir gut
Hermine rannte den Pfad entlang auf sie zu, Hagrid keuchte hinter ihr her.
»Mir geht's gut«, sagte Harry, ohne recht zu wissen, was er sagte. »Das Einhorn ist tot, Hagrid, es liegt dort hinten auf der Lichtung
»Ich werde Sie nun verlassen«, murmelte Firenze, als Hagrid davoneilte, um das Einhorn zu untersuchen. »Sie sind jetzt sicher
Harry glitt von seinem Rücken herunter.
»Viel Glück, Harry Potter«, sagte Firenze. »Die Planeten wurden schon einige Male falsch gedeutet, selbst von Zentauren. Ich hoffe, diesmal ist es genauso
Er wandte sich um und verschwand in leichtem Galopp in den Tiefen des Waldes, einen zitternden Harry hinter sich zurücklassend.

Ron, der auf ihre Rückkehr hatte warten wollen, war im Gemeinschaftsraum eingenickt. Während Harry ihn unsanft wachrüttelte, rief er etwas über Quidditch-Fouls. Nach wenigen Augenblicken freilich war er hellwach, als Harry ihm und Hermine zu erzählen begann, was im Wald geschehen war.
Harry konnte nicht ruhig sitzen. Er schritt vor dem Feuer auf und ab. Noch immer zitterte er.
»Snape will den Stein für Voldemort ... und Voldemort wartet draußen im Wald ... und die ganze Zeit über haben wir geglaubt, Snape wolle nur reich werden ...«
»Hör auf, den Namen zu nennen!«, sagte Ron in einem angstdurchtränkten Flüstern, als glaubte er, Voldemort könnte sie belauschen.
Harry hörte ihn nicht.
»Firenze hat mich gerettet, aber er hätte es eigentlich nicht tun dürfen ... Bane war wütend deswegen ... er hat etwas gesagt von Einmischung in die Offenbarung der Planeten ... Sie müssen wohl zeigen, dass Voldemort zurückkommt ... Bane denkt, Firenze hätte Voldemort nicht daran hindern dürfen, mich zu töten ... Ich glaube, das steht auch in den Sternen
»Hörst du endlich auf, diesen Namen zu nennen!«, zischte Ron.
»Wir müssen also nur darauf warten, dass Snape den Stein stiehlt«, fuhr Harry in fieberhafter Aufregung fort, »dann kann Voldemort kommen und mich erledigen ... Nun, ich denke, Bane würde glücklich darüber sein
Hermine sah verängstigt aus, doch sie hatte ein Wort des Trosts.
»Harry, alle sagen, Dumbledore sei der Einzige, vor dem Du-weißt-schon-wer je Angst hatte. Mit Dumbledore in der Nähe wird dich Du-weißt-schon-wer nicht anrühren. Und außerdem, wer sagt eigentlich, dass die Zentauren Recht haben? Das klingt für mich wie Wahrsagerei, und Professor McGonagall sagt, das sei ein sehr ungenauer Ableger der Zauberei
Der Himmel war schon hell, als ihr Gespräch verstummte. Erschöpft gingen sie zu Bett. Doch die Überraschungen der Nacht waren noch nicht vorbei.
Als Harry seine Bettdecke zurückzog, fand er darunter, fein säuberlich zusammengefaltet, seinen Tarnumhang. Ein Zettel war daran gepinnt:

Nur für den Fall ...



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